Werner Ort

Die Schülerrepublik im Schloss Reichenau


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ihm Jost frische Früchte und Süssigkeiten aufs Zimmer, der Hausdiener bürstete seine Kleider und reinigte die Schuhe, und seine Wäsche wurde regelmässig gewaschen und gebügelt, ohne dass jemand es bemerken sollte.

      Louis-Philippe gab sich Mühe, nicht aufzufallen, ass zusammen mit den Lehrern und Schülern, und wenn er die Speisen nicht vertrug, begnügte er sich mit Brot. Dem Stundenplan vom Wintersemester 1793/94 zufolge erteilte er Ruggiero (Louis-Philippe schrieb ihn «Rugié») von 9 bis 10 Uhr Geometrie. Vielleicht nahm auch Merkel aus Ravensburg daran teil, weil manchmal von zwei Schülern die Rede ist.156 Merkel zählte etwa 14, Ruggiero 16 Jahre, er war also wohl der älteste Schüler in Reichenau. Louis-Philippe willigte ein, Rusterholz und Josephine Jost, der Tochter des Verwalters, Französisch beizubringen; auch Tscharners Söhnen erteilte er privat Französischstunden. Dafür wurde er von Tscharner nach Chur eingeladen, 157 was ihm viel bedeutete, da er sich in Reichenau sehr eingeschränkt fühlte. Peter Conradin Tscharner, einer der jüngeren Söhne, der mit sieben Jahren noch zu jung war, um das Seminar Reichenau zu besuchen, und vermutlich erst 1796 dazu stiess, schrieb fast ein halbes Jahrhundert später aus der Erinnerung: «Jeder von uns wünschte in die Klasse des Herrn Chabos eingeteilt zu werden, so sehr und allgemein hatte das einnehmende Äussere und die Freundlichkeit seines Betragens die jungen Gemüter für den neuen Ankömmling eingenommen.»158

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      9 — Schulszene im Seminar Reichenau in einer Lithografie von Charles-Étienne-Pierre Motte nach einer Zeichnung von Léon-Auguste Asselineau, um 1835. Rechts sieht man Louis-Philippe von Orléans beim Unterrichten. Die Pose mit Erdkugel und Landkarte erinnert an imperiale Darstellungen Napoleons I. und weist auf seine Regentschaft voraus. Die beiden Knaben am offenen Fenster huldigen ihm wie einem Herrscher mit gebeugten Knie, was dem republikanischen Geist in Reichenau deutlich widerspricht. In der Mitte scharen sich Schüler um Johann Peter Nesemann und im Hintergrund verweist ein weiterer Lehrer, vermutlich der Violinist Anton Gubert Juvenal (Geige an der Wand), einen schläfrigen Schüler des Zimmers. Der Gast links vorne, der den Unterricht aufmerksam verfolgt, ist mit Bestimmtheit Johann Baptista von Tscharner, Kurator des Seminars. Von den kompositorischen Zugeständnissen und apotheotischen Überhöhungen abgesehen, wirkt die Darstellung realitätsnah. Man beachte den grossen Altersunterschied der Schüler, was einen Klassenunterricht erheblich erschwerte.

      Mit der Köchin, einer jungen Italienerin namens Marianne Banzori, ging er ein Verhältnis ein, das Folgen zeitigte.159 Jost war ärgerlich, nicht weil der Herzog von Orléans und spätere König von Frankreich ein Mädchen geschwängert hatte, warum aber ausgerechnet die Köchin? Wo sollte er jetzt eine neue hernehmen? General von Montesquiou nahm die Angelegenheit auf die leichte Schulter. Am französischen Hof sei dies nichts Ungewöhnliches; in ähnlichen Fällen suche man für die Schwangere einen standesgemässen Mann und für das uneheliche Kind passende Eltern. Der Prinz begriff nicht, dass er Vater werden sollte. Hatte er nicht alle notwendigen Vorkehrungen getroffen? Womöglich hatte seine Geliebte noch andere Liebhaber, mutmasste er, vielleicht jenen Zimmermann, von dem sie sich angeblich getrennt hatte.

      Jost mochte solche Unterstellungen nicht. Marianne Banzori sei gewiss keine Jungfrau mehr gewesen, schrieb er Montesquiou, aber doch auch keine Hure; die Franzosen hätten gut daran getan, alles aus dem Land zu werfen, was einem Prinzen glich. Schliesslich erklärte Louis-Philippe sich bereit, für die Niederkunft der Geliebten in Italien und die Aufzucht des Kindes aufzukommen. Marianne Banzori versöhnte sich mit ihrem «Chabosli» und liess ihn wieder in ihre Kammer. Nach seinem Abschied von Reichenau schrieb er ihr noch einige warme Liebesbriefe aus Bremgarten, dann war die Beziehung zu Ende.160 Marianne Banzori brachte im Dezember 1794 in Mailand ihr Kind zur Welt, danach verliert sich ihre Spur.

      In dankbarer Erinnerung an sein Refugium schenkte Louis-Philippe 1845 dem Schlossherrn von Reichenau zwei Bilder, die noch heute im Schloss aufgehängt sind: Das erste stellt ihn als Monsieur Chabos in einfacher bürgerlicher Kleidung und als Lehrer vor einem Globus dar, das zweite als König in Gala-Uniform.161 Auf einer Lithografie in der Kantonsbibliothek Graubünden, der das Entstehungsjahr 1826 zugeschrieben wird, sieht man den jungen Fürsten ebenfalls vor einem Globus, in weltmännischer Pose auf eine Landkarte zeigend, während seine beiden Schüler, der eine kniend, der andere gebückt, ihn ehrfurchtsvoll betrachten. Im Hintergrund spielt sich ein Gruppenunterricht mit vor sich hin träumenden Schülern ab, und ein älterer Lehrer mit schütterem Haar, wohl Juvenal darstellend, weist schimpfend einen Schüler aus dem Zimmer.162

      Die meisten Informationen aus der Anfangszeit des Seminars sind in den beiden Prospekten vom April und August 1793, in Tscharners «Reichenauer Notanda» und in dem schon erwähnten handschriftlichen Stundenplan vom Wintersemester 1793/94 enthalten, dem wir neben den unterrichteten Fächern auch die Namen der Lehrer und Schüler entnehmen.163 Ein Vergleich mit der Aufstellung vom Frühjahr 1793 zeigt, dass im Wintersemester 1793/94 nicht alle im Mai versprochenen Fächer unterrichtet wurden.

      Alle Schüler bis auf Ruggiero erhielten in der ersten Stunde von 8 bis 9 Uhr von Nesemann Religionsunterricht. Der übrige Vormittag war dem Französisch, Italienisch, Latein und Rechnen gewidmet; in diesen Fächern bestanden je zwei Klassen, und die Lehrer wechselten sich ab, während der Schüler Otto Schwarz – vermutlich der jüngste oder ungeschickteste – auch noch einzeln im Schreiben unterrichtet wurde, wobei es sich um nichts anderes als eine Einführung in deutsche Sprache, Grammatik und Orthografie gehandelt haben dürfte. Ruggiero erhielt von Nesemann von zehn bis zwölf Uhr Philosophie oder, wie es im Prospekt hiess, allgemeine philosophische Moral. In Latein liessen sich nur gerade 5 der 16 Schüler unterrichten. Auffallend ist ohnedies die geringe Bedeutung des Lateins gegenüber den modernen Sprachen, anders als es in städtischen Lateinschulen wie etwa in Chur gehandhabt wurde.

      Wegen des unterschiedlichen Bildungsstands der Schüler war dieser Stundenplan recht kompliziert. Es wurde darauf geachtet, dass keine Zwischenstunden entstanden. In wie vielen Räumen der Unterricht stattfand, geht aus den Unterlagen nicht hervor, aber angesichts der geringen Anzahl Schüler ist es denkbar, dass die Lehrer alle in einem einzigen Raum in kleinen Gruppen versammelten, wie die Lithografie von 1826 es suggeriert.

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      10 — Individueller Stundenplan der Schüler für das Wintersemester 1793/94, das Anfang Dezember begann. Hinter dem Kürzel «Ch» steht Lehrer Louis-Philippe, alias Chabos, der von 9 bis 10 Geometrie unterrichtete. Ein einzelner Schüler ist dafür eingetragen; vermutlich war einzig er reif genug dafür und verstand ausreichend Französisch. Mit Bleistift eingetragen sind in der linken Spalte noch Schüler, die angemeldet wurden, aber noch nicht eingetroffen sind.

      Von zwölf bis drei Uhr war Mittagspause. Diese Zeit wurde fürs Essen, den gemeinsamen Spaziergang und «notwendige Zwischenarbeiten» benutzt. Das geht aus einem späteren Prospekt vom Oktober 1796 hervor.164 Vermutlich wurden in dieser Zeit Spaziergänge gemacht oder Gartenarbeiten erledigt. Dann folgten bis fünf Uhr noch einmal zwei Lektionen. Nesemann unterwies Ruggiero eine Stunde lang in Rhetorik und acht Schüler in Geschichte und Geografie, Rusterholz neun Schüler in Naturgeschichte und Naturlehre sowie parallel dazu 15 Schüler im Schreiben (also Deutsch), und Juvenal erteilte jenen sieben Schülern, die den naturkundlichen Unterricht nicht besuchten (aber bei Rusterholz schreiben lernten), eine Französischstunde. Auf das Fach Englisch wurde verzichtet, ebenso auf Handelslehre, Buchhaltung und Mathematik. Dazu fehlten die Ressourcen und, dem geringen Alter, Bildungsstand und sozialen Hintergrund der Schüler nach zu urteilen, vielleicht auch das Interesse. Da die Angaben über Unterricht und Freizeitgestaltung aus den ersten Jahren spärlich und keine Berichte und Tagebücher zu finden sind, die den Alltag der Schüler in Reichenau näher beleuchten, ziehen wir für den weiteren Tagesablauf wiederum den Prospekt vom Oktober 1796 zu Rate. Dort steht, dass die drei Stunden bis zum Abendbrot um acht Uhr von den Kindern dafür verwendet wurden,

      «um nach einer schicklichen Erholung ihre Lektionen zu lernen, das, was sie den Tag hindurch gelernt haben, zu repetieren, die