Matthias Sellmann

Zuhören - Austauschen - Vorschlagen


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       2.6 Akkomodation als pastoraltheologischer Dreischritt

      Schaut man genauer hin, wie sich GS 44 den Prozess der Akkomodation vorstellt, erkennt man eine Dreigliedrigkeit des Vorgehens. Der Text bietet erstens Verben des Wahrnehmens wie ‚hören‘, ‚erfassen‘ oder ‚erkennen‘. Zweitens dominiert das ganze Wortfeld der reflektierenden In-Beziehung-Setzung: ‚empfangen‘, ‚erschließen‘, ‚erhellen‘, ‚Austausch‘, ‚unterscheiden‘, ‚deuten‘, ‚beurteilen‘. Drittens finden sich Verben der Artikulation: ‚anpassen‘, ‚ausdrücken‘, ‚Fähigkeiten wecken‘, ‚verkünden‘, ‚fördern‘. Nimmt man einen Schlüsselsatz heraus, können alle drei Vollzüge komprimiert als der eine Prozess der Akkomodation erkannt werden: „Es ist jedoch Aufgabe des ganzen Gottesvolkes, vor allem auch der Seelsorger und Theologen, unter dem Beistand des Heiligen Geistes auf die verschiedenen Sprachen unserer Zeit zu hören, sie zu unterscheiden, zu deuten und im Licht des Gotteswortes zu beurteilen, damit die geoffenbarte Wahrheit immer tiefer erfaßt, besser verstanden und passender verkündet werden kann.“

      Natürlich wird man an die bekannte Trias ‚sehen – urteilen – handeln‘ erinnert. Und da die ganze Konstitution Gaudium et spes gemäß diesem Schema aufgebaut ist, kann der Befund wenig verwundern. Trotzdem liegen in GS 44 Wort-Akzente, die eine höhere Auflösung des Gemeinten versprechen und die außerdem der Gefahr der doch sehr eingeschliffenen Assoziationskette des ‚sehen-urteilen-handeln‘ entgehen.50 Der im Folgenden unterbreitete Vorschlag, im Anschluss an GS 44 von ‚zuhören‘, ‚austauschen‘ und ‚vorschlagen‘ zu sprechen, hat daher nicht den Anspruch, das bekanntere Schema ersetzen zu wollen. Wohl aber ist er stärker als ‚sehen-urteilen-handeln‘ verkündigungsorientiert; und er ist erkennbarer von größerer Vorsicht getragen, der im vorhergehenden Abschnitt skizzierten modernen Pluralitätssituation zu entsprechen. Dies wird vor allem deutlich, wenn wir uns der Kraft des lateinischen Originaltextes zuwenden, die nur eher behelfsmäßig im Deutschen aufscheinen kann.

       auscultare: abhorchen, zuhören

      Die Verbfamilie des ‚Wahrnehmens‘ in GS 44 wird durch das Wort des ‚Hörens‘ gut repräsentiert. Die Aufforderung lautet, auf die verschiedenen Sprachen der gegebenen Zeit und der gegebenen Leute zu hören. Der Originaltext verwendet hier das Verb ‚auscultari‘. Es steht für ein sehr intensives Zuhören, ein angestrengtes, eifriges Hinhören, ja: ein Ab- und Aushorchen. Jeder, der mit seinem Kind schon einmal bei der Ärztin war, kennt die ‚Auskultation‘: Das ist medizinisch der Vorgang, in dem sie das Stethoskop an Brust oder Rücken legt, um die Herz- oder Lungenaktivitäten abzuhören. Der Sinn ist ein diagnostischer: Die Ärztin will Störgeräusche von Normalgeräuschen unterscheiden können.

      Ein faszinierendes Bild: Das Volk Gottes, besonders die Seelsorger und Theologen, legen ihr Stethoskop an Herz und Lunge ihrer Zeit und strengen sich an, jedes noch so kleine Geräusch auszukultieren. Wie eine intensiv abhorchende Hausärztin sollen auch sie ihre Zeit, ihre Kultur, ihre Umgebung ‚aushorchen‘ – dies aber nicht in spionierendem, entlarvendem, überführendem Interesse, sondern diagnostisch. Es geht um ein ‚gehorchen‘ auf das, was im sonoren Rauschen des Alltages auffällt, stört, zur Reaktion ruft. Die pastoralen Fragen lauten: Was ist hier gerade der Fall? Was klingt normal, wo sind Störgeräusche? Wer signalisiert was und zu welchem Zweck? Übrigens kennt Gaudium et spes noch eine zweite Metapher, die an medizinische Diagnostik erinnert. In der bekannten Nummer 1 geht es um die Freude, Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen, die immer auch die der Jünger Christi sind. Denn: „Es findet sich nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihrem Herzen widerhallte [resonat].“ Hier steht das lateinische Wort: resonare und dieses kann unschwer in der medizinischen Sonografie (populär: Ultraschall) wiedererkannt werden. Ein Schallimpuls wird ausgesendet, damit er abstrahlt, ein Echo findet und somit eine Antwort, die auf ihn wieder zurückkommt. Auch wenn dies passiver ist als das aktive auscultare in GS 44, so ist auch GS 1 von dieser typisch kontextsensiblen Haltung der Jünger Christi geprägt. Und wiederum gibt es einen Konnex dieser Haltung auf die Offenbarungskonstitution ‚Dei Verbum‘. In deren Nummer 8 ist vom Heiligen Geist die Rede, „durch den die lebendige Stimme des Evangeliums in der Kirche und durch sie in der Welt widerhallt [resonat].“ Die Kirche soll sozusagen das Echo des Geistes in der Welt sein, sein Widerhall, sein Schallraum, seine akustische Sonde.51 Es gibt eine „Resonanzpflicht“ der Kirche, schreibt der Pastoraltheologe Erich Garhammer.52 ‚Auscultare‘ und ‚resonare‘ – zwei Umschreibungen derselben Haltung, die das bekannte Begehren des jungen Salomo – „Verleih Deinem Knecht ein hörendes Herz“ (1 Kön 3,9) – von der vertikalen in die horizontale Ebene wendet. Nach GS 44 hat eine Kirche, die wieder jung werden will, ein hörendes Herz für den Kontext, dessen Teil sie selber bildet.53

       ‚vive commercium‘: austauschen, deuten, empfangen, unterscheiden

      Auch die Benennung des zweiten Vollzuges der Akkomodation überrascht: Zweimal ist im Text vom commercium die Rede, dem Austausch. Gerade durch die Kontextanpassung wird der lebendige Austausch zwischen Kirche und Kulturen gefördert. Und zur Steigerung des Austausches bedarf die Kirche der Hilfe jener Welt-Experten, die die Verhältnisse, Fachgebiete und Mentalitäten ihrer Kultur gut kennen, seien sie gläubig oder ungläubig.

      Gute Pastoral ist also kommerziell, könnte man sagen. Dies gilt ganz sicher nicht im Sinne der Produktion benachteiligter Opfer in einem ungebändigten Kapitalismus. Wohl aber gilt es in der Tauschgesinnung, die echten Kommerz auszeichnet. Immerhin kommt das Wort ja von diesem Sinn her. Es lohnt sich, hierüber kurz zu reflektieren. Denn wiederum, wie schon beim auscultare, wird beim commercium, dem Austausch, eine pluralitätskompatible Sprache erreicht – entschieden stärker übrigens als bei dem Begriff ‚urteilen‘ der bekannten Trias. Austauschen hat ja als Vorgang zur Voraussetzung, dass sich erstens Partner auf Augenhöhe treffen und beide zweitens Waren anzubieten haben, die zueinander wertparitätisch sind. Drittens kommt hinzu, dass niemand zum Tausch gezwungen ist, sondern entweder auf das Geschäft verzichtet oder andere Tauschpartner aufsucht. Der Austausch ist damit – natürlich hier idealtypisch gesehen – ein Akt und ein Ort der Freiheit.

      Diese Einsichten wandeln die latent einseitige Assoziation des ‚Urteilens‘ in ein neues, nämlich wechselseitiges Verständnis: Man kann sagen, dass im Austausch gerade die Interaktion eine neue Qualität erst schafft, die jenseits des Tausches gar nicht existent war. Der Tausch aktualisiert nicht nur die Werthaftigkeit der einzelnen zu tauschenden Dinge, er aktualisiert auch die Werthaftigkeit der tauschenden Subjekte. Jeder, der schon einmal in einem Land wie Kamerun dachte, er sollte als Europäer aus Höflichkeit, Gerechtigkeit oder einfach Eile auf zeitaufwändige Bazarverhandlungen verzichten und einfach in den vom Verkäufer erstgenannten Preis einwilligen, weiß, wovon hier die Rede ist. Man beschämt den Anderen, weil man ihn offenbar der Verkaufsinteraktion für unwürdig befindet. Verhandelt wird der Subjektstatus der Tauschpartner und als Symbol dafür dient die Ware.

      Was bedeutet dies im Übertrag für die Pastoral einer akkomodierenden Kirche? Wieder sind die Konsequenzen beträchtlich. Denn auch in der Begegnung von Kirche und Kontext soll Wertparität herrschen – und zwar real, nicht simuliert. Im Klartext: Die umgebende Kultur hat der kirchlichen Selbstverständigung Inhalte und Stile anzubieten, die diese erstens real benötigt und zweitens nicht aus sich heraus erbringen kann. Natürlich hat die Kirche eine große Botschaft, in deren Dienst sie steht. Dass Liebe möglich sein soll, dass man gewaltfrei leben kann, dass da ein Gott ist, dessen Verehrung friedlich und kreativ macht – all das ist äußerst sagenswert. Aber auch die Anderen haben Themen, Weisheiten, Botschaften. Auch sie haben Ideen über gelingendes Leben, Glück und Heil. Pastorales commercium heißt: Tauschen wir uns aus über das, was wir dem ‚Leben‘ an Sinn, Logik, Rationalität oder Rätselhaftigkeit abringen können. Trauen wir dem post-, nicht- oder anonymchristlichen Gesprächspartner zu, dass er nicht nur irgendeine, sondern eine wichtige Botschaft für uns hat. Suchen wir weniger zu verändern, als selbst verändert zu werden. Wechseln wir aus dem Pädagogik- oder Didaktikmodus in den der realen Wechselseitigkeit