selbst nicht mehr wollte als diese menschliche Gegenwart.
Bei Camus heißt es weiter: „Gegenwart aber stellt sich stets in einer Geste dar.“8 Gute Pastoral wäre somit die Lektüre jener Gesten, mit denen ‚die Leute‘ ihre Gegenwart darstellen. Pastoraltheologie wird zur Gestenkunde. Ihre unverwechselbare Attitüde ist der unverbrüchliche Respekt vor jenen Signalen, mit denen Menschen ihre Behausung in ihrem Mikrokosmos anzeigen, ihre Lebensinterpretation, ihre kleinen und ihre großen Verhakungen in das Geflecht der Welt. Hans-Urs von Balthasar hat von der Theologie gefordert, diese Haltung als „Gestaltsehen“9 einzuüben und die Fähigkeit hierzu sogar als das Typische der jüdisch-christlichen Religion markiert.
Für dieses ‚Gestaltsehen‘, diese ‚Gestenkunde‘ zu werben, sie zu begründen und sie exemplarisch auszuführen ist die Intention dieses Buches. Akteure in der Pastoral sollen inspiriert und befähigt werden, die biografischen Gesten ‚ihrer Leute‘10 und ihrer Kultur zu lesen, zu deuten und als Daten theologischer Erkenntnis zu würdigen. Hierzu braucht es theologische Argumentation genauso wie sozialpsychologische Präzision. Zu beiden Diskursen will dieses Buch einen Beitrag leisten, indem die soziologische Milieutheorie von einer theologischen Hermeneutik her begründet und erschlossen wird. Dieses Denken in sozialen Milieus ist ja seit der sogenannten Sinus-Kirchenstudie von 2006 innerhalb der Gemeinden und Organisationen der christlichen Kirchen sehr bekannt geworden.11 Oft bleibt es aber bei der Erstrezeption. Nach wie vor fehlt es an einer substantiellen Einbindung des Anliegens einer ‚milieusensiblen Pastoral‘ sowohl in die relevanten kultursoziologischen wie in die systematisch-theologischen Diskurse.
Diese Vernetzung wird hier angegangen. Das Ziel ist die anfanghafte Entwicklung einer Art pastoraltheologischer Ethnologie. Mit ihrer Hilfe können die typischen Kollektivgesten der bundesrepublikanischen Bevölkerung erschlossen und verstanden werden. Man erkennt, dass es so etwas gibt wie ‚soziale Gravitationen‘, auf die hin ganze Kulturmuster sich rückbeziehen und die zum Leseschlüssel ihrer kollektiven Werthaltungen, Weltanschauungen und religiösen Orientierungen werden. Hier kommt es zu echten Verblüffungen: Plötzlich kann die Theorie sozialer Gravitationen scheinbar kleine alltagsästhetische Fragmente als Senkbleie ausweisen, die die Analyse in die Tiefe der Person hineinführen.12 Man entdeckt die Kohärenz von Alltagsverhalten und fundamentaler Semantik. Man durchmustert die Statements und Explorationen des Milieus, die Wohnungseinrichtungen, die Freizeitvorlieben, das Sprachverhalten, Konsum- und Partnerschaftsstile oder auch explizite Statements, etwa zur Frage nach dem Lebenssinn – und irgendwann taucht ein sprachlicher und inszenatorischer Assoziationszusammenhang auf, der sich auffällig durch die Einzelheiten durchträgt und rational mit der Gravitationslogik des Milieus in Einklang gebracht werden kann. Durch das scheinbar Banale und Nebensächliche stößt man auf eine innere „Richtungslinie“, eine innere Ader, die unzählige weitere Kapillare mit „Sinn und Stil“ versorgt, wie Simmel das nennt. Man kommt an eine sensible Stelle, an der man das Milieu ‚ticken‘ hört und ein Leitmotiv, eine Kurzformel über das so interpretierte Leben erfährt. Die hochindividuelle Gegenwart der Einzelgeste wird zum Ausdrucksmittel der sie grundierenden Selbst- und Weltinterpretation im sozialen Raum.
Insofern ist eine gut begründete und methodisch sauber ausgeführte Milieutheorie eine hervorragende Gelegenheit für alle, die die Leute ihrer Kultur einfach besser verstehen möchten. Man ‚versteht‘13 jetzt, warum dieser seine Fensterbank so und nicht so einrichtet; warum diese hierhin in den Urlaub fährt und nicht dorthin; und warum man hier jenen Hund anschafft, niemals aber jenen. Eine pastoraltheologische Ethnologie geht von den kleinen Gesten aus und liest sie alltagsästhetisch auf ihre grundlegenden biografischen Rückbezüge.
Dies kann in sich Vergnügen bereiten. Und das Buch hat bereits ein großes Ziel erreicht, wenn es – ganz im Sinne Camus’ – die Aufmerksamkeit auf die kleinen Gesten unserer Zeitgenossen erhöht, die Irritationsreflexe auf ihre Seltsamkeiten verringert und eine allgemeine Menschenfreundlichkeit der Pastoral zu steigern vermag. Trotzdem soll ein weiteres Ziel verfolgt werden. Und dieses ragt sogar über Camus hinaus.
Denn die Pastoraltheologie hat nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil nicht nur den Auftrag, sich nicht von den Menschen zu entfernen und sie nicht religiös zu instrumentalisieren. Das ist zu wenig. Sie möchte vielmehr aktiv in die Kontexte der kulturellen Gegenwart einsteigen, um überhaupt zu wissen, was sie selber ist. Hier wird es erneut brisant. Die Gesten der Menschen im obigen Sinn zu kennen, ist nämlich gerade nicht notwendig zum Heil dieser Menschen selbst – das liefe ja doch auf Instrumentalisierung hinaus und wäre gerade keine Freisetzung des Menschen zu sich selbst. Vielmehr hat die Kirche als Organisation und haben die Christen als Bewegung eine Holschuld! Vielmehr ist der Glaube selbst es, der diesen Kontextbezug zu den Leuten braucht. Denn – und diese Einsicht des letzten Konzils ist atemberaubend: Ohne die genaue Kenntnis und prinzipielle Anerkenntnis der kulturellen Kontexte um sie herum kann eine Ortskirche gar nicht wissen, was und wen sie zu verkündigen hat. Der Himmel, bildlich gesprochen, bleibt ihr versperrt, wenn sie nicht auf die Erde schaut. Wer Gott heute ist, und was Kirche hier soll, das kann nur unvollständig aus Schrift und Tradition deduziert werden. Die Kontextkenntnis muss hinzutreten, damit Kirche selber verstehen kann, was die Offenbarung ist. Oder kürzer: Auch die Kirche muss die Offenbarung je neu lernen, bevor sie sie erschließen kann. Und dieses Lernen geht auch über den Kontext.
Dieser prozedurale und in die Geschichte verlegte Modus der Offenbarungserkenntnis ist der große Fortschritt des letzten Konzils. Er ermöglicht erst ein neues Genre der Konzilsgeschichte: eine Pastoralkonstitution. Gaudium et spes, die Masterfolie dieses Buches, entwickelt und empfiehlt den adäquaten pastoraltheologischen Dreischritt. Er lautet: Erst den ‚Sprachen‘ um uns herum zuhören. Dann mit dem überlieferten Glaubensgut abgleichen, was man an Lebensinterpretation mitgeteilt bekam. Und schließlich aus dem Überschuss des Glaubens heraus einen Vorschlag an die jeweilige Lebenswelt machen, die deren Gravitation entspricht, ihn aber erweitert. Diesen pastoraltheologischen Dreischritt zu begründen, zu erläutern und in neun Milieuskizzen vorzuführen, ist das zweite Ziel des Buches.
Gemäß den beiden Zielbestimmungen ist diese Monografie in zwei Teile gegliedert. Teil 1 bereitet die materialen Milieuerkundungen in Teil 2 theologisch vor. Der hier propagierte pastoraltheologische Dreischritt, der auch den Titel des Buches bildet, wird vor der Kulisse der Konzilstheologie in Gaudium et spes (Kap. 1, 2) sowie des dogmatischen Traktates der ‚Theologischen Anthropologie‘ begründet (Kap. 4). Der Überstieg in eine pastoraltheologische Ethnologie wird entwickelt (Kap. 5). Basale Vorkenntnisse der Milieutheorie, etwa aus der Sinus-Kirchenstudie von 2006 oder anderen Befassungen, werden vorausgesetzt.14 Teil 2 erschließt dann jedes Milieu mit derselben Systematik (Kap. 6–15).
Insgesamt möchte das Buch den pastoraltheologischen Dialog mit der Kultursoziologie im Ganzen und der Milieutheorie im Besonderen fundieren und weiter befeuern. Wer auf der Höhe des Konzils argumentieren will, muss auf der Höhe der ‚Leute‘ sein. Hier, in der kulturhermeneutischen Kreativität der Pastoraltheologie, in der wechselseitig-kritischen Rückkopplung von Alltag, (Populär-)Kultur und Tradition, liegt ihr unverzichtbarer Beitrag für die theologische Arbeit im Ganzen. Es geht heute darum, dass das Verb ‚glauben‘ nicht zum Synonym für ‚fliehen‘ degeneriert, sondern als Synonym für ‚reingehen‘ neue Attraktivität bekommt.
Ein herzlicher Dank geht an die Unterstützer dieses Buches: Prof. Dr. Wippermann, Dr. Marc Calmbach und Berthold Bodo Flaig für die freundliche Überlassung von Zitier- und Abbildungsrechten; Peter Martin Thomas und Prof. Michael N. Ebertz für viele engagierte Begegnungen; Thomas Becker, mit dem ich den Ansatz sozialer Milieus institutionell vorantreiben konnte;