href="#u5283671c-674f-50a1-9170-e2cf0422de89"> Literaturverzeichnis
‚Den Roman des Körpers schreiben‘ (Albert Camus) – Zu diesem Buch
In seinem literarischen Essay ‚Die Wüste‘ denkt der bekannte französische Philosoph Albert Camus über das Verhältnis von Malerei und Abbildung nach. Und er formuliert den seltsamen Satz: „Die Maler haben das Vorrecht, auf ihre Weise den Roman des Körpers zu schreiben.“1 Die Angewiesenheit auf den fixierten Moment, die fehlende räumliche Tiefe der Leinwand und die so leichte Möglichkeit, einem Bild durch einfache Blickwendung auszuweichen, belässt dieser Kunstform nur eine Chance: Die Maler „arbeiten in jenem herrlichen und vergänglichen Stoff, der ‚Gegenwart‘ heißt“. Es gibt hier nur Fläche, nur Abbild, nur Situation, nur Momentanes.
Weil das so ist, so Camus weiter, werden die Maler zum unschätzbaren Vorbild: Sie lehren uns wieder das Sehen. Sie führen uns wieder in die Technik ein, genauer auf die Gesichter der Menschen um uns herum zu achten: ihre Details, ihre kleinen Signale, ihre Selbstentwürfe, die gerade in ihrer Unbewusstheit so überaus sprechend sind. Denn „wir haben (…) verlernt, die wirklichen Gesichter der Leute in unserer Umgebung zu sehen. Wir sehen uns unsere Zeitgenossen nicht mehr an, sondern nur noch das an ihnen, was uns nützt und unser Verhalten bestimmt.“ Genauer: Wir ziehen dem Gesicht eine bestimmte Poesie vor, eine bestimme Idee, meistens eine, die den Anderen in unsere eigenen Kriterien einspannt. Wir bringen das Gesicht des Anderen auf unser Maß und in unser Kalkül.
Diese Gewohnheit ist ein Fehler. Sie ist die Negation der Gegenwart. Sie opfert den gegebenen Moment mit der Präsenz eines Menschen einer Idee, einem Urbild, einem Plan. Wer so mit Menschen umgeht und etwas in sie hineinliest, was sie von sich her gar nicht zeigen, fordert sozusagen mehr Sinn, als ihm die Welt, als ihm das einzelne Gesicht versprechen kann. Weil wir die reine Gegenwart nicht aushalten, wollen wir mehr in ihnen sehen, als da ist. Bekanntlich bildet dieses Unvermögen einfacher Gegenwart in Camus’ Philosophie des Absurden die Tragik des modernen Menschen, der sich die Schönheit der Gegenwart eintauscht gegen die Hoffnung auf Prinzipielles, Ideologisches, Metaphysisches – und darum verzweifeln muss. „Der abstoßendste Materialismus ist nicht etwa jener, den alle Welt so beurteilt, sondern vielmehr jener andere, der uns tote Ideen als lebende Wirklichkeiten einreden will und unser hartnäckiges, hellsichtiges Interesse an dem, was für immer mit uns sterben muss, ablenken will auf unfruchtbare Mythen.“2
So weit zu Camus und seinem Vorschlag, sich von der Malerei wieder lehren zu lassen, die flächenhafte Tiefenlosigkeit der Gegenwart auszuhalten. Zugegeben, dies ist ein ungewohnter Einstieg für ein theologisches Buch. Der Nobelpreisträger von 1957 ist definitiv kein Kirchenlehrer, und es würde ihn zornig machen, sähe er sich für religiöse Interessen instrumentalisiert. Hinzu kommt, dass theologische Forschung niemals jener Reduktion auf das Gegebene sekundieren könnte, die Camus’ Philosophie vorschlägt. Seinen Satz: „Die Welt ist schön, und außer ihr ist kein Heil“3 würde man jüdisch-christlich anders formulieren. Denn das biblische Zeugnis lebt ja von der Verheißung, dass da ein Gott ist, der gerade nicht in der Immanenz der Welt aufgeht, sondern diese überhaupt erst stiftet.
Trotzdem liegt genau hier durchaus eine Berechtigung, ausgerechnet Albert Camus – neben anderen natürlich – als einen Impulsgeber für gute Pastoral aufzurufen. Denn er hat ja nicht nur oberflächlich mit seiner Beobachtung recht: Auch wir in der Pastoral stehen heute in dem Ruf, die ‚wirklichen Gesichter der Leute in unserer Umgebung nicht mehr zu sehen‘. Auch von uns sagt man, dass vor allem moralische Vorurteile und soziale Grenzziehungen aus der Kirche eine gesellschaftliche Gruppe gemacht haben, in der sich, wie auch sonst überall, Gleiche mit Gleichen treffen. Das Schema ‚Wir‘ und ‚Die‘ dominiert auch in unseren Gemeinden. Christen gelten im Allgemeinen als immer etwas ängstliche Kulturpessimisten, die in ihren Liedern, Ritualen und Kalendersprüchen eine heitere Gegenwartsorientierung aus dem Glauben zwar behaupten, faktisch in die Gesellschaft aber eine sorgenvolle Angst um sich selbst und um die Zukunft einbringen. „Für Deutschland entsteht damit der Eindruck eines weithin traditionalen, durch Immobilität, Überalterung und Konventionalität geprägten Gemeindeverhältnisses, in welchem die sozialen Bindungen wichtiger sind als das Leistungsniveau der kirchlichen Angebote.“4 Zu diesem doch wenig schmeichelhaften Fazit kommt der Religionssoziologe Detlef Pollack als Ergebnis einer aktuellen empirischen Erhebung. Neugier, eine lernende Grundhaltung oder gar experimenteller, unternehmerischer Gründergeist prägen derzeit das binnenkirchliche Klima nur schwach. Ja es scheint derzeit nicht nur kommunikative Blockaden zwischen ‚denen von der Kirche‘ und den ‚Nichtkirchlichen‘ zu geben, sondern auch einen zwischen Christen und Christen – einen internen Zustimmungsvorbehalt innerhalb der Mitgliederschaft, wie man es pastoralsoziologisch nennt.5 Auch innerhalb der kirchlichen Gemeinschaft zieht man seine Poesie der einfachen Gegenwart vor, etwa indem man abscannt: „Will der mir was? Darf der mehr als ich? Nützt der mir was? Ist der ‚einer von uns‘? Ist das ein Modernist? Oder einer von gestern? usw.“
Zweifellos berührt die kritische Nachfrage bei Camus den sensiblen Punkt pastoraler Wirksamkeit überhaupt: Sind wir noch bei den Leuten – inner- wie außerkirchlich? Man wird sagen dürfen, dass in dieser Frage entschieden wird, ob wir unseren ‚Job‘ gut machen oder nicht, und dies ganz unabhängig davon, ob dies haupt-, neben- oder ehrenamtlich geschieht. Gute Pastoral fand schon immer ihren Adel, ihre Passion darin, in der konkreten Gegenwart von Menschen die konkrete Gegenwart Gottes zu versprechen, zu suchen, zu verkünden und zu feiern. Das wird man sagen können, ohne der Vielfalt pastoraltheologischer Selbstverständnisse Gewalt anzutun: Ganz egal, ob man Pastoraltheologie als ‚antwortendes Handeln‘, ‚Kulturwissenschaft des Volkes Gottes‘, ‚Problemlösungsdisziplin‘ oder wie auch immer konzipiert6: Eine Grundbewegung ist dann pastoral, wenn sie den ‚Roman des Körpers‘ schreibt; wenn sie also das konkrete Leben von Männern, Frauen, Kindern, Familien, Lebensformen mit der Verheißung der Gegenwart Gottes zusammensehen und eines vom anderen her verstehen kann. Mit dem bekannten Wort Paul Michael Zulehners: Pastoral bedeutet, bei den Menschen einzutauchen und bei Gott aufzutauchen und umgekehrt.
Die Wechselseitigkeit dieser pastoraltheologischen Ellipse ist die zweite und philosophisch tiefere Entsprechung zu den Gedanken Camus’. Denn es entscheidet über pastorale Qualität, ob man Menschen als sie selbst in den Blick bekommt oder ob man sie doch nur als Anwendungsfall höherer (hier: theologischer) Prinzipien instrumentalisiert. Hier liegt ja die eigentliche Pointe des christlichen Theoriedesigns. Wer die Menschwerdung Gottes behauptet und gerade hierin die restfreie Selbstmitteilung dieses Gottes über und von sich selbst identifiziert, der muss dem Menschsein nichts hinzufügen, um zum (vermeintlich) Göttlichen zu gelangen. Die ganze Brisanz des christlichen Ernstes steht hier auf dem Spiel, welcher bis heute einen Existentialismus begründet, der vor allem für jene im religiösen System äußerst herausfordernd ist, die davon profitieren, dass man aus der Religion eine Sonderwelt macht, die dem ‚Weltlichen‘ noch hinzukommt. Nach neutestamentlichem Zeugnis wird der eschatologische Jesus die Seinen nur nach Maßgabe ihres Menschseins und eben nicht ihrer religiös-moralischen Kriterienerfüllungen identifizieren können (vgl. Mt 25,34–40: ‚Ihr habt mich besucht, gekleidet, ernährt‘ usw.). Vom evangelischen Theologen Eberhard Jüngel stammt das einprägsame Wort, dass die Unähnlichkeit zwischen Gott und den Menschen nicht in einer Entzogenheit Gottes besteht, sondern darin, dass Gott in seiner Menschwerdung um so vieles menschlicher als der Mensch selbst geworden ist. Die Differenz zwischen Gott und Mensch ist unbestritten, unverfügbar und unaufhebbar. Aber trotzdem, trotz aller Unähnlichkeit, ist der Mensch bei sich, wenn er bei Gott ist, und bei Gott, wenn er bei sich ist.7
Dieser Zusammenhang wäre systematisch-theologisch tiefer auszuloten. Und zuzugeben ist, dass Camus diese Gedanken nicht teilen würde. Trotzdem bekommt er ein zweites Mal recht. Nicht der Rückbezug auf den Mythos einer religiösen Idealformel macht den Charakter einer pastoralen Begegnung aus, sondern es ist gerade die Verheißung der göttlichen Menschwerdung, die es der Pastoral grundsätzlich erlaubt, im Anderen nicht mehr erwarten und unterstellen zu müssen, als in ihm selber angelegt ist. Keinem Gesicht muss welche Poesie auch immer vorgezogen werden. Kein Leben ist erst dann gut, wenn man es als Abziehbild einer religiösen Vorlage