auch ins Unabsehbare angewachsen sein. Mehr denn je findet Benjamins Feststellung am Ende der ersten These Über den Begriff der Geschichte ihre volle Bestätigung von der Theologie, »die heute bekanntlich klein und häßlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken lassen«. (GS I.2, 693) Dem kommt die Theologie insofern entgegen, als sie es aufgegeben hat, die Zeichen der Zeit zu deuten – im Licht der Offenbarung des kommenden Gottes. Eher zieht es einen in die Vergangenheit zurück.
So hat jüngst Rémi Brague, der Inhaber des Münchener Guardini-Lehrstuhls, im Fazit seines Aufsatzes über Das Scheitern des Atheismus die Forderung erhoben: »Wir brauchen ein neues Mittelalter. Oder: Wir müssen dem neuzeitlichen Versuch, sich vom Mittelalter loszusagen, den Garaus machen. Wir brauchen ein echtes Mittelalter, auf keinen Fall dagegen das Zerrbild, das die Neuzeit daraus gemacht hat, um sich zu rechtfertigen. Ja, wir brauchen ein Mittelalter, das den Errungenschaften der Neuzeit positiv nachkommt und sie in eine neue Synthese integriert.« (Internationale Katholische Zeitschrift Communio 41 [2012], 279–288, hier 287) Gegen jenes Zerrbild ist bereits vor einem Menschenalter der Scheler-Schüler Paul Ludwig Landsberg angegangen in seiner Schrift Die Welt des Mittelalters und wir. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über den Sinn eines Zeitalters (Verlag von Friedrich Cohen, Bonn 1922); auch täte zumal unserer Zeit eine Rückbesinnung auf den mittelalterlichen Ordo-Begriff durchaus gut.
Nun hat Romano Guardini, ausgehend vom »Daseinsgefühl und Weltbild des Mittelalters« wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg ein kleines Buch verfasst unter dem Titel Das Ende der Neuzeit. Ein Versuch zur Orientierung (Basel 1950; hier zit. nach der Werkbund-Ausgabe, Würzburg o. J. [1950]). Bemerkenswerterweise dachte Guardini zunächst an eine Studie zu Pascal, der anders als sein Zeitgenosse und Gegner Descartes nicht in seiner Zeit aufging, doch ist daraus ein Epochenbild geworden, das Bild einer im Untergang begriffenen Epoche. Entscheidend ist die Lossage des neuzeitlichen Menschen von der Offenbarung, um sein Dasein auf sich selbst zu begründen, ohne aber solche Werte wie die Freiheit und Einzigartigkeit der menschlichen Person, die sich ihr verdanken, zu verneinen. Auch wenn, ja weil es nach Guardini keine Rückwendung zum Mittelalter im Sinne der Romantik geben kann, müsse der Nicht-Glaubende »aus dem Nebel der Säkularisation heraus«, wie schon Nietzsche den Nicht-Christen gewarnt habe, dieser »habe noch gar nicht erkannt, was es in Wahrheit bedeute, ein solcher zu sein.« (110) Guardini geht dabei weder der Zweideutigkeit des modernen Menschenwesens nach noch der »Dialektik der Aufklärung«; ja nicht einmal – wie zehn Jahre zuvor Benjamin in seinen Aufzeichnungen Über den Begriff der Geschichte – von den zurückliegenden Katastrophen. Ausgehend von der Offenbarung, könnte man von einem Offenbarwerden des Menschen sprechen. »Wenn wir die eschatologischen Texte der Heiligen Schrift richtig verstehen«, heißt es abschließend, »werden Vertrauen und Tapferkeit überhaupt den Charakter der Endzeit bilden. Was umgebende christliche Kultur und bestätigende Tradition heißt, wird an Kraft verlieren. Das wird zu jener Gefahr des Ärgernisses gehören, von welcher gesagt ist, daß ihr, ›wenn es möglich wäre, auch die Auserwählten erliegen würden‹ (Mt 24,24).« Obgleich die Endzeit, neutestamentlich gesehen, die gesamte Christuszeit umfasst, erkennt Guardini mit dem Ende der Neuzeit eine dramatische Zuspitzung: »Die Einsamkeit im Glauben wird furchtbar sein. Die Liebe wird aus der allgemeinen Welthaltung verschwinden (Mt 24,12). Sie wird nicht mehr verstanden noch gekonnt sein. Um so kostbarer wird sie werden, wenn sie vom Einsamen zum Einsamen geht; Tapferkeit des Herzens aus der Unmittelbarkeit zur Liebe Gottes, wie sie in Christus kund geworden ist. Vielleicht wird man diese Liebe ganz neu erfahren: die Souveränität ihrer Ursprünglichkeit, ihre Unabhängigkeit von der Welt, das Geheimnis ihres letzten Warum. Vielleicht wird die Liebe eine Innigkeit des Einvernehmens gewinnen, die noch nicht war. Etwas von dem, was in den Schlüsselworten für das Verständnis der Vorsehungsbotschaft Jesu liegt: daß um den Menschen, der Gottes Willen über Sein Reich zu seiner ersten Sorge macht, die Dinge sich wandeln (Mt 6,33).« Dabei konnte Guardini schwerlich Edith Steins Kreuzesliebe kennen, die damit ernst machte. Denn was Guardini im letzten Abschnitt mit Blick auf die Zukunft zu erkennen glaubt, das ist in Edith Steins Leben sowie im Leben und Sterben vieler anderer Christen in den Jahren zuvor bereits Wirklichkeit geworden. »Dieser eschatologische Charakter wird sich, scheint mir, in der kommenden religiösen Haltung anzeigen. Damit soll keine wohlfeile Apokalyptik verkündet werden. Niemand hat das Recht zu sagen, das Ende komme, wenn Christus selbst erklärt hat, die Dinge des Endes wisse der Vater allein (Mt 24,36). Wird also hier von einer Nähe des Endes gesprochen, so ist das nicht zeithaft, sondern wesensmäßig gemeint: daß unsere Existenz in die Nähe der absoluten Entscheidung und ihrer Konsequenzen gelangt; der höchsten Möglichkeiten wie der äußersten Gefahren.« Das freilich gilt für eine christliche Existenz von Anbeginn, nicht zuletzt aber für die zurückliegenden Jahre, die »das Ende der Neuzeit« markieren. Und wenngleich niemand das Recht habe, zu sagen, das Ende komme, so besitzt seine Erwartung durchaus eine »zeithafte«, also temporäre Bedeutung, insofern im kommenden Gott die ontologische Ordnung durchbrochen wird, wie auch mit Blick auf die »Offenbarung [apokalypsis] Jesu Christi« (Offb 1,1), also auf den Anfang der Apokalypse, Erik Peterson in seiner Auslegung der Offenbarung des Johannes (vgl. 14) auf den »eigenartigen Doppelsinn« hingewiesen hat; es heiße »eben nicht einfach Enthüllung Jesu Christi in seiner Zukunft, in seiner Parusie, sondern das heißt zugleich auch Offenbarung, die er seinen Knechten und im besonderen seinem Knecht Johannes schon jetzt hat zuteil werden lassen«. Über seine Zeit hinaus gilt die Aktualität des ihm Offenbarten, wie Johannes selbst bezeugt: »Dieser hat das Wort Gottes und das Zeugnis Jesu Christi bezeugt: alles, was er geschaut hat. Selig, wer diese prophetischen Worte vorliest und wer sie hört und wer sich an das hält, was geschrieben ist; denn die Zeit ist nahe.« (Offb 1,2 f.) Dass die Zeit nahe ist, folgt also nicht etwa aus menschlicher Spekulation, sondern aus prophetischer Einsicht in die Aktualität des Messianischen. Ist doch die messianische Welt »die Welt allseitiger und integraler Aktualität« (vgl. GS I.3, 1235), wie Benjamin in Neue Thesen K, im Rahmen seiner Aufzeichnungen Über den Begriff der Geschichte notiert. Die Aktualität der messianischen Botschaft vom Kommen des Reiches Gottes bewusstzumachen, wie sie nahezu alle neutestamentlichen Texte bekunden, bildet das zentrale Anliegen der vorliegenden Abhandlung, ganz entgegen den bis in die zeitgenössische Theologie hinein vorherrschenden Zeitauffassungen zumal Hegels und Heideggers, die dem christlichen Begriff der messianischen bzw. eschatologischen Zeit völlig inkompatibel, ja konträr sind, wie nicht zuletzt aus den Lebenszeugnissen und dem Martyrium Edith Steins ersichtlich wird. Ganz im Gegensatz zum Geist ihrer Zeit wie dem Geist unserer Zeit, der zwischen Selbstübersteigerung und Nietzsches »Lust am Selbstuntergang« taumelt, konstatiert sie, dass die Kreuzesnachfolge Christi »eine starke und reine Freudigkeit« gebe, und die es dürften und könnten, »die Bauleute an Gottes Reich«, seien »die echtesten Gotteskinder« (vgl. GT II, 113).
Berlin, den 9. August 2012, dem 70. Todestag Edith Steins.
I. Der Kreuzestod Christi – der Anfang der Vollendung
Dass es seit längerem keine geschichtstheologische Deutung des Zeitgeschehens gibt, wie sie ein Salvian von Marseille im 5. Jahrhundert in De gubernatione Dei vorlegte, ist verständlich, da mit der Christianisierung der Völker Europas seit dem frühen Mittelalter die Geschichte der Kirche – trotz aller Spannungen und Konflikte – mit ihrer (profanen) Geschichte eng verknüpft war. Waren doch etliche Herrscher, wie das Königspaar Heinrich und Kunigunde, wie die Königin Mathilde, wie Stephan I. von Ungarn oder Ludwig IX. von Frankreich Heilige; einige wie Václav von Böhmen oder die skandinavischen Könige Erik und Knut sogar Märtyrer. Noch enger scheint das Band von profaner Herrschaft und Kirche seit dem Zeitalter der Reformation geknüpft, als Fürsten oder Könige zugleich als geistliches Oberhaupt ihrer Landeskirche figurierten. Entsprechend eng auch die Bindung im katholischen Raum, zu denken ist etwa an Reinhold Schneiders literarisches Porträt Philipp der Zweite. Oder Religion und Macht [Leipzig 1931]. Erst von der Französischen Revolution an zeichnet sich ein Bruch ab, wenngleich der Prozess der Säkularisierung bis ins 20. Jahrhundert hinein in erster Linie die geistigen und politischen Eliten erfasste, während die Volkskirchen, obschon eher in der Defensive, zumindest im ländlichen Raum weitgehend intakt blieben, ja in einigen Ländern, wie etwa Mexiko, den überlieferten Glauben erfolgreich gegen antichristliche Machthaber verteidigten.