Matthias Sellmann

Zuhören - Austauschen - Vorschlagen


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Prozess, der alle Geschehenspartner involviert und anfordert und niemanden unverändert hinterlässt – und ist eben keine Nachlassverwaltung eines bereits definierten Erbes, das keinen Außenweltkontakt mehr vertrüge. Tradition ist ein paradoxes Verb: die Entdeckung der je neuen Neuheit dessen, was der gegenwärtige Gott in seinem Geist je heute wirken will. Die konstitutive Hinwendung zum Kontext fügt der restfreien Selbstmitteilung Gottes in Jesus Christus nichts hinzu; sie vollzieht die Grundbewegung dieser Selbstmitteilung aber prozessual nach; und sie macht sie erst zur Mitteilung, das heißt: Ohne den Kontextbezug bleibt eine als Kommunikation verstandene Offenbarung reine Information. Zur echten Mitteilung wird sie erst über das Aussetzen ihrer selbst in einen externen Verstehenshorizont.29

      Diese Idee: dass der christliche Glaube sich erst findet, wenn er sich von seinem externen Kontext her neu sieht und empfängt, ist die Leitperspektive dieses Buches. Die Milieus der Deutschen werden als Kontexte modelliert, an denen und von denen her Pastoral selbst neu lernen kann, was ihre Begriffe und Rituale überhaupt bedeuten wollen. Erst die Dezentrierung, die risikofreudige Selbsttradierung an ihre kulturellen Kontexte verschafft kirchlichem Sprechen neues Erkennen und Verstehen der Botschaft, die sie nach diesen Durchgängen wiederum in ihre Kultur hinein verkünden soll.

      Das Konzil selbst wollte dieses ‚aggiornamento‘ des Gottesgeistes nachgehend bedenken und ausformulieren. Darum muss auch die Rezeption der Konzilsaussagen von einer „Hermeneutik der Erneuerung“ gekennzeichnet sein, wie Kardinal Walter Kasper dies in seinem jüngsten Buch benennt.30 „Reform bedeutet demnach nicht nur Rückführung auf den Ursprung oder auf eine frühere als authentisch angesehene Traditionsgestalt, sondern Erneuerung, damit das Alte, Ursprüngliche und Bleibend Gültige nicht alt aussieht, sondern in seiner Neuheit neu zur Geltung und zum Leuchten kommt.“31

      Das Alte nicht alt aussehen lassen – „das Alte neu sagen“32: Das ist die herausfordernde Aufgabe, die speziell der Pastoraltheologie zukommt. Sie muss hierzu eine Methode finden, die die beiden Brennpunkte der Ellipse aufzunehmen vermag: den Kontext und das bisherige Wissen um den Glauben.33

       2.2 Gaudium et spes 44

      Kein Text des Konzils eignet sich hierzu besser als die Nummer 44 der Pastoralkonstitution Gaudium et spes. Nur wenige Stellen des gesamten Textmaterials des Konzils gipfeln die kulturhermeneutische Wende der Theologie und ihrer Verkündigung so auf wie GS 44. Dieser Text ist das Portal in eine ganz neue und aufregende Programmatik von Theologie und kirchlicher Präsenz. Er katapultiert die Kirche in ihren säkularen Kontext – und dies nicht, damit sie dort geistlich verhungert, sondern damit sie sich an ihrem Gegenüber neu vitalisiert. GS 44 weist einen Weg heraus aus Gegenwartsangst, kulturpessimistischer Nörgelei und kleinkrämerischem Selbsterhalt. Die Passage zeigt, wie die Gemeinschaft der Glaubenden heute den kenotischen Weg Jesu nachvollziehen kann und damit ihrem Ursprung und Auftrag nicht nur treu bleibt, sondern neu erkennt.

      Da dieses Buch implizit die Gliederungslogik von GS 44 zitiert, ist der Text hier in voller Länge aufgeführt. Der Fettdruck sowie die Passagen in eckigen Klammern sind hinzugefügt.34

       44. Die Hilfe, welche die Kirche von der heutigen Welt erfährt

      Wie es aber im Interesse der Welt liegt, die Kirche als gesellschaftliche Wirklichkeit der Geschichte und als deren Ferment anzuerkennen, so ist sich die Kirche auch darüber im klaren, wieviel sie selbst der Geschichte und Entwicklung der Menschheit verdankt. Die Erfahrung der geschichtlichen Vergangenheit, der Fortschritt der Wissenschaften, die Reichtümer, die in den verschiedenen Formen der menschlichen Kultur liegen, durch die die Menschennatur immer klarer zur Erscheinung kommt und neue Wege zur Wahrheit aufgetan werden, gereichen auch der Kirche zum Vorteil.

      Von Beginn ihrer Geschichte an hat sie gelernt, die Botschaft Christi in der Vorstellungswelt und Sprache der verschiedenen Völker auszusagen und darüber hinaus diese Botschaft mit Hilfe der Weisheit der Philosophen zu verdeutlichen, um so das Evangelium sowohl dem Verständnis aller als auch berechtigten Ansprüchen der Gebildeten angemessen zu verkünden. Diese in diesem Sinne angepaßte Verkündigung [praedicatio accomodata] des geoffenbarten Wortes muß ein Gesetz aller Evangelisation [lex evangelizationis] bleiben. Denn so wird in jedem Volk die Fähigkeit, die Botschaft Christi auf eigene Weise auszusagen, entwickelt und zugleich der lebhafte Austausch [commercium] zwischen der Kirche und den verschiedenen nationalen Kulturen gefördert [Fußnote auf LG 13]. Zur Steigerung dieses Austauschs bedarf die Kirche vor allem in unserer Zeit mit ihrem schnellen Wandel der Verhältnisse und der Vielfalt ihrer Denkweisen der besonderen Hilfe der in der Welt Stehenden, die eine wirkliche Kenntnis der verschiedenen Institutionen und Fachgebiete haben und die Mentalität, die in diesen am Werk ist, wirklich verstehen, gleichgültig, ob es sich um Gläubige oder Ungläubige handelt.

      Es ist jedoch Aufgabe des ganzen Gottesvolkes, vor allem auch der Seelsorger und Theologen, unter dem Beistand des Heiligen Geistes auf die verschiedenen Sprachen unserer Zeit zu hören [auscultari], sie zu unterscheiden, zu deuten und im Licht des Gotteswortes zu beurteilen, damit die geoffenbarte Wahrheit immer tiefer erfaßt, besser verstanden und passender verkündet [aptus proponere] werden kann.

      Da die Kirche eine sichtbare gesellschaftliche Struktur hat, das Zeichen ihrer Einheit in Christus, sind für sie auch Möglichkeit und Tatsache einer Bereicherung durch die Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens gegeben, nicht als ob in ihrer von Christus gegebenen Verfassung etwas fehle, sondern weil sie so tiefer erkannt, besser zur Erscheinung gebracht und zeitgemäßer gestaltet werden kann.

      Die Kirche erfährt auch dankbar, daß sie sowohl als Gemeinschaft wie auch in ihren einzelnen Kindern mannigfaltigste Hilfe von Menschen aus allen Ständen und Verhältnissen empfängt. Wer nämlich die menschliche Gemeinschaft auf der Ebene der Familie, der Kultur, des wirtschaftlichen und sozialen Lebens, der nationalen und internationalen Politik voranbringt, leistet nach dem Plan Gottes auch der kirchlichen Gemeinschaft, soweit diese von äußeren Bedingungen abhängt, eine nicht unbedeutende Hilfe.

      Ja selbst die Feindschaft ihrer Gegner und Verfolger, so gesteht die Kirche, war für sie sehr nützlich und wird es bleiben [Fußnote auf Texte von Justin und Tertullian sowie auf LG 9].

      GS 44 ist in der Aula und hinter den Kulissen intensiv diskutiert worden. Die Neuheit dieser Sätze, ja: ihre Sprengkraft, wurde erkannt. Es gab mehr als einen Versuch, die sich hier deutlich erkennbare Vision einer lernenden Kirche abzuschwächen, die dieses Lernen eben nicht taktisch versteht, sondern als Notwendigkeit für sich selbst erkennt.35 Auch der Hinweis in der ersten Fußnote auf die Kirchenkonstitution Lumen Gentium, Nr. 13 kann nicht verbergen, dass es sich um eine wirklich neue und Lumen Gentium übersteigende ekklesiologische Einsicht handelt. Dies zeigt ein kurzer Textvergleich. Kapitel 13 aus Lumen Gentium betont zwar wie GS 44, dass die Kirche im Austausch mit den „Anlagen, Fähigkeiten und Sitten der Völker“ steht – daher wird die Passage in GS 44 zitiert –, schränkt aber ein: „soweit sie gut sind.“ Und fährt dann fort: „bei der Übernahme aber reinigt, kräftigt und erhebt sie diese.“ Die Austauschkommunikation mit dem kulturellen Kontext bleibt damit klar einseitig gesteuert: Es ist die Kirche, die bestimmt, was (für die Kultur und für sie) gut sei, was verbessert, gestärkt und betont werden müsse. Niemand wird dagegen verkennen können, in welche neue Dynamik der Wechselseitigkeit GS 44 vorstößt. Hier ist davon die Rede, dass die Kulturen eigene Reichtümer aus sich heraus hervorbringen, die in sich nicht noch einmal extern bewertet werden müssen; dass schon der rein immanente Einsatz für die Humanisierung der Gesellschaft hilfreich für die Kirche ist; dass diese Hilfe erfolgt, „gleichgültig, ob es sich um Gläubige oder Ungläubige handelt“; ja sogar davon, dass die Kirche von der „Feindschaft ihrer Gegner und Verfolger“ profitiert. GS 44 ist (fast) gänzlich frei von der Gefahr