Matthias Sellmann

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Kultur anbietet, ohne eine Holschuld der anderen zu konstruieren. „Wohl noch nie zuvor“, so kommentiert Yves Congar, hat die Kirche „formell so anerkannt, dass sie gegenüber der Welt auch die Empfangende ist. Sie bekennt das in diesem Artikel 44, dessen Dichte und relative Neuheit einen eingehenderen Kommentar verlangen würden.“37

       2.3 Akkomodation: Die Methode von GS 44

      Der Text wäre tatsächlich in vielerlei Hinsicht zu kommentieren. Er steht in enger Reihung zu den Nummern 40–43, dem vierten Großabschnitt von GS, in denen die Kirche entfaltet, wie sie der ‚Welt‘ zu helfen beabsichtigt. Er leitet hin auf die christologische Nummer 45, die den ganzen ersten Teil von GS beendet und den zweiten präludiert. Er ruft missionstheologische Themen genauso auf wie die Möglichkeiten eines ‚consensus fidelium‘ usw. All dies soll hier nicht weiter ausgeführt werden. Für den Zusammenhang dieses Buches ist der methodische Fokus zu betonen. Er findet seine Überschrift in dem programmatischen Satz: „Diese in diesem Sinne angepaßte Verkündigung des geoffenbarten Wortes muss ein Gesetz aller Evangelisation bleiben.“

      Diese Formulierung reklamiert deutlich programmatische Ansprüche (‚muss ein Gesetz bleiben‘). Dies gilt, auch wenn natürlich im Rahmen redlicher und unaufgeregter Konzilshermeneutik eine einzige Passage nur aus dem integralen Gesamtzusammenhang des ganzen Textes und des ganzen Konzils gelesen werden darf.38 Was so prominent wie hier als ‚lex evangelizationis‘ betont wird, muss man hermeneutisch als normative Spitzenformulierung verstehen dürfen. Es wird überdeutlich greifbar, was auch für GS als ganzer Konstitution gilt: Das Konzil als Gesamtereignis eines pastoralen Konzils „sprengt (…) sowohl inhaltlich als auch in der Sprachgestalt die traditionelle Systematik theologischen Denkens“39. Die Pastoralkonstitution hat hierfür die „Schlüsselrolle (…): Die Kirche bezieht mit ‚Gaudium et spes‘ einen Standort außerhalb ihrer selbst, um von dort aus – von den ‚Zeichen der Zeit‘ her – die irdischen Wirklichkeiten ‚im Lichte des Evangeliums‘ zu deuten.“ GS 44 ist ein Haupttext genau für diesen Perspektivwechsel in die pluralen Kontexte hinein. Kirche bekommt sich selbst und ihre Entwicklungspotenziale in den Blick, weil sie sich in ihre Kultur hinein dekontextuiert. Die Kirche erfährt eine Verortung, wird im Wortsinn ‚Ortskirche‘, und genau diese Bereitschaft zum Fragment aktiviert ihr Potenzial, eine Botschaft mit universaler Geltungskraft zu verkünden.

      Diese Sprengung eines in sich geschlossenen Theologie- und Verkündigungszusammenhanges kann an drei, aus heutiger Sicht erstaunlichen Implikationen des Evangelisations-Gesetzes verdeutlicht werden:

      – Das ‚Gesetz‘ fußt ganz unverhohlen auf einem Vorgang der kulturellen Anpassung (Akkomodation), der sozusagen den ganzen Algorithmus der kirchlichen Verkündigung anleiten soll (vgl. 2.4.).

      – Diese Anpassung bezieht sich nicht auf Äußeres, Oberflächliches, zu Vernachlässigendes, sondern auf das Herz der Theologie: die göttliche Offenbarung (vgl. 2.5.).

      – Diese Anpassung hat eine Zweck- und eine Ausführungsbestimmung: Beide liegen in den Herausforderungen der Versprachlichung des Glaubens (vgl. 2.6.).

       2.4 Akkomodation als Anpassung?!

      Sicher kann man heute sagen, dass die Sorge vor vorgeblich zu starker kirchlicher Anpassung an die ‚Welt‘, den ‚Zeitgeist‘ oder die ‚Bedürfnisse der Leute‘ den allgemeinen Ton beherrscht. Wenn sich auch gegenteilig nicht mehr viele Kreise in dem Wunsch treffen, aus der Kirche eine kontrastgesellschaftliche, hochunangepasste sozialrevolutionäre pressure group zu formen, so ist es doch weiter guter katholischer Ton, sich irgendwie ‚der Gesellschaft‘ gegenüber in mentaler Distanz zu bewegen. Gerade im Zusammenhang einer beherzten Nutzung der soziologischen Milieuforschung ist diese mentale Reserve unverkennbar. Man warnt vor Marketing, Selbstauslieferung oder sogar dem vorgeblich allgemein grassierenden Turbokapitalismus. Die Forderung nach ‚Entweltlichung‘ durch Benedikt XVI. bei seinem letzten Deutschlandbesuch – so genau man hier theologisch sondieren muss, was gemeint war40 – steht in auffallendem Kontrast zu der Drift, die offenbar das Konzil geprägt hat. Es ist schon bemerkenswert, dass das lateinische Wortfeld von ‚Anpassung‘, also akkomodatio, adaptio, assimilatio u. a. in den Dokumenten über 60-mal auftaucht. Und dies keineswegs nur an Randstellen.41

      Der in GS 44 gebrauchte Begriff der ‚accommodatio‘ bzw. das Adjektiv ‚accomodatus‘ bedeuten so viel wie: Anpassung, Entgegenkommen, Rücksichtnahme, passende Einrichtung, schicklich, entsprechend, geeignet. Das Wortfeld ist schon weit vor dem Konzil im missionswissenschaftlichen Sprachgebrauch durchaus üblich, wird hier aber in die neue Akzentuierung gebracht. Gemeint ist eben keine Übernahme kultureller Güter von einem feststehenden Rahmen in einen anderen, sondern ein wechselseitig geschichtlich-hermeneutischer Vorgang. Heute spricht man wohl missverständnisfreier von ‚Inkulturation‘.42 Wichtig ist aber, was beide Begriffe verbindet: die Risikodimension, die GS 44 klar darlegt. Beide Partner in der Akkomodation bzw. der Inkulturation wollen und werden sich durch ihre kulturelle Begegnung verändern. Bei beiden geht es nicht um eine Konversion in die Logik des anderen hinein. Vielmehr finden sich gerade durch ihre Begegnung beide vor einem gemeinsamen Dritten wieder, über das man die Querschnittsfläche, aber auch die weiter bestehende Abgrenzung zum Anderen erfährt. Es ist nicht leicht, dieses gemeinsame Dritte genauer zu bestimmen. Letztlich geht es wohl um die grundlegenden Errungenschaften humaner Daseinsgestaltung, um das, was man dem ‚Leben‘ an Sinn und Gewinn abschöpft, um Techniken und Einsichten der Lebensbewältigung, um Grundwerte, um Welt- und Existenzmodelle. Es geht, um alte Worte neu zu sagen, um ‚Weisheit‘ und ‚Heil‘. Hierfür ist eine akkomodierende Pastoral engagiert: Was verstehen andere kulturelle Akteure unter ‚Lebensgelingen‘, unter ‚Glück‘, unter ‚humaner Qualität‘? Woher beziehen sie diese Begriffe? Welche Wege haben sie zu ihrer Erfahrbarkeit erkannt? Welche Symbole, Metaphern und Rituale haben sie sich als sinn- und heilvoll erarbeitet? Und welche Fragen bleiben offen?

      In einem hellsichtigen Beitrag hat der französische Theologe Christoph Theobald die hier aufgerufene Haltung einer pastoralen Relationalität auf den Kontext hin als „Bewunderung“43 gefasst. Er wünscht sich eine Kirche, die vor ihrer Kultur steht wie Jesus selbst, der den römischen Hauptmann kennenlernt – einen kultisch Unreinen, einen Heiden, einen Besetzer, einen Feind! – und ausruft: „Einen solchen Glauben habe ich in Israel noch bei niemand gefunden“ (Mk 8,10). Dabei ist damit keine oberflächliche ‚Heiligsprecherei‘ von Kontexten gemeint, die etwas nur deswegen schon prima fände, weil es anders und säkular ist. Es geht gar nicht um Werturteile, sondern um eine Haltung. Wer bewundert, respektiert. Wer bewundert, zeigt seine Fähigkeit, von sich abzusehen. Wer bewundert, richtet auf. Wer bewundert, will lernen. Theobald sieht nicht, dass das Konzil in seiner Gesamtheit diese Haltung dokumentiert. Das wäre überzogen. Wohl aber gibt es die Durchbrüche in sie hinein, etwa in der emotionalen Passage von GS 3: „Deshalb bietet die Heilige Synode, indem sie die überaus hohe Berufung des Menschen bekennt und erklärt, dass gewissermaßen ein göttlicher Same in ihn eingesenkt ist, dem Menschengeschlecht die aufrichtige Mitarbeit der Kirche an, um jene Brüderlichkeit aller herbeizuführen, die dieser Berufung entspricht.“

      Und eben in GS 44. Theobald nimmt diese Nummer heran, um die große Aufgabe zu markieren, die aufgeworfen wird: die Offenbarung in prozessualer und kontextueller Relationalität neu zu verstehen. Oder einfacher: die Selbstmitteilung Gottes von Zeitpunkten und Ortskoordinaten her neu zu verorten.

       2.5 Akkomodation und Offenbarung

      Dies ist die zweite Überraschung aus GS 44: Das Konzil bezieht das Gesetz der ‚praedicatio accomodata‘, der ‚angepassten Verkündigung‘, nicht etwa auf Nebenbereiche kirchlicher Betriebsamkeit, sondern auf das Herz der Theologie und der Pastoral. Es geht um die Verkündigung des ‚geoffenbarten Wortes‘. Mit Recht wird man also sagen können: Dem Abschnitt geht es ums Ganze, um das Wertvollste, um das Schützenswerteste der Kirche überhaupt.