Werner Ort

Die Schülerrepublik im Schloss Reichenau


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wenige Freunde blieb, war stark defizitär. Tscharner hätte sie Ende 1791 am liebsten aufgegeben oder dem Hauptlehrer Jakob Valentin (1760–1841) überlassen, einem reformierten Theologen aus dem Prättigau, der sie seit 1786 leitete. Aber Valentin scheute, der ungewissen Zukunft der Schule wegen, davor zurück.

      Mit dem Kauf von Reichenau eröffnete sich Tscharner eine neue Perspektive. Die Herrschaft unterstand weder der Jurisdiktion noch den Behörden der Stadt Chur oder einer anderen Gemeinde, die befugt gewesen wären, sich in die Schulgestaltung einzumischen und Abgaben zu verlangen. Auch konnte sie von keiner Zunft oder Bürgerschaft gegängelt werden, die darüber wachte, wer ansässig sein und ein Gewerbe ausüben durfte, und es war keine Instanz da, welche eine Schule hätte ablehnen können, wenn ihre Ziele allfälligen Satzungen oder Privilegien zuwiderliefen.

      Schon lange vor Heinrich Pestalozzi war es üblich, in Privatschulen auf Kopf, Herz und Hand einzuwirken und die Schüler neben dem Unterricht auch noch mit einem Gewerbe zu beschäftigen. Das Gefühl sprach man schon in Haldenstein mit religiöser Hingabe und der Vermittlung eines gelebten Christentums an, indem – vor einem pietistischen Hintergrund – auf Liebe zum Nächsten, Toleranz und Friedfertigkeit hingewirkt wurde.87 Die Erziehung zur Vernunft wurde in Haldenstein durch den eigentlichen, wissenschaftlichen Unterricht abgedeckt, der im Zeichen der Aufklärung stand, und für die handwerkliche Komponente wurde gesorgt, indem die Knaben im Drechseln, Glasschleifen, in Papierarbeiten und im Frühjahr und Sommer im Gärtnern, Pflanzen und Pfropfen unterwiesen wurden.88

      Handwerkliche Tätigkeiten waren auch für Jenins vorgesehen gewesen89 und finden sich in den Prospekten des Seminars Reichenau; sie wurden jedoch, abgesehen von der Gartenpflege, nicht ausgeübt. Im Unterschied zu Pestalozzi, der die Kinder arbeiten liess, um sie ihren Lebensunterhalt bestreiten zu lassen, ging es in den Bündner Seminarien darum, ihnen einen körperlichen Ausgleich zu bieten und sie sinnvoll zu beschäftigen.90

      Auf politisch und konfessionell neutralem Grund wie Reichenau konnte eine Schule eher gedeihen, in welcher künftige Staatsmänner und Weltbürger, Bündner und Ausländer, gleich welcher Sprache und Religion, erzogen wurden. Vielleicht liessen sich Eltern, die davor zurückscheuten, ihre Kinder einem Privatlehrer anzuvertrauen, verlocken, sie in ein Internat zu schicken. In erster Linie aber mussten sie davon überzeugt werden, dass sich ihre Kinder in einem gesunden Klima aufhielten, vor allen Gefahren beschützt und gründlich unterrichtet wurden. Marschlins nämlich, wohin das Seminar Haldenstein 1771 verlegt worden war, war seines schattigen Sumpfgeländes wegen91 mit dort grassierenden Epidemien in Zusammenhang gebracht worden: Die Schüler wurden von Faul- oder Nervenfieber, einer Ruhrepidemie und dem Tertianfieber (Malaria) befallen, 92 Infektionen, für die man damals aus dem Boden aufsteigende Miasmen verantwortlich machte. Von der reinen Luft und dem sauberen Wasser in Reichenau war dies nicht zu befürchten, dafür war mit Erkältungskrankheiten zu rechnen.

      Eines der wichtigsten Argumente für die Aufnahme des Schulbetriebs im Schloss Reichenau war, dass Tscharner Johann Peter Nesemann dafür gewinnen konnte, seine Privatschule in Chur aufzugeben und die Schulleitung in Reichenau zu übernehmen. Nach dem Tod von Martin Planta war Nesemann, der im Verlauf seiner 14-jährigen Tätigkeit in Haldenstein und Marschlins gegen 300 Knaben und Jünglinge aus Bünden und der Schweiz erfolgreich unterrichtet hatte, die mittlerweile selber Väter von Kindern waren, der wohl geachtetste Pädagoge weit und breit. Nach Tscharners Vorstellungen sollte das Seminar Reichenau gemäss den neusten pädagogischen Prinzipien, aber nach bewährten Methoden geführt werden, und dies war durch seinen alten Lehrer, Mentor und Freund Nesemann am besten gewährleistet.

      Dass sich Nesemann im hohen Alter von 66 Jahren überreden liess, nach Reichenau zu kommen, noch einmal von Neuem zu beginnen oder vielmehr an Haldenstein anzuknüpfen, muss mit der Freundschaft in Zusammenhang gebracht werden, die ihn mit Tscharner verband, aber auch, da er ein kluger Geschäftsmann war, mit Vorteilen, die ihm versprochen wurden. Tscharner vereinbarte mit ihm ein für damalige Verhältnisse hohes Jahresgehalt von 800 Gulden. Ausserdem durfte er ein Drittel der Geschenke behalten, welche die Schule von den Eltern erhielt. Laut einem nicht datierten Entwurf zu einem «Akkord» (Vertrag), der nach seinem Umfeld in den «Reichenauer Notanda» zu urteilen auf Ende 1793 oder Anfang 1794 zu datieren ist, hatte Nesemann statt wie die anderen Lehrer sieben Stunden Unterricht oder Aufsicht pro Tag nur vier «in jedem erforderlichen Fache» zu geben und eine Stunde Aufsicht zu führen, damit er die Leitung und weitere administrative Arbeiten wahrnehmen, also den Stundenplan koordinieren, die Lehrer überwachen, die Rechnungen führen und Korrespondenz erledigen konnte. Er sollte zwei Zimmer und eine Küche zur Verfügung haben, und es war ihm freigestellt, ob er sich privat verpflegen oder gegen einen Betrag von 150 Gulden jährlich mit den anderen essen wollte. Ausserdem durfte er, was sonst keinem Lehrer erlaubt war, das Wochenende mit seiner Frau und den beiden Töchtern in Chur verbringen. Er war direkt Tscharner unterstellt, dem Kurator und Verbindungsmann zur Herrschaft.93

      Nachdem sich Nesemann bereit erklärt hatte, die Leitung des Seminars zu übernehmen, bemühte sich Tscharner, einen zweiten Direktor zu finden, und bat Jakob Valentin, diese Stelle einzunehmen. Bis alle Abklärungen getroffen und die Räume für die neuen Bedürfnisse instand gestellt waren, sollte die Familienschule in Jenins weitergeführt werden. Danach sollte die Schülerschar geschlossen nach Reichenau kommen: die drei ältesten Söhne Tscharners, ein Planta von Zuoz, Alexander Sulzer oder Sulser von Azmoos, Jan Corv von Ramosch und Peter Ludwig Donatz, Sohn des Marschalls Conradin von Donatz und der Baronesse von Saint-Six.94

      Über Johann Peter Nesemanns Herkunft und Werdegang sind wir leider nur unzureichend unterrichtet, obwohl ihm gleich zwei Autoren – der Tscharner-Biograf Alfred Rufer und der Bündner Theologe und Historiker Benedikt Hartmann – eine biografische Skizze widmeten.95 Nicht einmal über sein Geburtsjahr sind wir im Bild; in der Literatur differiert es zwischen 1720 und 1726.96 Die sichersten Angaben finden wir im Archiv der Franckeschen Stiftungen in Halle. Johann Peter Nesemann war Bauernsohn und offenbar sehr aufgeweckt, denn er trat am 13. April 1739 als Schüler in die Lateinische Schule in Halle an der Saale ein (eine Stiftung des pietistischen Theologen und Pädagogen August Hermann Francke). In diesem Archiv wird das Geburtsjahr 1726 angegeben, als Geburtsort Bahrendorf in der Magdeburger Börde.97 Sein Vater hatte dort einen eigenen Bauernhof. Der Name Nesemann (auch Neesemann oder Naesemann) war in Bahrendorf damals verbreitet.

      1747 wurde Nesemann Informator (Lehramtskandidat), dann Lehrer, zunächst an der Mädchenschule, später an der Lateinischen und der Deutschen Schule des Waisenhauses in Halle. Für seine Tätigkeit an der Mädchenschule wurde ihm folgendes Zeugnis ausgestellt: «Er scheint nicht übel zu sein, hat mittelmässige studia, ziemlichen Vortrag und regimen.»98 Theologie an der Universität Halle, wie oft behauptet wird, studierte er nicht, 99 jedenfalls fehlt er in den Universitätsmatrikeln.100

      Mit diesem Rüstzeug versehen, das ihm als Sprungbrett und Empfehlung für eine künftige Tätigkeit als Hauslehrer diente, wurde Nesemann im November 1750 an den Bündner Offizier Salomon Sprecher von Bernegg vermittelt, der früher selber das Pädagogium in Halle besucht hatte, zur Unterweisung von dessen zehnjährigem Neffen Anton Herkules Sprecher (1741–1827).101 Nesemann unterrichtete und betreute den Knaben zehn Jahre lang an wechselnden Aufenthaltsorten wie Davos, Chur und Como und begleitete ihn schliesslich zum Studium nach Genf und Basel.

      Es war in vornehmeren Kreisen Bündens damals üblich, die Erziehung der Söhne einem Hauslehrer anzuvertrauen, 102 teils der abgelegenen Landsitze und des schlechten Rufs der Volksschulen wegen, teils wegen der Mobilität der Väter, die in verschiedenen Stellungen tätig waren und ihre Söhne unter ihrer Obhut behalten wollten, auch um ihnen die spezifischen Kenntnisse ihres Standes beizubringen. Man suchte die Lehrer mit Vorliebe auf Empfehlung unter jungen Universitätsabsolventen in Deutschland, die, je nach Anspruch der Eltern, vielsprachig und theologisch oder technisch-naturwissenschaftlich-praktisch ausgerichtet waren. Die Beherrschung des Lateinischen war dabei selbstverständlich. Zur preussischen Universitätsstadt Halle und den dortigen Schulen bestanden in den Drei Bünden ausgezeichnete Verbindungen, nicht