Werner Ort

Die Schülerrepublik im Schloss Reichenau


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Es ist einleuchtend, dass Wien angesichts des sich abzeichnenden Kriegs mit dem revolutionären Frankreich auf dem geografisch und politisch wichtigen Posten in Bünden einen Diplomaten ohne Loyalitätskonflikte und Eigeninteressen haben wollte.

      Buol-Schauenstein, der im Kaufvertrag vom März 1792 noch als «Freiherr von Riet- und Strassberg, Herr von Reichenau und Tamins, kaiserlich-königlicher Kämmerer, wirklicher Geheimer Rat, ausserordentlicher Abgesandter und bevollmächtigter Minister bei der Republik der Drei Bünde» bezeichnet wurde, stand nun ohne Aufgabe und, was für ihn entscheidender war, ohne Macht da. Da er sich im 63. Lebensjahr befand, wollte er sich wohl der Verantwortung als Schloss-, Herrschafts- und Gutsbesitzer entledigen und anderswo ein Rentnerdasein führen. Dazu sollte ihm der Verkauf der Herrschaft verhelfen.

      Zu seinem Entschluss, Reichenau zu verlassen, mochte auch der Umstand beigetragen haben, dass seine Ehefrau, eine geborene Gräfin von Sarntheim, und ihre gemeinsame Tochter Anna Maria beide 1791 in Reichenau gestorben waren. Die beiden Söhne – der eine hatte eine geistliche Laufbahn eingeschlagen, der andere stand als Beamter in österreichischen Diensten – waren gewiss nicht gewillt, im Elternhaus zu bleiben und Schuldner ihres Vaters zu werden oder um des Titels willen ein kostspieliges Schloss zu unterhalten, sich mit Verwaltungsaufgaben herumzuschlagen und in dauernden Reibereien mit den Taminsern zu leben, die zwar gern Forderungen stellten, aber ihre Pflichten als Untertanen nur widerwillig erfüllten.

      Wie anderswo kam es auch in den Drei Bünden zu wachsenden Spannungen zwischen der adligen Herrschaft und den Gemeinden, die zwar ihre früheren Untertanengebiete waren, aber auf politischer Ebene grosse Macht ausübten, zu Entscheidungen im Gesamtstaat befragt werden mussten und neben dem Referendums- auch ein Initiativrecht besassen. Schon der Begriff Untertanen war für sie eine Beleidigung; er entsprach nicht ihrem Selbstverständnis als Bürger mit einem Mitspracherecht in Bundesfragen und auf höchster politischer Ebene. Dass das Verhältnis zwischen Schloss und Tamins kein einfaches war, zeigt folgendes Beispiel: Für die Inauguration des Thomas Franz Schauenstein im Jahr 1720 einigte man sich darauf, dass die Taminser ihren neuen Herrn als «hochwohledelgeborenen gnädigen Herrn» anzureden hatten und dieser die Obrigkeit von Tamins mit «wohlgeachtete, ehrenfeste, fürsichtige, insonders vielgeehrte Herren, meine lieben Freunde und getreuen Gemeindeleute».12 Es wollte also jeder als Herr bezeichnet werden, auch wenn es nur einen einzigen «Hochwohl-Edelgeborenen» gab.

      Die Gemeinden konnten einem ortsansässigen Adligen das Bürgerrecht verwehren, wodurch er nicht einmal in lokalen Angelegenheiten mitbestimmen konnte, und in Gemeindeversammlungen zählte seine Stimme nicht mehr als die jedes einfachen Bürgers, Bauern, Hirten oder Knechts. Wollte der Herr die Unterstützung einer Gemeinde in Anspruch nehmen, etwa für die Wahl in ein Amt, so musste er den Bewohnern einen Zuber, Saum oder gar ein Fuder Wein ausgeben und die Gemeindeoberen mit einem Festessen und grosszügigen Geschenken günstig stimmen. Ohne solche Erkenntlichkeiten verlief kaum eine wichtige Wahl. Die landauf, landab geläufige aktive und passive Bestechung von Gemeindeoberen, Amtsträgern, Richtern und Syndikatoren, die Manipulation der öffentlichen Meinung, Rechtsbeugung, das Frisieren von Zahlen, Ausstreuen falscher Gerüchte, um den politischen Gegner zu schädigen, die geheimen Abkommen, um sich einen Vorteil zu verschaffen, die Entgegennahme und Weiterverteilung von Pensionen einer ausländischen Regierung und anderes mehr bezeichneten die Bündner schlicht als «Praktiken».

      Wie begrenzt die Macht einer Herrschaft war, lässt sich anhand der Urkunden der Gemeinde Tamins zeigen: Bei jedem Herrschaftswechsel musste der neue Inhaber, wenn er den Huldigungseid entgegengenommen hatte, der Gemeinde versprechen, sie in ihren Rechten zu schützen. Beide Parteien stützten sich auf einen 1670 vereinbarten Vertrag (Spruchbrief), der unter anderem vorsah, dass auf Gemeindegebiet ohne Einwilligung von Tamins keine neuen Gebäude errichtet werden durften. Den Rechten der Gemeindemitglieder, etwa ihr Vieh im Frühling und Herbst zum Weiden auf Reichenauer Boden zu treiben, standen kaum noch Rechte der Herrschaft gegenüber. So konnte die Herrschaft zwar Vorschläge für die Bestallung eines Beamten oder Pfarrers machen. Ihn zu wählen, oblag aber der Gemeinde. Bei Uneinigkeit wurde ein unparteiisches Schiedsgericht angerufen, dessen Urteil sich beide Seiten beugen mussten.13

      Der Rechtshistoriker Peter Liver beurteilt in seinem Aufsatz «Die staatliche Entwicklung im alten Graubünden» das Verhältnis von Herr und Untertanen so: «Die den Untertanen eingeräumten Rechte waren so umfassend, dass man mit Recht gesagt hat, als Privilegien müssten eigentlich nicht diese Rechte der Untertanen, sondern die wenigen Befugnisse der Herrschaft betrachtet werden.»14

      Wie wenig Buol-Schauenstein die weitgehend erodierten Herrschaftsrechte noch bedeuteten, zeigt seine einzige Bedingung beim Verkauf der Herrschaft: dass der katholische Gottesdienst im Schloss weiterhin gewährleistet sein müsse. Bei der ausgehandelten Verkaufssumme wird er von dem Churer Speditions- und Handelshaus kaum einen Zuschlag für die einst prestigeträchtige Herrschaft – immerhin durfte man sich als Eigentümer mit einem Adelstitel schmücken – verlangt und erwartet haben. Es waren schwierige Zeiten für adlige Gutsbesitzer, deren Einkünfte hauptsächlich aus der Organisation von Söldnerdiensten und aus Bestechungsgeldern (Pensionen) fremder Mächte geflossen waren: Beide Quellen sprudelten nicht mehr so reichlich wie früher, und so wurde das Geld unter den führenden Bündner Familien knapp, die gern in einem bescheidenen Luxus lebten, ihr Vermögen aber zum grössten Teil in Grundbesitz investiert hatten.

      Wenn Buol-Schauenstein 1792 mit 133 000 Gulden einen sehr hohen – manche behaupteten: übertrieben hohen – Preis erzielen konnte, so hatten die Käufer ökonomische und allenfalls politische Gründe dafür, die noch erläutert werden müssen. Es muss dem österreichischen Gesandten aber schwer gefallen sein, überhaupt einen Käufer für Schloss und Herrschaft zu finden, denn sonst hätte er sie nicht ausgerechnet an politische Gegner Habsburgs verkauft, an die mit der französischen Revolution offen sympathisierende Familie Bavier in Chur, deren Mitglieder zumeist der fortschrittlichen «Patriotenpartei» angehörten.15

      Womöglich hätte Buol-Schauenstein vermögende Interessenten ausserhalb Bündens gefunden; der Verkauf wurde indes nicht öffentlich ausgeschrieben, und vielleicht fürchtete man schon damals einen «Ausverkauf der Heimat» mit unabsehbaren Folgen für das komplizierte Gleichgewicht des politischen und konfessionellen Gefüges. Graubünden – oder eben der Freistaat Gemeiner Drei Bünde – war bis 1803 noch kein Bestandteil, sondern ein zugewandter Ort der Eidgenossenschaft; einzig mit Zürich und Bern gab es einen Staatsvertrag, wobei hauptsächlich zum Stand Zürich starke persönliche und politische Bande bestanden. Leidvolle Erfahrung hatte man im Verlauf der Geschichte mit der Einmischung europäischer Grossmächte – namentlich Österreichs und Frankreichs – in die Bündner Politik gemacht, was aber ehrgeizige und auf reiche Pensionen spekulierende Bündner nicht daran hinderte, sich auf die eine oder andere Seite zu stellen.

      Als Vermittler des Verkaufs diente offenbar der Oberländer Arzt und Politiker Georg Anton Vieli (1745–1830) aus Cumbel, 16 ein Katholik und seit 1777 österreichischer Gesandtschaftssekretär und Verwalter der Herrschaft Rhäzüns. Diese war seit 1696 direkt dem Kaiserhaus unterstellt und galt als wichtiger Stützpunkt Österreichs in den Drei Bünden. Vielis Vermittlerrolle liegt auf der Hand, war Buol-Schauenstein doch sein Vorgesetzter und Förderer; zudem beteiligte er sich am Kauf, indem er ein Viertel der Kaufsumme übernahm. Das Churer Speditions- und Handelshaus Simeon und Johann Baptist Bavier übernahm die anderen drei Viertel, wodurch Tscharner, seit 1787 stiller Teilhaber der Firma Bavier, wie Vieli Eigentümer eines Viertels wurde. Für die Abwicklung des Kaufs wurde Ende 1791 die Reichenauer Gesellschaft gegründet.17

      Die Firma Bavier oder vielmehr ihre Vorgängerin taucht in der Geschichte des Handelsplatzes Chur im Jahr 1693 als schärfste Konkurrentin des damals bedeutendsten Handelshauses Massner auf, das sie 1701 erstmals überflügelte.18 Simeon Bavier (1664–1726) und sein Bruder Johann (1665–1713), die damaligen Direktoren, können nicht die Gründer der Firma gewesen sein, da sie für den Aufbau eines derartigen Handelshauses noch zu jung gewesen wären. Da solche Firmen in der Regel vom Vater auf den Sohn oder die Söhne übergingen, müssen wir noch mindestens eine Generation zurückgehen, um den eigentlichen