die heiligende Weisheit der je anderen Religionen wahrzunehmen. Religiöse Vielfalt als Chance zum Zuhören!
– ‚Ad Gentes‘, das Dekret über die missionarische Tätigkeit der Kirche, fordert direkt dazu auf, dass „das christliche Leben (…) dem Charakter und der Eigenart jeder Kultur angepasst“ wird (AG 22). Zuhören als erster Schritt der Inkulturation!
– ‚Christus Dominus‘, das Dekret über das Hirtenamt der Bischöfe, empfiehlt diesen dringend, Einrichtungen der pastoralsoziologischen Forschung einzurichten (CD 17, auch CD 16), damit sie überhaupt wissen können, in welchen Bedingungen die Gläubigen ihrer Diözesen leben. Kontextuelles Zuhören als Weiterbildungsmaßnahme der Funktionsträger!
Man könnte viele weitere Beispiele dafür bringen, dass eine kulturhermeneutische Offensive als Leitphilosophie des Konzils ansprechbar ist.23 Die Hauptprogrammatik aber liefert hierfür die Pastoralkonstitution, die den Platz der Kirche in der Welt identifiziert – und eben nicht ihr gegenüber oder gar höhergestellt –, die gottgefällige Autonomie der Kultur herausschält und die Verkündigung der Kirche sogar darauf verweist, sich und ihren Inhalt von den Leuten her neu zu erfassen. Zuhören, um überhaupt dazuzugehören!
All dies war auf dem Konzil überraschend und ist es seitdem wohl immer noch.24 Zu eingefräst sind die jahrhundertelangen Routinen einer Kirche als ‚societas perfecta‘, als vollkommene Gesellschaft, die den Leuten nur dann Heil zuspricht, wenn sie ins Innere der verfassten Kirche eintreten. Wer seine Umwelt so lange im Modus der Bringschuld modelliert hat; wer glaubte, vom sicheren Boden der Tradition alles um sich herum bewerten zu können; wer sich so lange als einzige sakramentale Heilsanstalt verstanden hat – der wechselt nicht mal eben in den Modus der Selbst(er) findung durch Kulturkontakt. Und sei es noch so sehr höchstlehramtliche Äußerung: Auch ein Konzil braucht Zeit – manche sagen: drei Generationen – bis es wirksam in Ausbildungsgänge, Rollen-Selbstbilder, Planungskennziffern und dogmatische Sprachstile eingesickert ist. Man ist nur ehrlich, wenn man sagt: Unsere gegenwärtige Kirchenpraxis ist noch um einiges davon entfernt, diesen umwälzenden Fortschritten der Konzilsdogmatik in den Alltagsroutinen zu entsprechen. Die Vision einer diakonischen Kirche, die sich eins macht mit ihrem je neu und örtlich unverwechselbar gegebenen Kontext und die ihre Botschaft durch diesen kenotischen Akt neu empfängt, um sie erst dann zu verkünden – diese Vision sucht weiter nach ihrer geschichtlichen Stunde. Nach wie vor hätte Camus recht, wenn er sein Diktum auf uns bezöge: Sie haben verlernt, die wirklichen Gesichter in ihrer Umgebung zu sehen. Sie suchen weiterhin vor allem nach dem, was sie schon zu kennen glauben.
16 Vgl. Sander 2005: 626; sowie ebd.: 616–691 sowie Tanner 2006: 319–322.
17 Eine solche Konstitution war gar nicht im Konzilsplan vorgesehen. Gaudium et spes gilt ja gerade deswegen als genuine Frucht des Konzils, ja als sein unverwechselbarster Ausdruck, weil sich die Notwendigkeit zu solch einem Text aus den Debatten der Aula erst ergab; vgl. nur Sander 2005: 827–864; Pesch 1994: 311–350, bes. 348 f; Mette 2005.
18 Sander 2005: 627.
19 Dies ist ja das bekannte Diktum Karl Rahners, der von Gaudium et spes wie vom ganzen Konzilswerk als dem ‚Anfang des Anfangs‘ spricht; vgl. Rahner 1966: 14 u. ö. Wie sehr Rahner mit dem hier eher intuitiv gespürten als konzeptionell schon gewussten fälligen Fortschritt dogmatischer Rede gekämpft hat, zeigen seine Interventionen während der Debatten (vgl. Sander 2005: 650–663. 847 f), noch mehr aber seine überaus konstruktiven Einordnungen des dann dogmatisierten Dokumentes in der nachkonziliaren Zeit (vgl. nur Rahner 1967a).
20 Gaudium et spes, Fußnote zum Titel; zit. nach Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Bd. 1: 592.
21 Vgl. Sander 2005: 685–691. 704–710.
22 Sander 2005: 687.
23 Und es ist sicher kein Zufall, dass ebendiese dogmatischen Errungenschaften der kulturhermeneutischen Grundhaltung (Öffnung zur Ökumene, Religionsfreiheit, Autonomie der irdischen Wirklichkeiten, Mission als Inkulturation, kulturell adaptierte Liturgie usw.) heute den eigentlichen Streitpunkt mit rechtsintegralistischen Kräften darüber bilden, inwiefern das Vatikanum II überhaupt als dogmatisches Konzil angesehen wird.
24 Vgl. als eine wichtige Stimme Klinger 1997: 77 f: „Die Pastoralkonstitution ist ein Wendepunkt in der Kirche. Sie stellt die Tradition vom Kopf auf die Füße; diese war bis dahin selbst eine Quelle der Offenbarung. Man konnte von ihr her alles, was nicht zu ihr gehört, bewerten. Nun aber heißt es: Die Kirche vermag dem eigenen Glauben nicht beredter Ausdruck zu geben, als wenn sie ihn von den Menschen her versteht, an die sich wendet, ihre Würde achtet, ihre Rechte anerkennt, Dialog mit ihnen führt (…). Dieser Perspektivwechsel im Umgang mit der Vergangenheit hat grundlegenden Charakter. Man kann seine Bedeutung nicht hoch genug einschätzen; denn er wird in der Konstitution [gemeint ist GS, MS] (…) methodisch durchgeführt.“
2 Erster Angang: Gaudium et spes 44 und der neue pastoraltheologische Dreischritt
Man kann mit einigem Recht sagen: Eine Gewinnerin dieser Entdeckung des Kontextes in seiner konstitutiven Wichtigkeit für theologische Erkenntnis ist die Pastoraltheologie. Sie erhält nun ihr eigentliches Formalobjekt als Wissenschaft. Auch wenn die Selbstdefinition dieser Disziplin vielfältig ist und die „Pluralität im eigenen Haus“25 großgeschrieben wird, so wird man doch zwei gemeinsame Nenner behaupten können. Erstens sind die Zeiten vorbei, in denen man Pastoraltheologie einfach als die handwerkliche Ausbildung von Pfarrern oder als Erfüllungsgehilfin einer überzeitlich immer schon Bescheid wissenden Dogmatik verstand. Zweitens steht im Vordergrund der Forschungen, dass man empirisch erforschte Praxis in Anschlag bringt für den Erkenntnisprozess der Theologie an sich. Welche Praxis von wem dann methodisch wie für welche Theorie erschlossen wird, das ist kontrovers. Das ‚ob überhaupt‘ aber nicht.
2.1 Eine Ellipse: Tradition und Kontext
Interessanterweise sind es oft gerade Dogmatiker und Fundamentaltheologen gewesen, die die systematische, ja: die offenbarungstheologische Bedeutung einer pastoraltheologischen Kontextanalyse betont und als Desiderat gefordert haben. Die akademische Pastoraltheologie verdankt Denkern wie Karl Rahner, Klaus Hemmerle, Johann Baptist Metz, Walter Kasper, Karl Lehmann, Elmar Klinger, Jürgen Werbick, Hans-Joachim Hilberath oder Hans-Joachim Sander sehr viel.26 Was sich in den Werken dieser in sich natürlich wieder sehr differenten Autoren spiegelt, ist der Optimismus, dass ‚Tradition‘ kein Vorgang der Reformulierung des immer Gleichen und prinzipiell Wissbaren bedeutet, sondern prozessuale, relationale und damit performative Qualität hat: Tradieren als Prozess im Vollzug erschließt der kirchlichen Glaubensgemeinschaft als Ganzer neue Potenziale der Erkenntnis, des Ausdrucks und der Verehrung. Tradieren hat substantiell mindestens genauso viel mit Risiko wie mit Sicherheit zu tun. Denn erst die mutige, lernende Selbstüberlieferung an den Kontext beglaubigt, was die Verkündigung des Evangeliums inhaltlich aussagen will: dass über der Welt das Versprechen eines Gottes liegt, diese zum Heil zu führen; dass man im Glauben an die Erfüllung dieses Versprechens gewagte Vertrauensvorschüsse an Andere hin signalisieren kann; dass man sich im Fremden seiner selbst gerade nicht verliert, sondern findet.27
Letztlich geht es hier um ein dynamisches Verständnis von Tradition, das sein uneinholbares Zielbild in der ‚Tradition‘ (wörtlich: Dahingabe; griechisch: paradosis) des Gottessohnes selbst am Kreuz findet.28 Nach dem Zeugnis der neutestamentlichen Schriften wird Jesus in vielfacher Weise ‚tradiert‘, so oft und vielfältig, dass man sagen kann, dass der Gestus des Selbstrisikos geradezu das Typische der Jesusgeschichte selbst ist: Beim Letzten Abendmahl übergibt sich Jesus den Jüngern in den Gestalten von Brot und Wein (Lk 22,19 f); Judas liefert ihn an die jüdische Obrigkeit aus (Mk 14,10), der Hohe Rat übergibt ihn den Römern (Mk 15,1), und schließlich übergibt ihn Pilatus den Soldaten zur Kreuzigung (Mk 15,5). Im innertrinitarischen Geschehen ist es der Vater, der den Sohn dahingibt (Joh 3,16; vgl. auch Röm 8,32) und ist es der Gekreuzigte, der seinen Geist aufgibt (Joh 19,30; vgl. Joh 15,13). Schließlich bekennt Paulus, dass er für den Sohn