Kurt Anglet

Vom Kommen des Reiches Gottes


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Ausblick auf den Zustand der Vollendung gewährt: »Amen, ich sage euch: Von denen, die hier stehen, werden einige den Tod nicht erleiden, bis sie gesehen haben, dass das Reich Gottes in Macht gekommen ist.« (Mk 9,1) Oder wie es in der Parallelstelle Mt 16,28 heißt: »… bis sie den Menschensohn in seiner königlichen Macht kommen sehen.« Gemeint ist die Verklärung Jesu »sechs Tage danach« (Mt 17,1; Mk 9,2), als Jesus Petrus, Johannes und Jakobus beiseitenahm und auf einen hohen Berg, auf den Tabor, führte. Denn nicht nur folgt die Verklärungsszene auf jenes Wort Jesu, auch die Kirchenväter haben es darauf bezogen. Vermutet man dagegen hinter jener Aussage eine »Naherwartung« Jesu, so ergäbe es schon deshalb keinen Sinn, weil Jakobus und Petrus, die Zeugen seiner Auferstehung, das Martyrium erlitten haben. Daher sein Gebot nach dem Abstieg von dem Berg, niemandem etwas »zu erzählen, was sie gesehen hatten, bis der Menschensohn von den Toten auferstanden sei. Dieses Wort beschäftigte sie, und sie fragten einander, was das sei: von den Toten auferstehen.« (Mk 8,9–10)

      Denn erst im Lichte der Auferstehung des Menschensohns kann es eine Hoffnung auf Vollendung geben, die sich den Jüngern entzog, solange noch Jesus unter ihnen weilte; nach dem Lukasevangelium gar entbrannte unter ihnen noch im Abendmahlssaal ein Streit, wer unter ihnen der Größte sei (vgl. Lk 22,24–27). Die Teilhabe an der messianischen Herrschaft auf Erden, nicht aber das Kreuz Christi markierte für sie das Ende seines Weges, während das Wort von der Auferstehung ihnen so rätselhaft bleiben musste wie die Endzeitreden Jesu, die seiner Passion vorausgehen. Schon allein daraus wird ersichtlich: Wenn schon den Jüngern Jesu, denen es immerhin gegeben ist, »die Geheimnisse des Reiches Gottes« (vgl. Lk 8,10) bzw. »des Himmelreichs zu erkennen« (vgl. Mt 13,11), ja in Mk 4,11 heißt es gar: »Euch ist das Geheimnis des Reiches Gottes anvertraut« – wenn schon sie vor seiner Auferstehung nicht zu erfassen vermögen, was es mit dieser und mit seinem Kommen in Herrlichkeit auf sich hat, dann kann es keinerlei historische Bestimmung des Messianischen vorbei an dessen göttlicher Bekundung geben: »Das ist mein geliebter Sohn; auf ihn sollt ihr hören.« (Mk 9,7; vgl. Mt 17,5; Lk 9,35)

      Denn es gehört zu den Verirrungen und Verwirrungen einer historistischen Bibelexegese seit dem 19. Jahrhundert, vom Historischen aus zu einer Bestimmung des Messianischen, d. h. des Wesens und Wirkens des Messias und des Kommen seines Reiches, zu gelangen. Dass es sich hierbei ausschließlich um eine Prärogative des Menschensohns, des Messias handelt, hat nicht etwa ein christlicher Theologe, sondern – gewissermaßen vor jedem christologischen Dogma – ein säkularisierter jüdischer Denker zum Ausdruck gebracht. Und zwar leitet Walter Benjamin (1892–1940) sein Theologisch-politisches Fragment aus dem Zeitraum 1920/21, also aus dem Erscheinungsjahr von Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung, mit den Worten ein: »Erst der Messias selbst vollendet alles historische Geschehen, und zwar in dem Sinne, daß er dessen Beziehung auf das Messianische selbst erst erlöst, vollendet, schafft.« (GS II.1, 203) D. h., er vollendet nicht nur »alles historische Geschehen« durch seine Wiederkunft, sondern Er ist es, der »dessen Beziehung auf das Messianische selbst erst erlöst, vollendet, schafft«. Christlich gesprochen, durch sein Kreuz und sein Gnadenwirken ebenso wie durch seine eschatologische Herrschaft über die Mächte der Endzeit. D. h., wir können nicht aus einem historischen Blickwinkel das Wesen des Messianischen bestimmen, weil alles Historische das Messianische – christlich betrachtet: die Erfüllung der Zeit – voraussetzt. Andernfalls unterschiede sich der Messias in keiner Weise von einer beliebigen historischen Gestalt. »Darum kann nichts Historisches von sich aus sich auf Messianisches beziehen wollen. Darum ist das Reich Gottes nicht das Telos der historischen Dynamis; es kann nicht zum Ziel gesetzt werden. Historisch gesehen ist es nicht Ziel, sondern Ende.« (Ebd.) Ende aber ist es aus christlicher Sicht im Spannungsbogen zwischen Erfüllung und Vollendung der Zeit; zwischen erster und zweiter Ankunft des Menschensohns, in der das Reich Gottes »mit Macht« hereinbricht, wie es im Vaterunser tagtäglich erbeten wird: »Dein Reich komme.«

      Genau hier aber liegt ein, wenn nicht der Grund für die derzeitige Krise des Christentums in der westlichen Welt. Dürfte doch selbst unter gläubigen Christen, sooft sie das Vaterunser beten, dessen – immerhin zweite [!] – Bitte kaum wirklich erhofft, erbeten sein. Gewiss, welcher ernsthafte Beter möchte schon nicht angesichts des Todes in das Himmelreich kommen. Aber die Bitte: »Dein Reich komme!«, die ja nicht weniger als die Vollendung der Zeit einschließt, möchte man doch lieber nicht gar so wörtlich nehmen, weil sie unserer »Weltverpflichtung« zu widersprechen scheint, obwohl nirgendwo im Neuen Testament wie auch in der kirchlichen Überlieferung die Welt den theologischen terminus ad quem abgibt, sondern – das Reich Gottes bzw. das Evangelium vom Reiche Gottes, dessen Erbe Christus denen verheißen hat, die Ihm in den »Geringsten« Ehre erwiesen haben. »Dann wird der König denen auf der rechten Seite sagen: Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, nehmt das Reich in Besitz, das seit der Erschaffung der Welt für euch bestimmt ist.« (Mt 25,34) Seit der Erschaffung der Welt – spätestens hier, in Jesu großartigem Gleichnis vom Weltgericht, zeichnet sich ab, wie Schöpfung, Erlösung und Vollendung zusammengehören, wie ja schon die Erlösung eine Neuschöpfung bedeutet, die wie die Schöpfung selbst – »denn wir wissen, dass die gesamte Schöpfung bis zum heutigen Tag seufzt und in Geburtswehen liegt« (Röm 8,22) – am Jüngsten Tag zur Vollendung gelangt.

      Dass es sich hierbei keineswegs um eine rein interne Glaubensfrage handelt, die dem profanen Zeitgenossen nichts anginge, mag aus den hier wie in den Eingangskapiteln angeführten theologischen Überlegungen des Philosophen Walter Benjamin hervorgehen, dem wir entscheidende theologische Einsichten in die Moderne verdanken, zumal in den Zeitraum zwischen 1910 und 1940, eine außerordentlich fruchtbare wie äußerst furchtbare Zeit, die im Geschehen der kommenden Kriegsjahre ihre volle Bestätigung finden sollte, obwohl wir in Messianität und Geschichte (Akademie Verlag, Berlin 1995) die Aporien seines Geschichtsbegriffs aufgewiesen haben. War doch Benjamin bis in das Projekt über die Pariser Passagen, seine »Urgeschichte der Moderne«, geradezu süchtig der urbanen Welt des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, zumal dem Paris eines Baudelaire und Proust, verhaftet. Erst der heraufziehende Krieg hat ihn auf seine frühere »theologische Gedankenmasse« zurückkommen lassen; so in den als sein Vermächtnis bezeichneten Thesen Zum Begriff der Geschichte – in »Gedanken«, wie er in einem Brief an Gretel Adorno vom April 1940 vermerkt, »von denen ich sagen kann, daß ich sie an die zwanzig Jahre bei mir verwahrt, ja, verwahrt vor mir selber gehalten habe« (vgl. GS I.3, 1226). Da heißt es zunächst abschließend zu These VI, in jeder Epoche müsse »versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen«. Der Konformismus aber ist nichts anderes als der jeweils herrschende Zeitgeist, der sie zu adaptieren, ganz in seinem Sinne zu glätten sucht. Doch nicht allein um eine intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Zeitgeist handelt es sich, der seine Gestalt von Epoche zu Epoche wechseln mag – es geht buchstäblich um Leben und Tod. Und zwar nicht um ein Überleben der Überlieferung, ja nicht einmal der Menschen im Sinne ihrer Selbstbehauptung, sondern selbst um die Toten – um »die Hoffnung gegen alle Hoffnung« (vgl. Röm 4,18). Benjamin verlangt sie nun nicht dem Glaubenszeugen, dem Märtyrer, ab, ja nicht einmal dem Theologen, sondern dem Geschichtsschreiber: »Der Messias kommt ja nicht nur als der Erlöser; er kommt als der Überwinder des Antichrist. Nur dem Geschichtsschreiber wohnt die Gabe bei, im Vergangenen den Funken der Hoffnung anzufachen, der davon durchdrungen ist: auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört.« (GS I.2, 695)

      Wenn man bedenkt, dass diese Zeilen erst zu Beginn des Krieges geschrieben wurden, also vor Auschwitz, dann muss dem Letzten, der sich noch ein wenig theologisches Gespür bewahrt hat, dämmern, was es bedeutet: »Der Messias kommt ja nicht nur als der Erlöser; er kommt als der Überwinder des Antichrist.« Eine christliche Theologie, die das verkennt oder verleugnet, verleugnet nicht nur ihre eigene Überlieferung; sie begibt sich vielmehr jeder theologischen Deutung der Wirklichkeit, und zwar nicht allein des Zeitgeschehens, sondern buchstäblich des »Seinsgeschehens«. Denn darum dreht sich das in jenen Jahren entstandene sog. zweite Hauptwerk Heideggers, seine sog. »Kehre«: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), das erst posthum 1989, anlässlich seines 100. Geburtstags, erschienen ist. Nicht zuletzt Heidegger gegenüber haben wir uns folgende »Methodenanweisung« aus Benjamins Passagen-Werk zu eigen gemacht: »Sich immer wieder klarmachen, wie der Kommentar zu einer Wirklichkeit (…)