Essen und an den Lehrergehältern zu sparen versuchte. Das Schulgeld aber wurde nicht erhöht. Es sollte auch weniger reiche Eltern nicht davor abschrecken, ihre Söhne nach Reichenau zu geben. Man spürt bei den Projekten Tscharners, dass er kein Geschäftsmann war; seine Kalkulation war mehr von Idealismus und Optimismus als von Realismus geprägt. In einem Inserat für das Seminar Reichenau schrieb er, dass die Summe von 26 Louisdor jährlich
«gewiss jedermann höchst wohlfeil finden wird, wer den Nutzen dieser Anstalt und die Unkosten derselben zu berechnen versteht. Auch würde es unmöglich sein, mit dieser kleinen Pension alles das, was im Plan versprochen worden, und gewissenhaft erfüllt werden soll, auszuführen, wenn nicht die Herrschaft mit Hintansetzung von Interessspekulationen das Schloss, den Garten, und die Gelegenheit zur edelsten aller bürgerlichen Absichten – zur Erziehung der Jugend – zu verwenden beschlossen hätte, und solches grosse Kapital dieser Anstalt so gut als unentgeltlich zu statten käme, so wie die vielen Bemühungen mehrerer der ersten hierzu wirkender Männer, fern von Eigennutz unentgeltlich geleistet werden.»122
Dies brachte Tscharner mit anderen Teilhabern der Herrschaft schon bald in Konflikt, da nicht alle Mitglieder der Familie Bavier so grosszügig dachten, sondern die Spekulation auf «Interesse», also eine angemessene Verzinsung des eingebrachten Kapitals, für die Handels- und Speditionsfirma als ausschlaggebend ansahen.
Im sechsten Abschnitt des Prospekts ging es um die «Eigenheiten dieser Anstalt»:
1. Gemeinschaftliche Erziehung katholischer und protestantischer Christen, wodurch der Geist brüderlicher Liebe und Duldung von früher Jugend an eingeflösst wird; eine für die Schweiz und andere Staaten vermischter Religion besonders zu nehmende Rücksicht.
2. Die Vereinigung des theoretischen Unterrichts mit der Praxis in allen vorgedachten Wissenschaften, wie auch in der Kaufmannschaft und dem Landbau.
3. Versorgung der Jünglinge mit allen zum Gebrauch nötigen Büchern, Kupfern, Instrumenten, Papier etc. zufolge oben bestimmter jährlichen Pension. Sie finden bei ihrer Ankunft augenblicklich und immer das Beste, was sie für ihren Unterricht brauchen und den Eltern werden dadurch grosse und meistens überflüssige Ausgaben erspart.
4. Es wird von der Mehrheit der Eltern die Verfügung abhängen, ob die Zöglinge im Winter und bei schlechtem Wetter die Freistunden zu Erlernung eines nützlichen Handwerks anwenden sollen, wie es in einigen der neuesten Anstalten geübt wird, sowohl um etwas Nützliches zu lernen, als um sich zu einer Zeit Bewegung zu geben, wenn das Wetter die gewohnten Übungen nicht gestattet.
Alle halbe Jahre, im Mai und im November, sollten öffentliche Prüfungen abgehalten und den Eltern oder Vormündern ausführliche tabellarische Zeugnisse über das Betragen und die Fortschritte ihrer Kinder zugesandt werden.
Bezeichnend ist, wie stark dieser Prospekt und die folgenden bis 1795 hervorheben, dass sich das Seminar in einem herrschaftlichen Schloss befinde, in der Nähe anderer Schlösser und Adelsgeschlechter, mit denen die Schüler bekannt gemacht würden, um von ihnen Lebensart und Umgangsformen zu lernen. Obwohl Tscharner bereitwillig Söhne von Grossbauern und Kaufleuten aufnahm, sollte Reichenau sich auch als Schule für die Bündner Aristokratie präsentieren, deren Nachwuchs all das geboten würde, was in seiner adligen Gesellschaft nützlich sein konnte: ausser den politischen Ämtern und Redeübungen auch Musik, Zeichnen, Fechten und Tanzen. Das ist kein Zufall.
Tscharner, der gemeinhin als Demokrat ohne ständische Vorurteile galt, sich selber auch so sah und herkunftsmässige Privilegien und Titel tadelte, war auf seine patrizische Vergangenheit stolz, einen Amtsadel, der sich in die Mitte des 16.Jahrhunderts zurückführen liess.123 Er befasste sich gern mit seinem Stammbaum und seiner Familiengeschichte, die belegen sollte, dass seine Familie sehr wohl neben jener der Barone und Freiherren von Salis bestehen konnte.124
In einer Rückblende auf die Kindheit evozierte Tscharner seine Aversion gegen zwei seiner Mitschüler im Seminar Haldenstein, Söhne des Barons von Haldenstein, die sich besser dünkten als andere, und rechtfertigte dann, wieso er selber angefangen habe, sich «von» zu nennen, «in manchen meiner Schriften alle mögliche Titul häufte, in den Ankauf der Herrschaft Reichenau mit einstand, sogar auf ihre mithinige ganze Erwerbung dachte, mir das Prädikat von Aspermont (das vom Hause Guler zu Jenins an mich gekommen, Schlossruine ob Jenins) und von Planaterra (dem wahrscheinlichen Namen unsers Sitzes zu Chur beim untern Tor) beilegte, 125 und schon eine Zeichnung zu einem Wappen entwarf, worin alle diese Titul ausgedruckt wären». Er habe dies nicht aus Anmassung getan, sondern um den anderen Bündner Geschlechtern nicht nachstehen zu müssen und, falls Bünden von Habsburg unterworfen worden wäre, seinen Söhnen eine Laufbahn in österreichischem Dienst oder als Offizier vorzubereiten.126
ERÖFFNUNG OHNE POMP
Über die Eröffnung des Seminars Reichenau Mitte Juni 1793 besitzen wir ein Inserat, das in den bei Deutschlands Gelehrten viel beachteten «Intelligenzblättern der Allgemeinen Literatur-Zeitung von Jena» erschien:
«Ohne alle Festivität und Gepränge hat nun die neulich angekündigte Erziehungsanstalt zu Reichenau in Graubünden ihren Anfang genommen; indem bereits der Herr Direktor Nesemann nebst einem katholischen und zwei reformierten Lehrern, so wie eine Anzahl reformierter und katholischer Zöglinge aus vornehmen und bürgerlichen Geschlechtern seit acht Tagen das dasige Schloss bezogen und diese kunstlose aber nützliche Anstalt eröffnet haben. Es wird nun an treuer Ausführung des Plans gearbeitet, und bei erwartender verhältnismässiger Anzahl von Zöglingen soll auch das katholische, so wie das reformierte Professorat ohne Verzug besetzt werden.»127
Dieser unspektakuläre Auftritt des Seminars steht in krassem Gegensatz zum Zirkus um die Verlegung des Seminars Haldenstein nach Marschlins im Jahre 1771, die begleitet von «einem mächtigen Tross, mit Ross und Wagen» stattgefunden und in einem dreitägigen Fest kulminiert hatte.128 Damals waren gegen achtzig Schüler mit Mobiliar und Schulmaterial umgesiedelt worden. Baron Ulysses von Salis, Herr von Marschlins, bevollmächtigter Minister Frankreichs, der grandiose Inszenierungen zu organisieren gewohnt war, hatte prominente Gäste eingeladen und kräftig die Propagandatrommel für seine Schule gerührt, auch ein weiteres Mal, als er sie 1775 in ein Philanthropin verwandelte.129
Seit jenen gloriosen Zeiten war mehr Demut in Bünden eingekehrt; das Selbstbewusstsein der Adelsgeschlechter war geknickt und ihr Reichtum, der sich aus drei Quellen spies – Pensionswesen, Handel und Untertanenlande –, hatte durch die Französische Revolution und die Entlassung der Bündner Regimenter eine beträchtliche Einbusse erlitten. Ohne Geld schwand auch der Einfluss auf die Politik. Bescheidenheit und Zurückhaltung entsprachen eher dem neuen Zeitgeist als der barocke Luxus des Salis-Marschlins.
Tscharner und Nesemann, die Gründer des Seminars Reichenau, achteten nicht auf die Meinung des Publikums, wenn sie etwas Neues an die Hand nahmen, ja sie scheuten geradezu die Öffentlichkeit und meldeten sich kaum zu Wort, wenn es nicht unbedingt nötig war. Davon zeugt auch der Prospekt vom 22. Mai 1793, der mit minimalen Veränderungen am 1. August neu aufgelegt wurde: Die Leistungen sollten für sich sprechen. Dabei blieb es für die nächsten anderthalb Jahre.
Als der Romanautor und Dramatiker Heinrich Zschokke im August 1796 nach Reichenau kam und Anfang 1797 die Direktion übernahm, änderte sich dies; er kritisierte die bisherige Werbepraxis und schlug eine verstärkte Propaganda vor, denn nur wenn von Zeit zu Zeit über die Fortdauer und Neuerungen des Instituts berichtet werde, bleibe das Interesse geweckt.
Was aber waren die Eigentümlichkeiten des Seminars Reichenau, die es verdient hätten, dass man darüber Worte verlor? Zunächst sah alles nach einer üblichen Internatsschule aus. Die wenigen Schüler und die geringe Zahl an Lehrern erlaubten es noch nicht, den vorgesehenen Plan ganz zu entfalten. Krisen, welche das Seminar erschütterten, stellten sich dem Ausbau weiter entgegen. In einem Prospekt und einem öffentlichen Brief vom 1. Februar 1795 ist erstmals von einem Schülertribunal beziehungsweise einer Schulrepublik die Rede.130 Es ist aber anzunehmen, dass diese Institution bereits seit Sommer 1794 bestand.
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