ihres Handelns.4
Das blutige Ringen um die Vorherrschaft innerhalb des Bündnissystems hatte letztlich zur Folge, dass sich die Eidgenossenschaft auch gegen aussen konsolidierte. Sie wurde nicht nur innerhalb des Heiligen Römischen Reichs, sondern auch im übrigen europäischen Umfeld, insbesondere in Frankreich, als politisches Gebilde und Machtfaktor wahrgenommen. Die Auseinandersetzungen mit Habsburg-Österreich waren zwar noch nicht zum Abschluss gekommen, aber die Kontrahenten verhandelten schon seit Jahrzehnten über eine definitive Übereinkunft, einen «ewigen» Frieden. Es ist denn auch nicht erstaunlich, dass sich die Eidgenossenschaft in den folgenden Jahren eine eigene Entstehungsgeschichte zurechtlegte, vor allem auch als Legitimation gegenüber den von Habsburg-Österreich immer wieder vorgebrachten Forderungen nach Rückgabe von unrechtmässig angeeigneten Gebieten. Dabei ging es nicht nur um den Aargau, der 1415 nach Aufforderung von König Sigismund annektiert worden war, oder um Luzern, das sich Ende des 14. Jahrhunderts in einem unrechtmässigen Krieg vom Landesherr abgewandt hätte. Bis in die Mitte des
Jahrhunderts argumentierten die Habsburger mit der ursprünglichen Oberherrschaft ihrer Vorfahren insbesondere auch über Schwyz und Unterwalden. Die Entstehungsgeschichte, die sich die Eidgenossen massschneiderten, bald verbrämt mit Tell, Bundesschwur und Burgenbruch, sollte die Rechtmässigkeit der Geschehnisse untermauern. In der «Ewigen Richtung» im Jahr 1474 akzeptierte Herzog Sigmund von Tirol vor dem Hintergrund der politischen Lage gegen Burgund diese Situation. Sie wurde in einem letzten Gewaltausbruch im Schwabenkrieg 1499 noch einmal in Frage gestellt. In der europäischen Mächtekonstellation zu Beginn des 16. Jahrhunderts – dem Ringen zwischen dem habsburgischen Kaiser, dem König von Frankreich, dem Papst und den jeweils verbündeten Mächten um das Herzogtum Mailand – trat aber der alte Gegensatz in den Hintergrund. Bereits zu dieser Zeit standen sich eidgenössische Söldner auf den oberitalienischen Schlachtfeldern auf verschiedenen Seiten gegenüber. Und die Eliten orientierten sich stärker denn je an ihren alten und neuen Soldherren. Die Eidgenossenschaft als Ganzes entwickelte sich denn auch, vor allem nach der konfessionellen Spaltung in der Folge der Reformation, zu einem aussenpolitisch kaum mehr handlungsfähigen Gebilde. Die humanistisch geschulten Geschichtsschreiber, allen voran der Glarner Aegidius Tschudi, fügten aber in der ersten Hälfte des 16. Jahrhundert das Jahrzehnte zuvor entstandene Geschichtsbild zu einem gültigen Ganzen zusammen. Wie wirkungsmächtig dieses Geschichtsbild war und ist, muss nicht eigens betont werden.
Aber nun doch der Reihe nach. Welche Hintergründe und Zusammenhänge waren entscheidend, dass im Lauf des 13. und 14. Jahrhunderts im zentralen Alpenraum ein kommunal verfasstes Gebilde entstehen konnte, das sich im Lauf des Spätmittelalters erfolgreich innerhalb des Heiligen Römischen Reichs etablierte und das letztlich zu einem Land wurde, das wir heute als moderne Schweiz erkennen?
In den drijen waltstetten Uri, Switz und Underwalden hattend etlich herren und edelknecht etwas herrlicheit über sondre höf; aber die landtsherrlicheit und frijheit was der frijen landtlüten, edlen und unedlen landtsessen.
[…] Si hattend aber kein oberkeit über die selben land und waltstett die für sich selbs frij warend, und muostend dise inländische herren und edelknecht under der gemeinen frijen landtlüten regierung gehorsamen und dem land hulden, warend ouch selbs mittlantlüt und mittregierer wie die andern frijen landtlüt, nit mer noch minder, als verr die landtzregierung antraff. Aber die libeignen lüt hattend kein gwalt im regiment, muostend den gemeinen frijen lantlüten mit reisen [Militärdienst], landtsatzungen, gebotten, verbotten und andern billichen dingen gehorsam und gewärtig sin, wann die frijen lantlüt warend selbs oberherren in irn landen, und hattend die herren und adel allein über etliche sonderbare höf etwas nidern gerichtzherrlicheit und rechtung als obstat. (Aegidius Tschudi, Chronicon Helveticum, nach Stettler 2, 194, 19f.)
Die Legende von der alten Freiheit – Mittelland und Alpenraum im frühen 13. Jahrhundert
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In der Geschichtskonzeption von Aegidius Tschudi ist die alte Freiheit der drei Länder Uri, Schwyz und Unterwalden von zentraler Bedeutung. Sie sei nicht nur alt, sondern vor allem für alle drei Länder gleichwertig gewesen, bestätigt durch die staufischen Könige in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Tschudi beschreibt gleichzeitig eine geschichtete Gesellschaft, in der freie Landleute und Adlige, die «herren und edelknecht», gemeinsam die Täler regierten. Leibeigene Leute, zum Beispiel der Klöster, seien untergeordnet gewesen. Dies entspricht einer Gesellschaftsform, die Tschudi für seine eigene Zeit als richtig erachtete. Er selbst war Teil dieser regierenden «oberherren».
Die Konzeption der alten Freiheit – nicht der individuellen Freiheit, sondern der Freiheit von Zwischengewalten, das heisst von Adel oder Klöstern – ist nicht einfach Tschudis Konstruktion aus dem 16. Jahrhundert. Sie hat Wurzeln im frühen 14. Jahrhundert und kann direkt mit konkretem politischem Handeln der Länder in Verbindung gebracht werden.
Die Länder, insbesondere Unterwalden, das keine Privilegien des 13. Jahrhunderts vorweisen konnte, scheinen die unsichere Situation nach der Ermordung König Albrechts von Habsburg-Österreich 1308 und der Wahl des Luxemburgers Heinrich VII. zum König 1309, beziehungsweise der Doppelwahl des Habsburgers Friedrich des Schönen und Ludwigs des Bayern 1314, zu nutzen verstanden zu haben. Sie konnten insbesondere Ludwig den Bayern dazu bringen, ihnen gleichwertige Königsbriefe mit Bezugnahme auf das Schwyzer Reichsprivileg von 1240 auszustellen. Obwohl die Überlieferungsgeschichte dieser Dokumente äusserst wacklig ist – vielleicht sind einige davon erst in den 1320er-Jahren oder noch später nachhergestellt worden –, konnten sich Schwyz, Uri und Unterwalden Privilegien sichern, die sie in späteren Konflikten gegen die Habsburger einsetzten. Sie schufen sich damit eine gemeinsame, waldstättische Tradition.5 Auf die genauen Umstände der Entstehung dieser Privilegien wird weiter unten zurückzukommen sein. Vorab braucht es aber eine kurze Übersicht zur Geschichte des Raums, in dem die nachmalige Eidgenossenschaft entstanden ist.6
Der abgeschiedene Alpenraum
Der zentrale Alpenraum um den Gotthard war bis ins 12. Jahrhundert Peripherie. Die wichtigsten Alpenübergänge, die seit römischer Zeit begangen waren, lagen in den westlichen (Mont Cenis, Grosser St. Bernhard) oder östlichen Alpen (Brenner). Die Bündner Pässe Lukmanier und Septimer waren für den Übergang nach Italien und damit für die Reichspolitik von Bedeutung. Simplon und Gotthard waren sicher schon früh begangen, spielten aber für den Warenverkehr erst im Lauf des 13. Jahrhunderts eine Rolle. Das Mittelland zwischen Aare und Rhein lag am Schnittpunkt der alten Reichslandschaften Schwaben und Burgund. Das burgundische Königreich beidseits des Juras mit dem Aareraum und den Bistümern Genf, Lausanne und Sitten war seit dem frühen 11. Jahrhundert ins Heilige Römische Reich integriert. Dieser Raum wurde im 12. Jahrhundert von den schwäbischen Herzögen von Zähringen dominiert – Gründer der Städte Freiburg und Bern –, die auch im östlichen Mittelland eine starke Präsenz hatten. Im Osten gab es aber keine ähnliche Machtballung wie im Westen. Neben den Zähringern etablierten sich verschiedene Adelsdynastien wie die Grafen von Lenzburg, Kyburg und Habsburg, die Grafen von Rapperswil oder die Herren von Vaz und Sax-Misox. Im Rheintal und in Graubünden waren das Bistum von Chur und die Abtei Disentis von Bedeutung.
Für das zentrale Mittelland war die alte Reichspfalz Zürich wichtig, die bis zu deren Aussterben 1173 in den Händen der Grafen von Lenzburg war. Die Lenzburger besassen auch die Grafschaften im Aargau und Zürichgau, die bis in den Raum des Vierwaldstättersees reichten, zudem über die Zürcher Vogtei auch die Rechte des Fraumünsters im Tal Uri und die Reichsvogtei in den Südtälern Blenio und Leventina. Reichsvogtei bedeutete die stellvertretende Herrschaft des Königs, das Recht, für den König Steuern zu erheben oder Reichsdienste, zum Beispiel militärische Gefolgschaft, einzufordern. Vogtei bedeutete in diesem Sinn Oberherrschaft, aber nicht zwingend lokale Herrschaft vor Ort.
Zürich war sowohl topografisch wie herrschaftlich der Zugang zum zentralen Alpenraum. Die Reichsvogtei Zürich gelangte 1173 an die Herzöge von Zähringen, die damit ihre Macht ausbauen konnten. Kaiser Friedrich Barbarossa verlieh weitere Teile des Lenzburger Erbes an die Grafen von Kyburg, die im Thurgau eine starke Stellung besassen. Konkret erhielten sie den östlichen Teil