Buol oder Tscharner nichts Aussergewöhnliches, aber Tscharner zeichnete sich dadurch aus, dass er sich, einmal ernannt, tatsächlich für das Wohl des Volks einsetzte und verantwortungsvolles Handeln und Reformen über die alten Herrenrechte stellte. Nur beim Machterhalt blieb er der herkömmlichen Politik verhaftet, die sich machiavellistischer Werkzeuge der Bestechung und des Schacherns, des Ausbootens von Gegnern, der Beeinflussung der Wähler durch Intrigen, Stimmungsmache und Polemik bediente, wenn auch bei Tscharner in innerlicher Distanz. Als hauptsächlichen Widersacher und Bedrohung für den Staat sah er die Familie der Salis und ihren Hauptexponenten Ulysses von Salis-Marschlins an, den einflussreichsten Mann Bündens. Um dessen Vormachtstellung zu brechen, gründete Tscharner mit Gesinnungsgenossen den Patriotenbund, scharte Gegner der Salis um sich und übernahm 1787 die Führung.72 Das war jene verhängnisvolle Bündner Politik, die sich von der Fehde zwischen Familien bestimmen liess und dabei die eigentliche Aufgabe, eine konsistente und kluge Innen- und Aussenpolitik zu verfolgen, allzu oft aus den Augen verlor. Tscharner stand im Übergang des traditionellen Bündner Machtpolitikers und Chefs eines Familienclans zum modernen, aufgeklärten Staatsbeamten mit sozialreformerischen Zielen. Erst die Kantonsgründung 1803 beendete dieses Dilemma, aber da war Tscharner schon nicht mehr politisch aktiv.
VORLÄUFER DES SEMINARS
Seine Sicht auf die Welt hatte Tscharner wesentlich jener Schule zu verdanken, die zur Vorgängerin und zum Vorbild Reichenaus wurde: dem Seminar Haldenstein. Mit zwölf Jahren trat Tscharner dort ein, nachdem er zunächst die Stadtschule Churs besucht hatte und auch privat unterrichtet worden war.
Das Seminar Haldenstein war 1761 von zwei ehemaligen Hauslehrern, dem Unterengadiner Pfarrer Martin Planta (1727–1772) und dem etwa gleichaltrigen Johann Peter Nesemann (geboren vermutlich 1726 in Bahrendorf bei Magdeburg, gestorben 1802 in Chur), begründet worden; Tscharner blieb von 1763 bis nach Neujahr 1768 dort. In seinen Kindheitserinnerungen schrieb er: «Frühe schon äusserte sich bei mir Freiheitssinn und Vaterlandsliebe, frühe der Sinn für Gerechtigkeit und bürgerliche Ordnung, frühe der Hass gegen Anmassungen, Liebe zu öffentlichen Verträgen, Trieb zum Verbessern und Vervollkommnen alles dessen, was zu meiner Kenntnis kam. […] Auf der Schule zu Haldenstein hatte man die Zöglinge zu einer römischen Republik konstituiert. Ich war immer mit irgend einer Würde bekleidet.»73
Ähnlich äusserten sich später auch andere Schüler Haldensteins, die in der Politik eine Rolle spielten, so der Waadtländer Politiker Frédéric César de Laharpe (1754–1838), Erzieher von Zar Alexander I. und 1798, in einer Umbruchzeit der Schweiz, Präsident der helvetischen Direktorialregierung. Er war ein Förderer und Freund Heinrich Zschokkes, dem er seine autobiografischen Notizen anvertraute. Laharpe kam kurze Zeit nach Tscharners Austritt nach Haldenstein und blieb bis 1771, als Ulysses von Salis-Marschlins das Seminar unter seine Fittiche nahm und in sein Schloss Marschlins verlegte.
In Haldenstein sei sein erster Entwurf für eine moderne Schweizer Verfassung entstanden, die das alte Ständewesen ersetzen sollte, schrieb Laharpe.74 Gefördert wurden diese Ideen durch den Geschichts- und Philosophieunterricht Nesemanns, der die Schüler in allgemeines Naturrecht und im Geschichtsunterricht in die Welt des antiken, vorkaiserlichen Roms einführte. Die Schüler übernahmen verschiedene altrömische Ämter wie die eines Konsuls, Prätors, Volkstribuns, Quästors oder Senators, hielten Reden, in denen sie «die Pflichten der obrigkeitlichen Personen und der Untergebenen, die Tugenden und Laster der Jugend» und «andere nützliche Wahrheiten» darstellten. Jeden Samstag wurde in einer Art Tribunal das Verhalten der Mitschüler beurteilt, wobei stets auf Unparteilichkeit, Fairness und die Einhaltung juristischer Formen Wert gelegt wurde.75
Von Tscharner hat sich im Nachlass eine Rede aus Haldenstein über den politischen Ehrgeiz und über die Pflichten der Oberen und Untertanen erhalten.76 Gerne erinnerte er sich an die sechs Jahre im Seminar.77
«Den grössten Nutzen schöpfte ich zu Haldenstein im Seminario. Hr. Nesemann lehrte uns denken, das Gedachte ordnen und in gewählten Ausdrücken schriftlich und mündlich vortragen, in Logik, Redekunst, Geschichts-Einleitung p.78 Hr. Planta gab uns Richtung, Festigkeit und Gründlichkeit durch die reine und angewandte Mathematik und durch die Experimental-Physik. Beide beaufsichtigten die Unterlehrer und unsre Conduite.79 Wir waren wohlgenährt, reinlich besorgt, unter steter Aufsicht, hatten zwar täglich 8 Lehrstunden; und herrschte darin aber eine solche Abwechslung, ein solches Interesse, so zweckmässige Zwischenbewegung, so zeitige Unterbrechung und Erholung durch Spaziergänge, Spiel, Arbeiten (z. B. von Papparbeit, Glasschleifen), dass unsre Gesundheit dadurch so wenig litt als unser Frohmut. Und ob wir schon keinen Augenblick ohne Aufsicht waren, so nahmen nicht nur die Unterlehrer, sondern die Professoren selbst jugendlichen Anteil an unsern Spielen, dass uns kein Unterricht ermüdete. Wir wurden dabei durch Aufführung von Schauspielen und Bildung einer Republik zum bürgerlichen Leben und zur Welt angewöhnt. Kurz ich verehre die 2 Stifter und Direktoren, deren der eine unsre Liebe und der andre unsre Hochachtung im hohen Grad zu fesseln verdiente und verstand, noch unter der Erde, und danke ihnen nächst Gott und meinem lieben Vater alles, was ich bin. Diesen Dank sind ihnen auch bald alle verdienstvollen Bündner meiner Zeit schuldig, wenn schon einige durch nachherige politische Verhältnis dem republikanisch gesinnten Nesemann nicht gewogen blieben.»80
Für seine eigenen und einige Söhne von Freunden liess Tscharner die republikanische Erziehung von Haldenstein 1786 auf seinem Landgut in Jenins wieder auferstehen, dachte aber bereits 1790 an eine Schule für ganz Bünden, eine Nationalschule, die den Gegebenheiten und Erfordernissen des Landes gerecht werden sollte. Als Schüler wurden Jünglinge aus dem Adel und anderen vermögenden Familien ins Auge gefasst, denen später Stellen im Staat in Aussicht standen. Seine weitgesteckten Ziele hielt Tscharner in einem langen Memorandum fest, das er «Plan der von Tscharnerischen Familien-Schule zu Jenins» nannte.81 In einer Eingabe vom September 1789 an den Bundstag versuchte er die Abgeordneten der Drei Bünde zu überzeugen, wie nützlich eine solche Schule dem Staat werden müsse. Hier ein Auszug:82
«Mancherlei sind die auswärtigen und inländischen Schulen und Privatunterrichte, welche bündnerische Jünglinge zu besuchen pflegen. Die Sprache, die Rechenkunst, die allgemeine Geschichte und Geographie nebst mehreren Schulkentnissen werden in diesen Schulen gelehrt und die Knaben zu guten Mitbürgern gebildet.
Aber nirgends werden unsere Söhne insbesondere zu Bündnern gebildet und recht eigentlich für unser Vaterland erzogen.
Nirgends werden sie in der Spezialgeschichte von Graubünden lehrreich unterrichtet, welche doch vorzüglich jeden freien Bündner in den Stand setzen würde, aus der Erfahrung des Vergangenen auch die gegenwärtigen und zukünftigen Standesangelegenheiten, ohne fremde Leitung, gründlich zu beurteilen.»
Daneben studierte Tscharner die wichtigsten pädagogischen Werke und arbeitete Unterrichtskonzepte aus. Mangels Nachfrage und finanzieller Mittel liess sich davon nicht viel realisieren. Die Zahl der Schüler in Jenins, die von einem Hauptlehrer und, wie es scheint, meist von nur einem bis zwei wechselnden Unterlehrern betreut wurden, schwankte zwischen acht und zwölf.83 Lehrreich waren mehrtägige sommerliche Fussreisen durch verschiedene Gegenden des Landes, 84 bei denen Tscharner seinen Schülern die Geschichte der bereisten Orte erzählte, ihnen die Verfassung der Gemeinden auseinandersetzte und sie auf die Mängel in der Kultur des Landes aufmerksam machte. «Wohl selten dürften Schüler von ihren Reisen eine so grosse geistige Bereicherung heimgetragen haben, wie die der Jeninser Anstalt.»85
Im Mai 1794 sah Tscharner eine Gelegenheit, seinen Vorschlag einer höheren allgemeinen Landesschule der in Chur tagenden Standesversammlung der Delegierten aller Drei Bünde und im August auch dem Volk erneut vorzulegen. Von der Standesversammlung wurde diese Initiative begrüsst, von den Gemeinden aber, wie nicht anders zu erwarten, verworfen.86 Nach ihrer Auffassung war es zweckmässiger, für eine Verbesserung der Dorfschulen zu sorgen, statt eine Mittelschule zu schaffen. Um die höhere Ausbildung sollten sich die Herren, die für ihre Söhne eine Karriere bestimmten, selber kümmern. Tatsächlich entstand in Graubünden erst 1804 ein öffentliches Gymnasium. Zuvor mussten die Jünglinge ins Ausland gehen oder eine der wenigen Privatschulen besuchen.