Werner Ort

Die Schülerrepublik im Schloss Reichenau


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      Zum Besitz der Herrschaft Reichenau-Tamins gehörten Wiesen, Äcker, ein Obstbaumgarten und ein kleines Rebgelände, die Tscharner sich Mühe gab, genau zu erfassen und ihren Geldwert zu bestimmen. Ferner lagen im Farsch – einem Landstreifen entlang des rechten Ufers des Vorderrheins, der zur Gemeinde Bonaduz gehörte – eine Mühle, eine Sägerei und Wuhranlagen. Tscharner erwog, einzelne Teile des Besitzes zu arrondieren oder gegen andere einzutauschen.64 Einige Jahre später, als er von einer Erneuerung Reichenaus träumte und sich die Herrschaft als ein kulturelles und wirtschaftliches Zentrum in einer lieblichen Landschaft wünschte, malte er sich eine Promenade vom Farsch bis zur Ruine Wackenau aus, mit einem antiken Tempelchen und einer Statue, um den Spaziergang romantisch und noch reizvoller zu gestalten.65 1792 lagen ihm solche Ideen noch fern; zu dieser Zeit hatte er dafür zu sorgen, die Herrschaft möglichst bald gewinnbringend werden zu lassen.

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      4 — Das Schloss Reichenau heute, mit seinem schönen Park. Linkerhand das Hotel Adler, das ehemalige Zollhaus. Um 1820 erfuhr das Schloss durch Ulrich von Planta eine Umgestaltung in klassizistischem Stil. Seitdem blieb es vom Aussehen her unverändert.

      Unmöglich schien Tscharner dies nicht. Zur Herrschaft gehörten eine Schmiede, Sägerei, Küferei, Tischlerei, Schusterei, Färberei und Gerberei, eine Mühle, Metzgerei, Bäckerei, Apotheke und der Spezereiladen. Später kam ein Tuch- und Kleiderladen dazu. Einiges davon war im Schloss oder im grossen Haus an der gedeckten Brücke untergebracht; der Schmied und der Färber, der Küfer und der Kupferschmied hatten eigene Häuser

      Die Handwerker und Krämer könnten ihren Umsatz beträchtlich steigern, meinte Tscharner, wenn man Reichenau und die Zufahrt von Chur her attraktiver gestalte, den Durchgangsverkehr anrege und im Schulinternat mit bis zu 60 Schülern den Bedarf an Lebensmitteln ausschliesslich aus der eigenen Produktion beziehe. Ausserdem gab es einen landwirtschaftlichen Betrieb mit Ställen und Vieh, der einem Meier unterstand. Weniger bedeutend, wenn auch nicht vernachlässigbar, war ein langgestrecktes Gewächshaus, das vermutlich der Alimentation des Schlossgartens mit Blumen und der Überwinterung exotischer Pflanzen gedient hatte, vielleicht auch der Bereicherung des herrschaftlichen Speisezettels mit Gemüsen und Früchten, die nicht im Freien gezogen werden konnten. Was mit dem Gewächshaus weiter geschah, geht aus den Unterlagen nicht hervor. Die Gärtnerei und das Handelskontor der Firma Bavier dienten den Schülern dazu, für den Beruf als Landwirt oder Kaufmann praktische Kenntnisse zu erwerben. Die Organisation der Landwirtschaft war indessen nicht Tscharners Aufgabe, sondern der Herrschaftsverwaltung unterstellt, auch wenn er von seinem Landsitz in Jenins her genügend Erfahrung zur Verfügung gehabt hätte.

      Das Seminar Reichenau

      TSCHARNER, DIE GRÜNDERPERSÖNLICHKEIT

      Wie einst beim Seminar Haldenstein, das von 1761 bis 1771 bestand, können wir auch bei seinem Nachfolger in Reichenau von zwei Gründerpersönlichkeiten sprechen. Damals waren es Martin Planta und Johann Peter Nesemann, hier Nesemann und Tscharner. Der Haldenstein-Zögling Tscharner war Initiator und treibende Kraft hinter dem Seminar Reichenau, entwickelte das Konzept und arbeitete den Plan dafür aus, überzeugte die beiden Direktoren der Handlungs- und Speditionsfirma Bavier von seiner Realisierbarkeit, organisierte und leitete den Umbau, suchte nach Schülern, wählte die Lehrer aus – vielleicht in Absprache mit Nesemann – und wurde Kurator der Schule.

      Inwieweit auch der Lehrplan auf ihn zurückging, wissen wir nicht, aber der Umstand, dass Tscharner auf seinem Landgut in Jenins während sechs Jahren eine kleine Privatschule für seine Söhne und Kinder von Bekannten unterhielt und dazu ausführliche pädagogische Überlegungen anstellte, weist darauf hin, dass er auch für Reichenaus pädagogisches Konzept verantwortlich gewesen sein dürfte, das der Öffentlichkeit in einem Prospekt vom Mai 1793 zur Kenntnis gebracht wurde.66 In die Gestaltung des Stundenplans, die Fächerbesetzung und den Schulbetrieb mischte er sich dagegen nicht ein; das überliess er dem erfahrenen Nesemann, den er auch sonst und in den unterschiedlichsten Fragen zu Rate zog.

      Bemerkenswert ist, wie viel Zeit Tscharner neben seinen vielen anderen Verpflichtungen der Organisation der Herrschaft Reichenau-Tamins, der Errichtung des Schulinternats und später seiner Aufgabe als Kurator des Seminars widmete. Im Oktober 1792 schätzte er, dass ihn seine Tätigkeit für Reichenau zwei bis drei Tage wöchentlich in Anspruch nehmen werde.67 Das war nicht zu hoch veranschlagt. Immer wieder pendelte er zwischen Chur, Jenins und Reichenau und liess es sich auch nicht nehmen, sich an wichtigen Anlässen wie Schulausflügen und den halbjährlichen öffentlichen Schulexamen im Mai und Ende November (vor den beiden grossen Märkten in Chur) zu beteiligen.

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      5 — Johann Baptista von Tscharner (1751–1835) in seiner Staatstracht, nach einer Fotografie aus dem Staatsarchiv Graubünden. Das Originalgemälde befindet sich in Privatbesitz.

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      6 — Standbild des Politikers und Pädagogen Tscharner auf dem Arcas genannten Platz in Chur. Links davon an der Mauer befindet sich ein Zitat aus einer Rede Tscharners vor Schülern der Stadtschule. Die Steinbank und das Brunnenbecken, die ebenfalls zum Ensemble gehören, laden zum Niederlassen ein.

      Sein Vertrauter in Reichenau war Aloys Jost, der als Verwalter der Herrschaft und des Seminars im Schloss wohnte und ihm häufig, zuweilen sogar täglich, schriftlich die neusten Vorfälle berichtete. Begünstigt wurde dies dadurch, dass auf der Strecke Chur-Reichenau die Postboten immer in der einen oder anderen Richtung unterwegs waren. Auch von Nesemann, der nicht gerne und viel schrieb, wurde Tscharner über wichtige Vorkommnisse unterrichtet, meistens mündlich. Seinen beiden Kompagnons Johann Baptist Bavier dem Älteren und dem Jüngeren begegnete er dagegen nur an den monatlichen Sitzungen des Herrschaftsrats in Reichenau, falls sie ihm in Chur nicht zufällig über den Weg liefen oder in Briefen die Zustände im Seminar oder Josts Verhalten und Entscheidungen bemängelten.

      Während die Herrschaftsratssitzungen offenbar nach strengen Regeln abliefen – wir kennen die Reglemente68 und die Sitzungsprotokolle jedoch nicht –, fielen die Briefe der beiden Bavier meist geharnischt und unfreundlich aus. Sie hatten ihre eigenen Zuträger und Vertrauten in Reichenau, ihre Mitarbeiter der Schreibstube, die wenig erfreut von Josts Aktivitäten und dem Lärm und den Umtrieben der Kinder waren, weil ihrer Ansicht nach mit dem Einzug des Seminars die geschäftige Ruhe der Firma und ihr Profit erheblich gestört wurden.

      Reichenau war nur eines von vielen Projekten, denen sich Tscharner mit Leib und Seele verschrieb. Zwischen 1775 und 1777 leitete er die Landvogtei in Tirano und von 1783 bis 1785 jene der Herrschaft Maienfeld. Es spielte für ihn keine Rolle, dass er diese beiden Ämter für viel Geld ersteigern musste; er setzte alles daran, seine Aufgaben gewissenhaft zu erfüllen, auch von 1781 bis 1785, als er mit dem Ausbau der Reichsstrasse zwischen der St. Luzisteig und Chur betraut war.69 Von seiner Tätigkeit im Churer Schulrat, wo er bis 1786 als Schulpräsident waltete und jährlich zum Schulexamen väterlich-belehrende Reden der Tugendhaftigkeit an Schüler und Lehrer richtete, 70 war schon die Rede. Ein Denkmal auf dem Arcas-Platz in der Churer Altstadt erinnert an Tscharner als Kinder- und Schulfreund. Zur linken Seite ist ein Zitat in die Mauer eingelassen: «Denn wisset, Kinder, kein Mensch ist einiger Hochachtung wert, und keiner wird auch von seinen Mitbürgern geliebt, der nicht trachtet, sich selbst zu verbessern und seinen Nebenmenschen wohl zu tun. Beides muss nebeneinander bestehen, Wissenschaft und Redlichkeit.»

      1786 ergriff Tscharner die Initiative zur Gründung der Churer Armenanstalt, die noch im gleichen Jahr realisiert wurde und deren Präsident er bis 1794 war. Erst nachdem er Bürgermeister der Stadt wurde, gab er dieses Amt auf und musste auch sonst kürzertreten, vor allem, als er im September 1794 als Bürgermeister auch das Präsidium des Gotteshausbundes und damit eines der verantwortungsvollsten Ämter der Drei Bünde übernahm.71

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