sucht, sondern die Ärmel für die Begegnung.
Das ‚proponere‘, der Stil des Vorschlagens, hat zwei bedeutende Dokumente geprägt, die den Geist aus GS 44 atmen: das nach wie vor vielzitierte Dokument ‚Evangelii Nuntiandi‘ Pauls VI. aus dem Jahr 1975 sowie den französischen ‚Brief an die Katholiken Frankreichs‘ mit dem Titel ‚Proposer la foi‘ aus dem Jahr 1996.57 Beide Dokumente bzw. Prozesse haben das programmatische Papier der deutschen Bischofskonferenz inspiriert, das im Jahr 2000 die Diagnose einer ‚Zeit zur Aussaat‘ vorstellte und zu einem der bekanntesten Bonner Papiere überhaupt avancierte.58 Diese Papiere können hier nicht inhaltlich entfaltet werden, ihre Lektüre trägt aber zu einem tieferen Verständnis einer ‚praedicatio accomodata‘ bei. Nur einige Schlaglichter: „Der Bruch zwischen Evangelium und Kultur ist ohne Zweifel das Drama unserer Zeitepoche, wie es auch das anderer Epochen gewesen ist“ (Evangelii Nuntiandi Nr. 20). Die Verkündigung verlangt zuerst das „Zeugnis des Lebens“ (ebd.: Nr. 21; vgl. auch Nr. 76). Eine Kirche, die den Glauben vorschlägt, anbietet, empfiehlt, kann ihre Zeitgenossen als Menschen würdigen, „die durch ihre Erwartung und ihr Verhalten die Freiheit Gottes und das Wirken des Heiligen Geistes bezeugen, der in jedem Menschen das Verlangen wecken kann, über sein ihm unmittelbares Dasein hinauszuwachsen“ (‚Proposer la foi‘).59 „Wer mit Kirche zum ersten Mal in Berührung kommt, sollte damit rechnen können, willkommen zu sein“ (‚Zeit zur Ausaat‘).60
Das sind Sätze, die ohne den Durchbruch des Konzils so nicht geschrieben worden wären. Allerdings: Angesichts solcher pluralitätskompatiblen und freiheitseröffnenden Formulierungen verwundert es, dass in keinem der erwähnten Dokumente GS 44 als Referenz auftaucht.61 Man muss auch nicht verhehlen, dass gerade ‚Evangelii Nuntiandi‘ durchaus von Passagen gekennzeichnet ist, die einen doch wieder integralistischen Unterton tragen.62 Mehr noch: Die ‚Lehrmäßige Note zu einigen Aspekten der Evangelisierung‘ der Vatikanischen Glaubenskongregation vom Dezember 2007 sieht sogar die Notwendigkeit, Fehlverständnisse der interkulturellen und -religiösen Begegnung zurückzuweisen (Nr. 3). Am Anfang heißt es zwar: „Das Dokument setzt die gesamte katholische Lehre über die Evangelisierung voraus, die im Lehramt von Paul VI. und Johannes Paul II. ausführlich behandelt worden ist (…)“ (Nr. 3). GS 44 aber kommt nicht als Zitat, schon gar nicht als theologische Leitfigur vor. Vielmehr fallen Sätze wie der folgende: „Auch wenn das Evangelium von allen Kulturen unabhängig ist, vermag es doch alle zu durchdringen, freilich ohne sich ihnen zu unterwerfen“ (Nr. 6; vgl. auch Nr. 8). Oder: Evangelisierung ist „der Einsatz dafür, die Fülle des Heils, die Gott dem Menschen in der Kirche anbietet, bekannt zu machen und frei annehmen zu helfen“ (Nr. 10). Viel ist vom Respekt die Rede, von Freiheit und von dem Dienst an der Humanisierung der Weltverhältnisse. Trotzdem: Die Pointe entfällt, die in GS darin bestand, dass das Heil, die Wahrheit, die Fülle usw. ohne das vitale und gleichberechtigte commercium mit den Anderen von der Kirche selbst nicht voll gewusst werden kann; dass man nicht nur vorschlägt, sondern selber lernt.
Der Befund ist also der: Das Konzil als Ausübung des höchsten Lehramtes verabschiedet nicht eine Nebenbemerkung, sondern eine normative Leitlinie für die Verkündigung der Kirche, eine ‚lex evangelizationis‘ – und die Konzilsrezeption des Lehramtes nimmt in den Folgedokumenten hierauf kaum noch Bezug, schon gar keinen konstitutiven. Dies muss man nüchtern konstatieren. Es kann als weiteres Kennzeichen gewertet werden: erstens, dass GS 44 wirklich einen revolutionären Neuansatz für die theologische Erkenntnislehre, für geistliches Wachstum in der pluralen Postmoderne und für wirklich ernst gemeinte Kulturkontakte bietet; zweitens, dass an diesen Neuansatz aber weiter zu erinnern und für ihn zu streiten sein wird. Natürlich bleibt zu problematisieren, dass sich das Evangelium im Vollzug des ‚proponere‘ nicht einfach mit den Bedürfnislogiken der ‚Leute‘ verrechnen lassen darf. Hier geht es nicht um einen Joghurt, den man an den Meistinteressierten verkauft.63 Auch der prophetische Impuls der Botschaft Jesu ist für diese unaufgebbar: seine energische Widerständigkeit gegen zu viel Trägheit, Fatalismus, Egozentrik und Missbrauch. Trotzdem bedeutet kulturelle Pluralität – und hierzu will GS 44 wie überhaupt Gaudium et spes befähigen: Es gibt keinen letzten sicheren Zugriff auf das ‚Richtige‘, ‚Wahre‘ oder ‚Offenbarte‘. Das, was als ethisches oder religiöses Kriterium gelten will, kann seine Plausibilität nicht aus der Behauptung ableiten, selbständig als Wahrheit erkannt worden zu sein. Genau dieser Erkenntnisanspruch muss durch den kulturellen Dialog, durch die Ränke der Macht, der Empirie und der faktischen Kontingenz, unter der menschliches Leben nun einmal steht. Es gibt Wahrheit, dies ist theologisch als Gottesprädikat festzuhalten. Aber wie sie erkannt werden kann, was sie bedeutet und wie man sie umsetzt, das muss gemeinsam verhandelt und mühsam gefunden werden.
Die Kirche kann und muss also ihren Dialogpartnern Werte, Handlungen, sogar die komplette biografische Neuorientierung, die Metanoia vorschlagen; sie kann und muss, sogar mit lauter Stimme und im Namen der von Entscheidungen ungerecht Benachteiligten, Korrekturen verlangen; sie kann und muss ihre kulturellen Partner dahin motivieren, den Zumutungen der Wahrheitssuche nicht auszuweichen. Aber all dies tut sie als Partner des gleichen Spiels, nicht als selbsternannter Schiedsrichter. Und darum tut sie gut daran, inmitten ihrer Kultur zu stehen, breite Kontaktflächen auszubilden und hohe lernbereite Ansprechbarkeit zu demonstrieren. Nur so verpasst sie den vielleicht entscheidenden, kleinen, unscheinbaren Impuls nicht, der von unerwarteter Seite kommt und der ihr ganz neu aufschließt, was man von Gott heute wissen und glauben kann.64
25 Vgl. Heft 2/2000 der Pastoraltheologischen Informationen.
26 Vgl. nur das berühmte, weil portalaufstoßende ‚Handbuch der Pastoraltheologie‘ von Rahner u. a.; eine gute Übersicht zu den wechselseitigen Profiten systematischer und praktischer Theologie bietet neuerdings Bauer 2010: 713–792.
27 Vgl. Rainer Buchers (2010: 203–232) Projekt einer kenotischen Pastoraltheologie.
28 Vgl. ausführlicher Forte 1989: 100–105 im Anschluss an exegetische Studien bei W. Popkes.
29 Im Hintergrund dieser Formulierung steht die systemtheoretische Analyse der Dreischrittigkeit von Kommunikation in die Schaltstellen Information, Mitteilung und Verstehen; vgl. Baraldi u. a. 1999: 93. Zur hier nur andeutbaren theologischen These einer spezifischen Ko-Autorenschaft des Hörers für das Kommunikationsereignis der Offenbarung vgl. Sellmann 2012.
30 Kasper 2011: 36.
31 Ebd.: 35; vgl. den ganzen Abschnitt ebd.: 33–36 sowie den früheren Text Kasper 1987.
32 So pointiert Bauer 2011 die Aufgabe.
33 An dieser Stelle kann die neuere Methodendebatte der Pastoraltheologie nur genannt werden, die sich um das Konzept der ‚Abduktion‘ herum entwickelt hat; vgl. nur Bauer 2010: 814–837.
34 Zitiert nach LThK, Ergbd. III: 417–421.
35 Vgl. nur Chenu 1966: 233 f.
36 Der Begriff fällt bei Collet 2002: 175. Die einzige Ausnahme sehe ich in dem Hinweis auf die eine ‚Menschennatur‘ am Anfang sowie in der Formulierung: „nicht, als ob in ihrer von Christus gegebenen Verfassung etwas fehle“. Ersteres wirft erhebliche anthropologische Fragen auf (welche Natur? Warum eine? Wer erkennt, was zur einen Natur gehört? Wie ist das Verhältnis von einer Natur und vieler Kultur zu bestimmen? usw.); Letzteres ist ein Aufflackern einer überkommenen Societas-perfecta-Ekklesiologie, die im hier gegebenen Textrahmen seltsam erklärungsbedürftig bleibt.
37 Congar 1968: 416.
38 Vgl. Kasper 1987: 295 f.
39 So Schmiedl 2012: 15 in seinem Gesamtüberblick über 50 Jahre Rezeptionsgeschichte des Vatikanum II. Das folgende Zitat ebd: 16.
40 Vgl. nur Erbacher 2012.
41 Vgl. Ebertz 2006b: 38 f sowie die einschlägigen Konzilspassagen im Register von Herders Theologischem Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Bd. 1: 850.
42 Zur Diskussion vgl. Collet 2002, v. a. 100–105. 172–196.
43 Theobald 2006: 81.
44 Rahner 1967a: 629.
45 Ebd.: 628;