Liquidation ging. 1819 gelangte das Schloss Reichenau in die Hand von Hauptmann Ulrich von Planta-Samaden, der es umfassend renovierte. Durch diese Transaktionen gingen ebenfalls Dokumente verloren; im Besitz von Tscharner blieben Abschriften, Entwürfe und Notizen, die oft nachträglich entstanden und subjektiv gefärbt sind. Gleichwohl erlauben manche von ihnen dank ihrer Unmittelbarkeit wertvolle Einblicke in Abläufe, Geschehnisse, Entscheidungsfindungen, in Schwierigkeiten und Streitfälle. Dies muss uns für die Lückenhaftigkeit der uns zur Verfügung stehenden Dokumente entschädigen.
Wir hätten gerne die Verträge und Sitzungsprotokolle der Eigentümer der Herrschaft Reichenau gekannt, die Abmachungen mit Lehrern und Angestellten, die Aufzeichnungen über Schüler, Stundenpläne, Korrespondenzen mit Eltern und Behörden, ökonomische Verzeichnisse, Haushalts- und Rechnungsbücher, Menüpläne, Auskünfte über die Benutzung und Herrichtung von Räumlichkeiten, über Vorfälle usw. Einiges lässt sich aus Briefen an Tscharner, aus dessen Notizen und aus verstreuten anderen Dokumenten rekonstruieren. Wir müssen uns aber stets bewusst werden, dass uns für wichtige Sachverhalte kaum gesicherte und eindeutige Dokumente vorliegen.
Es ist der Wunsch des Autors, das Schicksal des Seminars Reichenau möglichst farbig und anschaulich darzustellen, ohne Kompromisse bei der wissenschaftlichen Genauigkeit einzugehen. Ich werde mich eng an die Fakten halten und nach Möglichkeit die Quellen sprechen lassen, um dem Buch die notwendige Glaubwürdigkeit und Authentizität zu verleihen. Auf Spekulationen und einseitige Deutungen wird verzichtet und Interpretationen werden als solche gekennzeichnet. Um die Lesbarkeit zu verbessern, werden die Zitate zwar im Wortlaut, aber in modernisierter Orthografie und mit bereinigter Interpunktion wiedergegeben. Die Herkunft von Textstellen und Aussagen, die nicht vom Autor stammen, ist in den Endnoten vermerkt; Belege und Abschriften liegen in Kopie und/oder in elektronischer Form vor und werden dem Staatsarchiv des Kantons Graubünden übergeben.
Mein besonderer Dank gilt Thomas Pfisterer, Christian Rathgeb und Gian-Batista von Tscharner in Reichenau für die Ermutigung, dieses Projekt in Angriff zu nehmen, Marius Risi und Cordula Seger vom Institut für Kulturforschung Graubünden für die vorzügliche Betreuung, Peter Jäger, Cordula Seger und Bruno Meier für ihr Lektorat, dem Verlag Hier und Jetzt, dass er diesem Buch eine Heimat geboten hat, nicht zuletzt aber den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Staatsarchive der Kantone Aargau und Graubünden, der entsprechenden Kantonsbibliotheken, dem Rätischen Museum in Chur und der Zentralbibliothek Zürich für die stets freundliche und kompetente Hilfe.
Geschichte der Herrschaft und des Schlosses Reichenau
DAS SCHLOSS REICHENAU IM LAUF DER JAHRHUNDERTE
Wendet man sich vom Bahnhof Reichenau-Tamins, der sich auf dem ehemaligen Zollboden befindet, nach Norden, so ist eine Autobahn zu überqueren, die sich hier ans Ufer des Rheins schmiegt, bevor man in die ältere Geschichte Reichenaus eintauchen kann. Links und rechts überqueren Brücken aus Stahlbeton und Eisen die beiden Rheinarme oder den bei Reichenau vereinten Rhein und zeugen noch heute von der Bedeutung dieses Ortes als Verkehrsknotenpunkt: zu den Bündner Pässen im Süden und Westen, den Strassen und Eisenbahnlinien in Richtung Chur und von dort nach Vorarlberg, ins schweizerische Mittelland und an den Bodensee.
Schon vor Jahrhunderten gab es in Reichenau Verbindungslinien in alle Himmelsrichtungen, die den Ort zur Drehscheibe machten, auch wenn es damals weniger eilig zu- und herging als heute. Eine Urkunde von 1399 erwähnt eine «Zollbrugg» über den Vorderrhein, 1 und 1424 taucht in einem Dokument eine «Brugg zu Rychenow» auf, die den früheren Übergang über den vereinigten Rhein, die Puntarsa bei Ems, ersetzte.2 Wann genau die Brücken erbaut wurden, wissen wir nicht, wohl aber, dass sie eine wichtige Rolle für den Verkehr der Ortschaften rechts und links des Rheins und des Bündner Oberlands mit Chur spielten und dass sie dem Import von Wein, Getreide oder Südfrüchten aus Italien und dem Veltlin nach Bünden und dem Transitverkehr zwischen der Eidgenossenschaft und dem deutschen Reich mit Italien dienten.
Tag und Nacht trafen damals Reiter, Saumpferde, Kutschen und Transportwägen in Reichenau ein, klapperten oder polterten über die beiden Holzbrücken und hielten beim Schloss an, um ihre Ware begutachten und verzollen zu lassen. Die einen fuhren gleich weiter, andere nutzten das Zollhaus, das zugleich Gasthaus und Herberge war, um sich auszuruhen. In der Schreinerei und der Schmiede, die seit dem 18. Jahrhundert hier angesiedelt waren, wurden Reparaturen an den Transportmitteln vorgenommen und im Schlossladen Vorräte oder sonstige für die Reise notwendige Gegenstände erworben. Zudem bestand Gelegenheit, Güter wie Wein, Reis und Tierfelle auf Flösse umzuladen und auf dem Rhein bis zum Bodensee zu verschiffen, ohne den schlecht erhaltenen, holprigen Strassen ausgeliefert zu sein.
1 — Friedrich Salathés romantische Sicht von der Farsch auf Reichenau und das Rheintal Richtung Chur, in Aquatinta gebracht von J. L. Bleuler. Erschien in der «Sammlung von Schweizer Ansichten in verschiedenen Zusammenstellungen» bei Locher in Zürich (um 1845).
Sämtliche Passanten mussten den Brückenzoll entrichten, sogar wenn sie weiter oben, bei Fürstenau, den Rhein passierten, die Reichenauer Brücken anderswo umgingen oder mit Flössen, die in Bonaduz beladen wurden, an Reichenau vorbeizogen. Der Zoll war ein Privileg der Herrschaft, die für den Bau und die Instandhaltung der Brücken und Wuhren (Dämme) verantwortlich war. Noch 1796 musste ein Zöllner, der zugleich Gastwirt und Güterverwalter war, die Abgabe, die auf einem ausgeklügelten Tarif beruhte, überwachen.3 Er geriet mehr als einmal in Bedrängnis, weil viele Reisende sich weigerten, den vollen Betrag oder auch nur einen Teil zu entrichten, und sich auf Ausnahmeregelungen beriefen.4 Dennoch soll der Brückenzoll damals jährlich gegen 1000 Gulden eingebracht haben, 5 die alle Kosten reichlich deckten, zumal die umliegenden Gemeinden für den Brückenbau gratis Holz liefern mussten.6 Erst 1849 wurde dieser Zoll abgeschafft, aber noch 1879 musste der Eigentümer des Schlosses für den Unterhalt sorgen, gegen eine kleine Entschädigung des Kantons, obwohl die Brücken längst schon Teil des öffentlichen Strassennetzes waren. 1880 verschwand dieser alte Zopf und damit das letzte der feudalen Herrschaftsrechte, das auch die Bürger der Nachbargemeinde Tamins einbezogen hatte.
Ehedem bildete Reichenau einen Teil der Herrschaft Hohentrins. Die Herren von Hohentrins waren nach dem Brückenschlag bestrebt, sich durch Gebühren für ihre Auslagen zu entschädigen, und errichteten eine Zollstätte. Als die Burg Trins 1470 abbrannte, zogen Herrschaft und Verwaltung nach Reichenau um.7 1583 wurde die Herrschaft von Rudolf von Schauenstein erworben und 1616 kaufte sich die Gemeinde Trin von ihr frei. Das Restgebilde, zu dem neben Reichenau noch die Gemeinde Tamins gehörte, erhielt jetzt den Namen Herrschaft Reichenau oder Reichenau-Tamins.
Vermutlich bestand vor 1570 in Reichenau nur ein Zollhaus, das, wie schon erwähnt, später zugleich als Gasthaus diente; ein herrschaftliches Schloss wurde wohl erst nach 1616 gebaut.8 1742 ging Reichenau an Johann Anton Buol (1710–1771) über, der sich fortan Buol-Schauenstein nannte. Nach seinem Tod erbte sein Neffe Johann Anton Baptista von Buol-Schauenstein (1729–1797) den Besitz. Am 5. März 1792 verkaufte er Schloss und Herrschaft dem bereits erwähnten Handelskonsortium Bavier in Chur.
Über das Motiv dieses Verkaufs gibt es verschiedene Vermutungen. Geldknappheit könnte eine Rolle gespielt haben. Es wird auch gesagt, Buol-Schauenstein habe befürchtet, «einer blinden Volkswut zum Opfer zu fallen, denn die Gedanken der französischen Revolution hatten auch schon in Graubünden Anklang gefunden».9 Solche Behauptungen sind mit Vorsicht aufzunehmen. Gegen eine akute Verschuldung des Schlossherrn spricht der Umstand, dass die Kaufsumme nicht auf einmal bezahlt, sondern, nach einer grösseren Anzahlung, in jährlichen Raten, auf zehn Jahre verteilt, fällig wurde.
Mit ebenso guter Berechtigung lässt sich auf die berufliche und familiäre Situation hinweisen: Buol-Schauenstein, ein Bündner aus Sumvitg, war Churer Domherr und wurde nach Aufgabe des geistlichen Standes österreichischer Gesandter im Freistaat Gemeiner Drei Bünde, ein Amt, das er von seinem Vater übernommen hatte. 1791 verlor er das Vertrauen der Habsburger, wurde im Juli entlassen und sollte durch den österreichischen Beamten Baron Anton