her getrieben wird. Man kann das Wesentliche des Christentums sozusagen gar nicht lexikalisch korrekt oder rein inhaltlich vermitteln: Christsein erschließt sich über das Risiko des ‚innovatorischen Selbsteinsatzes‘, wie Thomas Pröpper das nennt.54 Das Evangelium als wirksame Botschaft ist kein Bestand von Sätzen oder eine Ethik oder eine Anleitung zum richtigen Kirchesein, sondern ein heutiges, mehrstufiges, biografisches und intersubjektives Ereignis: Ich lese einen Teil des Evangeliums oder höre einen Teil der Jesusgeschichte. Die Geschichten und Motive drängen mich dazu, in die Welt des Anderen hineinzugehen und seine Fragen, Freuden und Rätsel so weitestmöglich in mich aufzunehmen. Vielleicht gelingt es mir, und der Andere erwidert diesen Schritt auf mich hin. Dann kann es geschehen, dass eine dritte Kraft – der durch das Evangelium für solche Aktionen versprochene Geist Gottes – in die Mitte unserer Begegnung tritt. Er kann uns paradoxerweise gerade deswegen (und vielleicht sogar: nur deswegen) beide erreichen, weil wir beide von uns weggegangen sind. Und er bringt uns in einen gemeinsamen Verstehensraum, der drei Qualitäten hat: Er ist für uns beide faszinierend neu; er verändert uns beide; und er verschmelzt uns nicht, sondern arbeitet unser beider Unterschiedenheit sogar noch stärker heraus. Diese Logik, die theologisch als Pascha-Logik oder als trinitarische Lebensdynamik oder wie auch immer angesprochen und hier nur als Skizze aufs Blatt geworfen werden kann,55 ist das Schöne am Christsein: das Innovative, das Politische, das Erlösende, aber auch das Brisante, weil Riskante an ihm. So ‚funktioniert‘ das, was christlich Ehe heißt oder Gemeinde, Ordensleben, Priestersein, Liturgie, interreligiöser Dialog, theologische Erkenntnisfindung. Der kenotische Weg zum Anderen ist der Weg sowohl zum unverfügbar bleibenden Gott wie zu mir selbst, und dies seltsamerweise dann, wenn er gerade nicht wegen dieser Effekte, sondern real um des Anderen willen eingeschlagen wird.
Einen solchen Lebensstil kann man nicht predigen, man muss ihn ausprobieren. Wer schwimmen will, der schwimme – und bleibe nicht am Rand stehen. GS 44 will eine ganze Kirche dazu motivieren, in dieser Weise kontextsensibel zu werden und ‚commercium‘ im obigen Sinne zu betreiben. Hierfür braucht man Beispiele und Modelle. Ich erinnere mich, dass wir einmal den so früh verstorbenen Aachener Bischof Klaus Hemmerle fragten, wie er als sehr belesener Philosoph und Fundamentaltheologe in Diskurse mit Nicht- und Andersglaubenden hineingeht. „Mein Tipp und meine Erfahrung lautet“, so Hemmerle: „Geh davon aus, dass sie recht haben.“ Das ist die Haltung des commercium. Sie hat nichts mit softer Gesprächsführung, fehlender Identifikation oder nur schwach ausgeprägtem Wahrheitssinn zu tun, aber viel mit risikofreudigem Glauben und Lust auf Dialoge. Je fremder die Kontexte sind, aus denen heraus die Kirche die Offenbarung tiefer erfassen möchte, desto authentischer erschließt sich die paradoxe Logik der Christus-Botschaft: Als Jünger nimmt man keine Vorratstasche mit. Der wird gewinnen, der verliert. Der Letzte ist der Erste. Der Menschensohn ist in dem, den wir gerade nicht als den Menschensohn wiedererkennen. Vor und mit Gott leben wir ohne Gott (Bonhoeffer). GS 44 legt uns die paradoxe Logik nah, die wir jedes Jahr zu Weihnachten als den ‚wunderbaren Tausch‘ [admirabile commercium] im Dritten Hochgebet bestaunen: „Denn einen wunderbaren Tausch hast du vollzogen: dein göttliches Wort wurde ein sterblicher Mensch, und wir sterbliche Menschen empfangen in Christus dein göttliches Leben. Darum preisen wir dich mit allen Chören der Engel und singen vereint mit ihnen das Lob deiner Herrlichkeit. Heilig, heilig, heilig.“
proponere: vorschlagen, verkündigen, ausdrücken
Den dritten veränderten Akzent erhält die Lektüre von GS 44, wenn man das in den deutschen Übersetzungen verwandte Wort ‚vorschlagen‘ oder ‚vorlegen‘ vom lateinischen Grundwort ‚proponere‘ her anklingen lässt. Das ist ja die Crux bestimmter Worte und Übersetzungen: dass sie philologisch zwar korrekt sind, aber als dann deutsche Wörter sofort in assoziative Pfadabhängigkeiten eintreten, die die Interpretationsmöglichkeiten der Ursprungssprache verengen.56 Das Wort ‚verkündigen‘ gehört sicher zu diesen belasteten Begriffen. Er kann sehr flott eindimensional verstanden werden: als Kommunikationsvorgang an einen Anderen, der hiernach weder verlangt hat noch als Partner zu seinem Gelingen etwas beitragen soll. Verkündigung scheint manchmal einem isolierten Gesetz zu gehorchen, dem der Verkündiger irgendwie meint nachkommen zu müssen. Und das ist ja auch nicht unbiblisch: Schließlich mahnt Paulus seinen Schüler Timotheus: Verkünde das Evangelium, ob gelegen oder ungelegen (2 Tim 4,2)! Die Propheten des Alten Testamentes werden in Sprachsituationen geschickt, die absolut verkündigerunfreundlich sind – allen anderen voran Jona, der der ihm aufgebürdeten Predigermühe von vornherein so wenig Erfolgschancen gibt, dass er einfach abhaut (Jona 1,1–3; Jona 4,1–3). Natürlich gibt es Situationen, in denen der Anspruch des Christentums danach verlangt, sich über Kommunikationsbarrieren hinwegzusetzen.
Das allerdings ist nicht Thema von GS 44. Hier geht es ja um die ‚praedicatio accomodata‘, also um die ‚angepasste Predigt‘. Hier soll ja gerade ein wechselseitiger Verkündigungsstil gefunden werden, der erst aus dem angestrengten Hören spricht und im Sprechen austauschorientiert bleibt. Insofern ist der Sinn des ‚proponere‘ im Lateinischen mit ‚vorschlagen‘ besser getroffen. Denn jemandem einen Vorschlag zu machen, impliziert ja eine bereits erfolgte Begegnung: Vorschläge werden üblicherweise gemacht, nachdem man einem Problem zugehört hat; man macht Vorschläge möglichst treffgenau auf die handelnden Personen in ihren Situationen hin; Vorschläge sind entwicklungs- und lösungsorientiert; und der Gestus des Vorschlagens hat erhebliche Unterschiede zu dem des Befehls oder der Forderung. Der Vorschlag rechnet bereits mit der freien Interpretation des Anderen; eher selten werden Vorschläge eins zu eins übernommen; üblicherweise sind sie ein Sprachakt, an den mit einer eigenen Interpretation angeschlossen wird. Vorschläge sind Angebote, Anregungen, Empfehlungen. Auch wenn man Vorschläge dringlich vorbringen kann, auch wenn man sie für alternativlos halten mag – sie bleiben insofern schwach, als sie nur werbend, nicht aber zwingend auf die Gefolgschaft des Anderen einwirken können.
Es ist dieser diskrete, höfliche, vorsichtige Stil einer Verkündigung als Vorschlag, den GS 44 nach außen starkmacht. Nach innen hin wird er gerade nicht vorgeschlagen, sondern als ‚Gesetz‘ dekretiert. Erst nach den beiden Durchgängen durch das Hören der vielen Sprachen und dem verstehen wollenden commercium kann die geoffenbarte Wahrheit vorgeschlagen werden. Und selbst dies soll ‚aptus‘ geschehen: angemessen, genau passend, abgerundet, geeignet.
Ein drittes Mal wird die Pastoral der Kirche zur kulturellen Pluralität befähigt. Nicht das donnernde und gerade darin rein postulatorische Getöse um einen kirchlichen Wahrheitsanspruch, der gefälligst von den Anderen anzuerkennen ist, soll das kulturelle Gespräch unserer Tage prägen, sondern das gemeinsame Stehen vor der Aufgabe humaner Daseinsgestaltung und dem respektvollen Austausch guter Vorschläge genau hierfür. Es mag jene enttäuschen, die ihre kirchliche Identität an das Erleben triumphaler Siege ihrer ‚Wahrheit‘ über den sogenannten ‚Zeitgeist‘ geknüpft haben: GS 44 spricht leise Töne, rätselt selber über ebenjene ‚Wahrheit‘ und ist dankbar, dass da auch noch andere sind, die denselben Fragen nachgehen wie sie. GS 44 ist die Kirche, die ihr Gesicht wie Elija scheu in den Mantel hüllt, weil sie im ‚feinen Säuseln‘ die Stimme ihres Gottes lauter gehört hat als im Sturm, im Beben oder im Feuer. Mit GS 44 tritt man erst an den Eingang der Höhle und damit in die kulturelle Öffentlichkeit, wenn der ganze scheppernde Triumphzug religiöser Wichtigtuerei an einem vorbeigezogen ist – weil er wie ein Gewitter keine Information hat, sondern nur Krach; weil er wie ein Beben alles verändern will außer sich selbst; und weil er wie ein Feuer all jene Energien verzehrt, die man für anstehende Problemlösungen dringend benötigt hätte (1 Kön 19). Es stimmt: GS 44 ist der verunsicherte Prophet, der von Gott erst gefragt werden muss: ‚Was willst Du hier?‘, und der darauf faktisch nur antworten kann, dass er das früher einmal wusste, jetzt aber nicht mehr. Das aber ist die Größe des Elija, wie es die Größe des Konzils war: Vor Gott und der Welt zu bekennen, dass man seine Identität fortan nicht mehr aus sich allein beziehen kann und will, sondern einen neuen Ansatz braucht. Elija bekommt diesen in Gestalt eines neuen Auftrages, neuen Mutes und eines neuen Gefährten, Elischa (1 Kön 19,19 ff). Den trifft er auf dem Weg fort von der Höhle, und über den wirft er ebenjenen Mantel, in dessen Verhüllung er mit Gott gesprochen hatte. Ein schönes Bild, das diesen metaphorischen Textvergleich abschließen soll: GS 44 propagiert eine Kirche, die ihre Gotteserfahrung nicht mehr nur