Werner Ort

Die Schülerrepublik im Schloss Reichenau


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Religionsunterricht, die älteren (ab 14 oder 15 Jahren) Philosophie; im Wintersemester 1793/94 traf Letzteres offenbar nur für einen einzigen Schüler zu, Ruggiero aus Mailand.

      Je mehr Kinder von Anfang an das Seminar besuchten, desto tiefer konnte das Schulgeld angesetzt und desto besser das schulische Angebot werden, ohne dass sich ein erheblicher Verlust in der Gesamtrechnung ergab, was Tscharner in Rücksicht auf seine Mitgesellschafter unbedingt vermeiden wollte. Die starke Fluktuation von Semester zu Semester erforderte es, dass immer wieder neue Schüler angeworben werden mussten. Die Abgänge hingen selten oder nie mit schulischem Misserfolg zusammen, sondern, wie es scheint, mit dem Gesundheitszustand der Kinder, ihrem Alter und äusseren, nicht zu beeinflussenden, und manchmal auch politischen Faktoren, die in der Geschichte des Seminars Reichenau eine wesentliche Rolle spielten.

      Das Schulgeld war mit 100 Gulden, das «Tischgeld» für Unterkunft, Essen und die anderen Auslagen mit 200 Gulden zurückhaltend kalkuliert; dies war der Betrag, den schon 1761 ein Kind im Seminar Haldenstein bezahlen musste. Einige Eltern hatten sich eine Reduktion oder Ausnahmereglung mit einem Gegengeschäft ausbedungen, was Tscharner offenbar akzeptierte, 146 so Lehrer Juvenal, der für seinen Sohn das volle Tischgeld von 200, aber nur ein Schulgeld von 81 Gulden zu bezahlen hatte. Dagegen wurde für den Schüler Pestalozzi aus Malans ein Schulgeld von 112 Gulden gefordert; vielleicht weil er Einzelunterricht benötigte oder ein Freifach wie Zeichnen, Musik, Tanzen oder Fechten belegte, wofür eigens ein Lehrer aus Chur geholt werden musste. Kurz nach der Eröffnung, am 10. Juli 1793, stellte Tscharner fest, dass die 14 Schüler im Durchschnitt 284 Gulden zahlten und sich bei Einnahmen von 224 und Ausgaben von 291.30 Gulden ein Defizit von beinahe 70 Gulden pro Kopf ergeben würde, ohne Berücksichtigung der Verzinsung des Kapitals und der Möbel, Bücher und der Naturalien- und Kupferstichsammlung im Schätzwert von 1500 Gulden, die er aus seinem Bestand aus Jenins mitgebracht hatte.147

      Im Inserat vom 23.Juni 1793, das sich vorwiegend an Eltern im Ausland richtete, wurde die Gebühr mit 351 Gulden angegeben, 130 Gulden für den Unterricht und 221 Gulden für Unterkunft, Essen und anderes.148 Die Differenz zu den anderen Angaben ist nicht ganz verständlich, da mit der gleichen Währung (Churer Gulden) gearbeitet wurde. Vielleicht war eine Quersubvention beabsichtigt. Das Inserat enthält noch die Mitteilung, dass weitere Lehrer eingestellt würden, sobald die Zahl der Schüler sich erhöhe.

      Ähnlich wie bei Lebensläufen ranken sich zuweilen auch um Institutionen Anekdoten und Legenden, die eifrig nacherzählt und blumig ausgeschmückt werden, weil sie die Merk- und Denkwürdigkeit erhöhen. Das Seminar Reichenau bildet darin keine Ausnahme. Ein Höhepunkt in der Schulgeschichte ist zweifellos die Erzählung, wie der junge preussische Dichter Heinrich Zschokke im August 1796 auf seiner Durchreise durch Bünden in Chur eintraf, dort sein vorausgeschicktes Gepäck nicht vorfand und sich vom Seminar Reichenau so begeistern liess, dass er kurzerhand die Leitung übernahm, um sie nach eigenen Vorstellungen umzugestalten und zum Erfolg zu führen.149 Was davon stimmt, werden wir erfahren.

      Die zweite Erzählung handelt vom Aufenthalt von Louis-Philippe (1773–1850), der nach der Julirevolution 1830 als «Bürgerkönig» den französischen Thron bestieg. Wie der Herzog von Orléans, sein Vater, der den Übernamen Philippe Égalité erhielt, sympathisierte auch sein Sohn mit der Französischen Revolution. Er wurde mit 17 Jahren Mitglied des Jakobinerclubs und trat der Revolutionsarmee bei, wo er als Generalleutnant unter General Dumouriez 1792 an der Kanonade von Valmy teilnahm und am Sieg von Jemappes Anteil hatte. Als Mitverschwörer an einem Putschversuch von Dumouriez musste er im Frühjahr 1793 fliehen, suchte inkognito Exil in die Schweiz, wurde mehrfach von Spionen aufgespürt und erhielt von General Montesquiou, der sich als Emigrant in Bremgarten aufhielt, den Rat, er solle in Reichenau Unterschlupf suchen. Louis-Philippe war da noch keine 20 Jahre alt. Montesquiou stand mit Aloys Jost, der unter ihm in der republikanischen Armee gedient hatte, im Briefverkehr. Es wurde verabredet, Louis-Philippe solle als harmloser Südfranzose auftreten und sich unter dem Pseudonym Chabos als Lehrer einstellen lassen, mit der Garantie, dass ausser Jost, Tscharner und Nesemann niemand seine Identität erfahren werde, auch die anderen Lehrer nicht.150 Bis Chur begleitet von einem Diener, übernahm Louis-Philippe dort sein Reisebündel und traf allein und zu Fuss am frühen Morgen des 24. Oktobers 1793 in Reichenau ein, wo er an der Türe klingelte und von Jost empfangen wurde, den er als einen 33-jährigen, in blauen Samt gekleideten Mann mit schon schütterem blondem Haar beschrieb.151 Nesemann weilte zu jener Zeit in Chur.

      Jost zeigte dem jungen Prinzen zunächst die mit französischen Büchern kärglich ausgestattete Bibliothek, dann sein Quartier, ein geräumiges, aber in dieser Jahreszeit düsteres Zimmer im Seitenflügel des Schlosses, das bisher Georg Anton Vieli benutzt hatte. Darin befanden sich ein Tisch, ein Stuhl, eine Pritsche und ein grosser Ofen, der vor Hitze summte. Mit dem Bett, auf dem bloss eine Strohmatratze lag, konnte sich Louis-Philippe bis zum Schluss nicht anfreunden, und Jost lieh ihm einige Decken aus.

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      8 — Lehrer Chabos alias Louis-Philippe, Herzog von Orléans, im Schloss Reichenau. Der nachmalige und letzte König der Franzosen (1830–1848) liess für seine königliche Galerie dieses Gemälde anfertigen (jetzt in Versailles), von dem er, als Dankbarkeit für seine Zufluchtsstätte, dem Schlossherrn von Reichenau eine Kopie schenkte. Das Louis-Philippe-Zimmer im Schlossflügel ist heute noch zu besichtigen; es wurde im 19. Jahrhundert für Bündenreisende zum touristischen Anziehungspunkt.

      Vor dem Abendessen stellte Jost ihn Rusterholz, Juvenal, Deporta und den ungefähr 15 Schülern als ihren neuen Lehrer vor. Aus Briefen von Louis-Philippe an General Montesquiou wissen wir einiges über seinen Aufenthalt in Reichenau und kennen seine Einschätzung der Kollegen.152

      Deporta, ein bereits älterer Priester, schrieb er, habe sich mit liebenswürdigen Worten an ihn gewandt, während Rusterholz einige Sätze in schlechtem Französisch stammelte. Juvenal, den Louis-Philippe als kleingewachsen, mit Adlergesicht und Siebentagebart schildert, habe einen blauen, fremdartig geschnittenen Anzug getragen, eine schwarze Weste, wie man sie von Basken kannte, eine grüne amerikanische Hose und eine Mütze, die seinen glänzenden Kahlkopf bedeckte. Deportas Pflichten bestanden nach der Aussage von Louis-Philippe darin, den einzigen katholischen Schüler (also Ruggiero) in Religion zu unterweisen, einige Stunden Latein zu erteilen, die Messe zu lesen und die gemeinsame Tafel zu präsidieren, an der auch Jost gewöhnlich teilnahm.

      Juvenal habe sich mit ruckartigen Bewegungen und feurigem Blick auf ihn gestürzt, um sich zu erkundigen, ob er Musiker sei, und sei enttäuscht gewesen, als Louis-Philippe verneinte. Er sei Violinist, habe Juvenal in einem italienischen Wortschwall erzählt, stamme aus der Dauphiné, aus der seine Familie durch den Widerruf des Edikts von Nantes vertrieben worden sei. Später sei er ins Bergell gekommen, das er nach dem Verlust seines ganzen Vermögens mit seinem Sohn verlassen habe, um sich als Repetitor zu verdingen. Die Musik sei sein einziger Trost, und er suche vergeblich einen Gefährten, der seine Vorliebe teile.

      An jenem Abend wurde Suppe, gekochtes und gebratenes Fleisch und Sauerkraut gereicht. Louis-Philippe verabscheute Sauerkraut und andere ihm ungewohnte Speisen. Schon beim Anblick einer fettigen Pastete, die ausgesehen habe, als sei sie mit Schnecken gefüllt (tourte de limaçons), wurde ihm übel. Auch in Butter gekochte Dörrfrüchte und gebratene Teigwaren mochte er nicht. Jost ärgerte sich über diese Ansprüche und das für einen Offizier ungehörige, unbeherrschte Verhalten.153

      Der junge Prinz muss mit seinem gezierten Benehmen, den feinen Hemden und Halstüchern, die er täglich wechselte, in Reichenau wie ein bunter Vogel gewirkt haben.154 Er lebte zurückgezogen, war viel mit seiner Korrespondenz beschäftigt und oft kränklich. Nachdem Nesemann seine Fähigkeiten geprüft hatte, wurde ihm, bis sein Deutsch sich verbessert habe, ein einzelner Schüler zugewiesen. Als Entgelt für Essen und Unterkunft sollte er täglich zwei Lektionen erteilen, am Morgen Geometrie, am Nachmittag Arithmetik oder Geografie.155 Nach Ablauf von drei Monaten würde man dann ein Honorar für seine Tätigkeit festlegen. Louis-Philippe willigte ein, wollte aber für seinen Unterhalt