Kurt Anglet

Vom Kommen des Reiches Gottes


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Schlussbetrachtung einen kleinen Abschnitt mit einem apokalyptischen Ausblick vorangestellt: »Naht das Ende aller Tage?«

      Bemerkenswert daran ist zunächst die Schilderung von Verfall und Untergang des Römischen Reiches – so der Titel des monumentalen Werkes von Edward Gibbon, der für seinen Untergang einen historischen Zeitraum von 1400 Jahren, von 180 bis 1590 ansetzt; also eine »Geschichte der langen Dauer« [andere haben gar sein Ende mit dem förmlichen Erlöschen des Römischen Reiches Deutscher Nation unter Napoleon im Jahre 1807 in Zusammenhang gebracht]. Doch Ferguson nimmt den entscheidenden Zeitraum im Zuge der Invasion der Germanenstämme im 5. Jahrhundert in den Blick und vermerkt in Anlehnung an Ward-Perkins: »Am erstaunlichsten an dieser modernen Lesart der Geschichte ist die Geschwindigkeit, mit der das Römische Reich zusammenbrach. In nur fünf Jahrzehnten ging die Einwohnerzahl der Stadt Rom um drei Viertel zurück. Archäologische Zeugnisse aus dem späten 5. Jahrhundert – ärmlichere Wohnungen, primitivere Töpferwaren, weniger Münzen, kleinere Hausrinder – zeigen, dass der zivilisatorische Einfluss Roms im übrigen Westeuropa schnell verschwand. Was ein Historiker das ›Ende der Zivilisation‹ nannte, trat tatsächlich innerhalb einer einzigen Generation ein.« (430) Und genau jene Geschwindigkeit ist es, die dem Lauf der Geschichte eigen ist – ganz im Gegensatz zum historistischen Zeitbewusstsein des 19. Jahrhunderts, über das sich Nietzsche in seinem Aphorismus Die Tyrannen des Geistes (= Menschliches, Allzumenschliches I, § 261) mokiert: »Das ist das Stürmische und Unheimliche an der griechischen Geschichte. Jetzt zwar bewundert man das Evangelium der Schildkröte. Geschichtlich denken heisst jetzt fast so viel, als ob zu allen Zeiten nach dem Satz Geschichte gemacht worden wäre: ›möglichst wenig in möglichst langer Zeit!‹ Ach, die griechische Geschichte läuft so rasch! Es ist nie wieder so verschwenderisch, so maasslos gelebt worden. Ich kann mich nicht überzeugen, dass die Geschichte der Griechen jenen natürlichen Verlauf genommen habe, der an ihr gerühmt wird.« (KGW IV.2, 220) Und hätte Nietzsche, alles andere als ein Apokalyptiker, erst die Geschichte des 20. Jahrhunderts vor Augen gehabt, in dem Reiche, die den Anspruch erhoben, ihr Zeitalter zu überdauern, ja 1000 Jahre zu währen, ganze 12 bzw. 72 Jahre beschieden waren – geradezu biblische Zahlenmaße! Nichts scheint daher naheliegender als eine eschatologische Geschichtsdeutung, weshalb Ferguson in seinen Ausführungen auch auf die sog. Offenbarung des Johannes verweist, doch dabei lediglich auf die Endzeitvorstellungen evangelikaler Christen sowie (pseudo-)christlicher Sekten zu sprechen kommt.

      Dass die zeitgenössische christliche Theologie außen vor bleibt, erscheint nicht weniger bemerkenswert, vermag freilich aus dem einfachen Grunde nicht zu überraschen, weil es über vereinzelte Bestandsaufnahmen hinaus eine theologische Deutung der Gegenwart nicht gibt, ja seit Generationen nicht einmal sonderlich erstrebenswert erscheint. »Nichts war ihr ferner als Erwartung einer Endzeit, ja auch nur eines Zeitenumschwungs« (GS I.1, 259), vermerkt Benjamin in seinem Trauerspielbuch zur Gegenreformation, während »der Moralismus des Luthertums« immer bestrebt gewesen sei, »die Transzendenz des Glaubenslebens an die Immanenz des täglichen zu binden« (ebd. 263). Erst unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs hat der Erlanger evangelische Theologe Walter Künneth ein beachtliches Werk vorgelegt: Der große Abfall. Eine geschichtstheologische Untersuchung der Begegnung zwischen Nationalsozialismus und Christentum [Hamburg 1947]. Allein der Untertitel grenzt ihren Gegenstand auf deren »Begegnung« ein, während in Anbetracht von Künneths Bestimmung des Nationalsozialismus als eines religiösen Phänomens ebenso das außerkirchliche Geschehen – zumal der Holocaust – auch in theologischer Hinsicht von Interesse gewesen wäre, wo doch im alttestamentlichen Buch Daniel dem Propheten bedeutet wird: »Und jetzt bin ich gekommen, um dich verstehen zu lassen, was deinem Volk in den letzten Tagen zustoßen wird. Denn auch diese Vision bezieht sich auf jene fernen Tage.« (Dan 10,14) Es sei jedoch angemerkt, dass sich in einer kleinen Schrift des großen jüdischen Gelehrten Leo Baeck aus dem gleichen Zeitraum mit dem Titel Der Sinn der Geschichte [Berlin 1946] ebenfalls kein Hinweis auf den Holocaust findet, obwohl sie von der Auffassung der Geschichte als »rückwärtsgewandte Prophetie« ausgeht.

      Bereits in der Vorkriegszeit hat der katholische Theologe Georg Feuerer (1900–1940) ein schon dem Titel nach ekklesiologisch akzentuiertes Werk vorgelegt: Unsere Kirche im Kommen. Begegnung von Jetztzeit und Endzeit [Freiburg 1937], das immerhin 1941 posthum eine zweite Auflage erreichte. Obwohl die Arbeit des an multipler Sklerose erkrankten und früh verstorbenen Verfassers über weite Strecken eher den Charakter einer persönlichen religiösen Selbstvergewisserung besitzt denn einer wissenschaftlichen theologischen Abhandlung [er selbst spricht eingangs davon, dass er 1930 einen Grundriss schrieb, »um alles wieder zu verwerfen und Neues zu suchen«], gewährt sie tiefgründige und zuweilen höchst aktuelle Einblicke, etwa in »Das Geheimnis der Kirche«, im Abschnitt 18 des so überschriebenen Kapitels: »Die Kirche und das Böse«; und in dem Schlussabschnitt »Das endzeitliche Geheimnis der Kirche« findet sich folgende Feststellung: »Sie ist ständig umzittert von dem Kommen Gottes, und die Unruhe, die von der Kirche aus durch die Welt geht, ist nur ein letztes Zeichen des Kommens Christi, der Gewalt der Entscheidung für oder gegen ihn, die ständig in der Zeit gefordert wird. Alles ist eingetaucht in den Tod Christi, muß klein werden, muß untergehen vor dem Gericht, vor dem Kommen des herrlichen Christus in der Kirche. Alle Gnadenvermittlungen, alle Feste und Feiern der Kirche möchten ein stummes Zeichen sein für dieses Kommen. Auch die Apostel der Kirche sind nicht bloß Ausgesandte zur Missionierung der Welt, sie sind in erster Linie Vorboten seines Kommens.« (221) Gerät aber sein Kommen aus dem Blick, dann bleibt nicht nur der Missionsauftrag auf der Strecke und das Christentum erschöpft sich in einem allgemeinen »Christsein«. Vielmehr wird verkannt, was Feuerer unter dem Passus »Christus und die Vollendungsordnung« vermerkt: »Die Vollendungsordnung steht nicht neben der Schöpfungs- und Erlösungsordnung, sondern, tiefer gesehen, ist sie nur die tiefste werdende Schicht all dieser bestehenden Ordnungen. In Christus ist ein werdender Prozeß der Vollendung entgegen.« (41) Von daher wird verständlich, wenn etwa der Apostel Paulus in 1 Kor 10,4 den »lebensspendenden Felsen« der Wüstenwanderung der Israeliten auf Christus hin deutet: »uns zur Warnung wurde es aufgeschrieben, die das Ende der Zeiten erreicht hat.« (1 Kor 10,11) Denn wie es keinen Sinn ergibt, unter Abstraktion von der Schöpfungsordnung von Erlösung zu reden, so könnte von Erlösung ohne unsere Vollendung gar nicht die Rede sein. Wäre Christus nicht nach 1 Kor 15,20 »von den Toten auferweckt worden als der Erste der Entschlafenen«, also seine Auferstehung der Anfang unserer Vollendung, wie Paulus im Anschluss näher ausführt (vgl. 1 Kor 15,21–28), dann wäre die Zeit der Kirche eine leere Übergangszeit; von einem Kommen Christi, wie es in der Erwartung seiner Wiederkunft bzw. seines Reiches nahezu alle neutestamentlichen Schriften bezeugen, könnte man gar nicht sprechen.

      Noch präziser als Feuerer hat der Theologe Erik Peterson (1890–1960) in seiner Römerbriefauslegung unterschieden, um die Zeit der Kirche als die Zeit der Vollendung hervorzuheben: »Die Hoffnung auf das Wiederkommen Christi ist etwas anderes als die Hoffnung auf das Kommen Christi. Die Hoffnung der Propheten eine andere als die Hoffnung der Kirche. Die Hoffnung der Propheten wartet auf die Erfüllung, die Hoffnung der Kirche auf die Vollendung.« (156) Im strengen Sinne gilt Petersons Unterscheidung freilich nur für die Erwartung eines Johannes des Täufers oder prophetischer Gestalten wie Simeon und Hanna, da die meisten prophetischen Schriften über die messianische Erwartung hinaus zugleich auf die Vollendung der Zeit verweisen [und daher auch in den apokalyptischen Texten des Neuen Testaments zitiert werden], wie auch das Neue Testament bisweilen im Hinblick auf die Wiederkunft Christi von einem Kommen spricht [vgl. 1 Thess 5,23; Offb 22,7;12]. Gleichwohl gilt Jesu Wort: »Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium.« (Mk 1,15)

      Denn mit der Erfüllung der Zeit setzt der Prozess der Vollendung ein, und zwar unabhängig vom Wann, also vom Zeitpunkt der Wiederkunft Christi, der ohnehin außerhalb unseres Ermessens liegt. Zwar ist schon durch seine erste Ankunft das Reich Gottes »nahe«, ja in seinem messianischen Wirken »ist das Reich Gottes zu euch gekommen« (vgl. Mt 12,28); aber seine Nähe, seine Gegenwart ist Mysterium, unterliegt dem Geheimnis des Kreuzes, weshalb Christus den Jüngern nach dem Messiasbekenntnis des Petrus verbietet, »mit jemand über ihn zu sprechen« (vgl. Mk 8,30). Bezeichnenderweise folgt nach seinem Verbot die erste Ankündigung von Leiden und Auferstehung, anschließend der Aufruf zur Nachfolge