Werner Ort

Die Schülerrepublik im Schloss Reichenau


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Sitzung einberufen, wenn eine Entscheidung anstand. Das war ein schwerfälliges Prozedere, wenn Entschlüsse rasch gefällt werden mussten. Wenn die beiden Bavier, die sich fast nur in Chur aufhielten, in einer Sache miteinander übereinstimmten, Tscharner aber nicht damit einverstanden war, so kam im besten Fall ein Patt zustande, falls Tscharner Vieli oder später Jost auf seine Seite ziehen konnte. Eine Mehrheit war nicht zu erwarten, solange die Kosten den kommerziellen Nutzen überwogen, und einen Losentscheid zu erzwingen schuf eine unmögliche Situation: Man konnte doch einen Entscheid von grösserer Tragweite nicht dem Zufall überlassen.

      Da die Bavier hauptsächlich ein geschäftliches Interesse an der Unternehmung oder «Entreprise» hatten, wie sie die Investition Reichenau auch nannten, gab es für Tscharner letztlich nur die Alternative, in der Opposition zu verharren oder sich das Einverständnis der beiden Bavier durch Einlenken in anderen Punkten zu erkaufen, falls er sie nicht von den Gewinnaussichten seiner Idee zu überzeugen vermochte. Auf keinen Fall durfte er die beiden Kaufleute verstimmen, wenn er etwas erreichen wollte.

      Wie schon als stiller Teilhaber der Speditions- und Handelsunternehmung war Tscharner auch in Reichenau in einer unterlegenen Position, und es ist ihm hoch anzurechnen, dass er sich mit so grossem Eifer und Engagement an die Errichtung des Seminars machte, die Leitung übernahm und sie trotz wachsendem Druck der Bavier und politischer Feinde beibehielt. In seinen «Reichenauer Notanda», die eine Hauptquelle für unsere Kenntnis des Seminars sind, hielt er in Stichworten seine hauptsächlichsten Ziele als Direktor des dritten Departements fest. Daraus geht hervor, dass er sich viele Überlegungen über die zukünftige Gestaltung der Herrschaft machte, so etwa über die Einrichtung einer Grundschule für Taminser und Reichenauer Kinder, sofern sie nicht das Seminar besuchten oder noch zu jung dafür waren, oder die Errichtung einer Armen- und einer Kreditanstalt.49

      Tscharner verband mit der Herrschaft Reichenau vorab ideelle Absichten, wollte Bildungs-, soziale und kulturelle Institutionen errichten, wie er sie auch für Chur gefordert und teilweise umgesetzt hatte.50 In Chur war er Mitglied des Schulrats und bis 1786 Schulpräsident gewesen, 1786 Gründer der Armenanstalt und bis 1794 deren Präsident. Freilich hatten solche Pläne in Reichenau und Tamins wenig Aussicht auf Erfolg. Aber Tscharner war Sozialreformer aus Leidenschaft, und wenn er soziale Not oder schlechte Schulen sah, so machte er sich prinzipielle Gedanken, wie dem abzuhelfen sei. Schon in Jenins, wo er einen grösseren Landbesitz besass und für seine Söhne und Bekannte eine Familienschule gegründet hatte, stellte er Überlegungen an, sie auch Kindern aus dem Dorf zugänglich zu machen, falls die Gemeinde sich daran finanziell beteiligen würde.

      Tscharner, als Mann vor Ort, zuständig für Urbar und Archiv, Herr über alle Urkunden mit Verträgen mit dem Oberen (oder Grauen) Bund und den Gemeinden Tamins, Ems, Bonaduz und Felsberg, den Angestellten, Lehrern und anderen, 51 nahm sich vor, die Dokumente, die mit der Herrschaft, ihrem Eigentum, ihren Rechten und Pflichten zu tun hatten, zu sammeln, zu systematisieren und gründlich zu erforschen und alle künftigen Belange aufzuzeichnen und festzuhalten.52 Er gab sich gewissermassen selbst die Instruktion, was in den auf Dutzende Bände angelegten Archivbestand aufzunehmen sei.

      So sollte der erste Teil eines Urbars – auf feinem Regalpapier in Folio, in Leder gebunden – genau vermessene Landkarten, Pläne und Grundrisse, Kopien sämtlicher Kaufbriefe, Konventionen, Sentenzen (Rechtsurteile), Reverse (Verpflichtungen), Rödel (Aktenverzeichnisse), Briefe und Missiven umfassen. Ein zweiter Teil sollte eine Sammlung aller Bestandteile und Rechte enthalten, so die vom Bund verbrieften

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      3 — Tscharners Federskizze der Schlossfassade Reichenau, um 1793.

      1. Souveränitätsrechte;

      2. Landeshoheitlichen Rechte; das Münzrecht;

      3. die hohe Gerichtsbarkeit;

      4. die niedere Gerichtsbarkeit;

      5. alte und neue Domänen;

      6. den Privatbesitz, «wo dann bei jedem Stück, abteilungsweise, alle Teile abzuhandeln, und bei den Gütern alle iura und Servituten zu erzählen [= aufzuführen] sind».53

      Vorbild für dieses Urbar des Privatbesitzes war ein anderes, das Tscharner für sein Landgut in Jenins erstellt hatte. Wiederum ist zu bedauern, dass wir weder die Urkunden noch Kopien kennen. Andererseits ist noch lange nicht gesagt, dass Tscharner in der projektierten Breite und Tiefe vorging, da sich die politischen Ereignisse bald überstürzten und dem ruhigen Aufbau und der Pflege der Herrschaft in die Quere kamen. Immerhin besitzen wir am Anfang seiner privaten «Reichenauer Notanda» seine mit Reissblei skizzierten und mit Tusche nachgezeichneten Grund- und Aufrisse der Gebäude mit Angabe der bisherigen und geplanten Nutzung. Wir werden uns daran zu halten haben, sind uns aber bewusst, dass es sich um eine Momentaufnahme handelt, zu der sich im Laufe der Zeit Veränderungen ergaben, von denen wir nur zum Teil Kenntnis haben.

      Den Auftakt der «Reichenauer Notanda» bilden Grundrisse des Schlosses, der verschiedenen Stockwerke vom Keller bis zur Mansarde und des Galerieflügels, alles sehr roh und ungefähr gezeichnet, so dass die Skizzen höchstens dem Herrschaftsrat und Tscharner als Bestandsaufnahme und Grundlage für die Einteilung dienten, nicht aber einem Baumeister oder Handwerker für die erforderlichen Umbauten. Es folgt eine ebenso rohe, für uns jedoch aufschlussreiche Zeichnung der Schlossfassade von der Strassenseite (im Westen) aus, die uns die Anordnung der Gebäudeteile vor dem Umbau zu dem heute noch bestehenden «klassizistischen Denkmal» von 1820 zeigt.54 Manche Details dieser groben Skizze waren bisher unbekannt, da die künstlerischen Darstellungen Schloss und Umgebung aus einiger Entfernung zeigen, meist vom gegenüberliegenden Rheinufer aus.

      Der Kunst- und Architekturhistoriker Erwin Poeschel beschreibt das Schloss, wie es sich vor Mitte des 18.Jahrhunderts präsentierte: «Das Herrenhaus ist hier ein breiter Bau mit Krüppelwalmdach, im Umriss ähnlich dem alten Westtrakt von St. Margarethen in Chur, wie wir ihn aus Abbildungen kennen. […] Der ganze, zwanglos aneinandergewachsene Komplex wird zusammengehalten von einem dem Herrenhaus zugehörigen, beherrschenden Turm mit Zwiebelhaube.» Und kurz nach 1755: «Der Turm bleibt noch; das Schloss aber bekommt eine regelmässig gegliederte Fassade und ein gebrochenes, französisches Dach.»55

      Äusserlich fehlte dem Schloss, bis auf den Turm, 1792 noch weitgehend herrschaftlicher Glanz und Gepräge. Es war, asymmetrisch und unharmonisch proportioniert, ein längliches Gebäude von 39 auf 13 ½ Metern, bis unter das Dach 9 Meter hoch, wenn wir uns auf Tscharners Angaben stützen.56 Es lag in der Verlängerung der grossen gedeckten Brücke über den vereinigten Rhein an dem Strässchen, welches das Schloss vom annähernd quadratischen Schlossgarten trennte. An der Nordseite des Schlosses kreuzte dieses Strässchen ein zweites, das von der Brücke über den Hinterrhein, auch Bonaduzerbrücke genannt, weiter gegen Osten führte und am Ufer des Rheins endete. Südlich der Kreuzung, gegenüber dem Schloss, befand sich das Zollhaus mit Sust (Warenlager), Küche und Wirtsstube im Erdgeschoss, Letztere im Anbau, darüber der Speisesaal und mehrere Gästezimmer. Zwischen Zollhaus und Schloss versperrte ein Tor die Strasse, so dass niemand die gedeckte Brücke passieren konnte, ohne anzuhalten und vom Schloss und der Zollstube her gesehen zu werden.

      Falls man Tscharners Zeichnung trauen kann, hatte das Schloss auf der Frontseite im Westen zehn Fensterachsen auf drei Stockwerken. Beim Erdgeschoss ist der obere Teil von fünf Bogenfenstern sichtbar, die auf Gewölbe des teils unter die Erde versetzten «plein-pied» deuten. Dort befanden sich Bäcker, Metzger, ein Gemischtwarenladen und die Schreibstube. Der Rundturm – für den Tscharner eine Höhe von 59 Bündner Schuh oder annähernd 18 Meter bis zur Kuppel angab, 57 der also das Schloss deutlich überragte, und einen Durchmesser von 4, 5 Meter besass – barg das Treppenhaus und befand sich zwischen der dritten und vierten Fensterachse, zur Hälfte ausserhalb der Schlossmauer, neben dem grossen Tor. Den oberen Teil des sechseckigen Turms mit seinen zweistöckigen Fenstern bildete ein Blechdach, überwölbt von einer zwiebelförmigen Haube, die eine eiserne Spitze vermutlich als Blitzableiter trug.

      Der