einsozialisiert sind, dass es massiver Impulse bedarf, uns hier zu Alternativen zu drängen. Diese Impulse werden uns, so GS 44, von unserer Gegenwartsgesellschaft geliefert, und genau das ist ja überhaupt der Initialpunkt für die Einberufung des Konzils gewesen. Natürlich haben sich seit den frühen 1960er Jahren die damaligen Problemanzeigen radikalisiert: etwa unsere Unfähigkeit heute, unseren Glauben so zu versprachlichen, dass unsere Kulturen diesen nicht nur als diskutabel, sondern sogar als attraktive biografische Option bewerten; unsere anthropologische Ratlosigkeit gegenüber den Durchbrüchen in Biotechnologie, Apparatemedizin oder Robotertechnik; unsere behördliche Schwerfälligkeit, neu entstehenden Stilen von Partnerschaft, Lebensführung, Konsumverhalten oder ästhetischer Selbstbestimmung Vertrauen zu schenken; unser Stress, in den großen moralischen Fragen unserer Zeit wie Armut, Abtreibung, Umweltzerstörung und Waffenhandel aus der Rolle der Moralistin herauszukommen und mit den anderen Kräften der Humanisierung wirksam allianzfähig zu werden; usw.65
Die Ausgangslage heute ist jener der Konzilszeit ähnlich. Wenn dem aber so ist, und wenn die Neuheit theologischer Erkenntnis prominent über Kulturkontakte gewonnen werden kann, dann muss eine neue Verhältnisbestimmung zur Gegenwartsgesellschaft gefunden werden. Und dies muss eine sein, die auch den gesellschaftlichen Ort der Kirche selbst verändert. Dann muss Kirche neu zur Welt kommen. Das war und ist das Projekt von Gaudium et spes. Integralistisch ist dabei die Idee, die Gegenwartsgesellschaft sei quasi die öffentliche Abholstelle des Paketes, das die Kirche mit Offenbarung vollpackt und freundlicherweise an ihre Kulturen adressiert. Wer so tut, als hätte man etwas, was die anderen nicht haben (können); wer die Welt so modelliert, dass alle Anderen entweder auf diese exklusive Leistung warten oder im Falle des Nichtwartens defizitär sind; wer sich selbst ein Sonderwissen zuschreibt und nicht verständlich machen kann, woher er das hat und warum nur er es empfing, der steht im Verdacht, Integralismus zu brauchen, weil er Pluralität nicht akzeptiert oder nicht aushält.
Also ist die systematisch-theologische Herausforderung eine erkenntnistheoretische.66 Die These von GS 44, dass die für die Kirche identitätsstiftende Erkenntnis des Offenbarungswillens Gottes geschichtlich verfasst ist67 und nicht ohne wechselseitige kulturelle Lernprozesse vollständig sein kann, bedeutet bis heute ein enormes Forschungsprogramm für die Ekklesiologie, die Offenbarungstheologie oder den interreligiösen Dialog. Interessanterweise hat aber die nachkonziliare Theologiegeschichte die Kulmination der Herausforderung in der theologischen Anthropologie gefunden. In der Freiheitsphilosophie der Neuzeit und der unhintergehbaren Freiheitssignatur modernen Lebens sieht ein wesentlicher Teil der Theologie ab 1965 den entscheidenden Startpunkt auch für die Gotteslehre.
Insofern ist das Programm von GS 44 im Folgenden mit dem Traktat aktueller theologischer Anthropologie zu kontrastieren. Dies liegt auch insofern nah, als ja die ganze Pastoralkonstitution selbst anthropologisch aufgehängt ist (vgl. nur Nr. 3, 45 f, 91). Zum anderen kann auch die Milieutheorie als Ethnologie betrachtet werden, die wiederum eine Unterwissenschaft der Kulturanthropologie darstellt.
Das Ziel des folgenden Kapitels ist damit dreifach: Die theologische Dignität einer pastoralsoziologischen Aufnahme der Milieuforschung soll weiter begründet werden; der als unhintergehbar ausgewiesene Übergang integraler zu pluraler theologischer Argumentation wird weiter plausibilisiert; und die Notwendigkeit soziologischen Differenzierungsdenkens (Anthropologie als Ethnologie) soll aufscheinen. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Es wird sich zeigen, dass wichtige gegenwärtige Ansätze theologischer Anthropologie zwar dahin drängen, den Menschen als jemanden zu zeigen, der in den Gesten seiner freiheitlichen Lebensführung Signale sendet, die über seine reine Daseinsbewältigung hinausweisen und daher transzendent zu deuten sind. Trotzdem verbleiben die meisten Theologien weiter bei der These eben ‚des Menschen‘, also einer integralen Perspektive, die die Differenz der realen ‚Leute‘, ‚Leben‘ und ‚Kulturen‘ gerne auf eine essentialistische Folie bringen. Dies führt dazu, dass man im Wesentlichen, Allgemeinen, Prinzipiellen stehenbleibt – wodurch unklar wird, wie der reale Beitrag wechselseitiger kultureller Kommunikation zur ‚angepassten Predigt‘ aussieht. Es ist ja hilfreich zu hören, dass ‚der Mensch‘ in seinen Alltagsgesten seine auch religiös bestimmbare ‚Freiheitssehnsucht‘ ausdrückt. Aber wie genau macht er das? Welcher Mensch, welche Freiheit? Und welche Signale? An wen? All dies wäre im Sinne von GS 44 wichtig zu wissen; es bleibt aber unbestimmt, denn die Antworten auf diese Fragen kann kirchliche Erkenntnis nicht aus sich heraus – also aus Schrift, Tradition, Lehramt usw. – generieren. Soll theologisch-anthropologisches Sprechen nicht im Ungefähren stehenbleiben, benötigt es eine doppelte Hilfe: Sie muss sich konsequent auf die Standards pluraler, das heißt kontingenter Wissenschaft einlassen; und sie muss neugierig sein auf spezifisch empirische Forschungsdesigns und ihre Ergebnisse.
65 Eine ausführliche Bestimmung heutiger (hoffentlich) theologieproduktiver ‚Zeichen der Zeit‘ bietet Hünermann 2006a.
66 Dies ist bei Rahner sehr klar auf den Punkt gebracht. Wer seine hier bereits zitierten Aufsätze liest, bemerkt, dass Rahner die neue Situation der Theologie nach dem Konzil als genuin erkenntnistheoretische Anstrengung präzisiert. Auch Rahners Widerstand im Entstehungsprozess von Gaudium et spes war über weite Strecken von speziell erkenntnistheoretischer Skepsis geprägt; vgl. oben Anm. 19.
67 Dazu Hünermann 2006b; ein Text, der die Neuheit der Konzilstheologie des Vatikanum II gegenüber der des Vatikanum I gerade wegen der akzeptierten radikalen Vergeschichtlichung des Glaubens aufzeigt: Theologie wird zur ‚interpretatio temporis‘ und verbleibt damit im Raum der immer zweideutigen kulturellen Zeichen.
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