Kurt Anglet

Vom Kommen des Reiches Gottes


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sondern allein einen religiösen Sinn. Die politische Bedeutung der Theokratie mit aller Intensität geleugnet zu haben ist das größte Verdienst von Blochs ›Geist der Utopie‹.« (GS II.1, 203) Denn nicht nur hat der Versuch ihrer politischen Fundierung eine Verwirrung der Begriffe zur Folge. Vielmehr nehmen unsere »Optionen«, unsere Ideen und Wunschvorstellungen den Platz ein, der ausschließlich Gott bzw. seinem Gesalbten gebührt. Und wie kein »Gesalbter« im Sinne eines profanen Herrschers dessen Platz behaupten kann, so obliegt das Kommen des Gottesreiches allein Gott und seinem Gesalbten, dem Messias und Menschensohn, durch die Geschichte hindurch – nicht zuletzt durch unsere Zeit hindurch, soweit sie dem dreieinigen Gott den Rücken gekehrt hat, um sich selbst zu inthronisieren. Nicht etwa auf dessen erklärte Feinde bezieht sich das Wort Jesu, sondern auf diejenigen, die unter Berufung auf Gott eine politische Theokratie zu errichten trachten: »Seit den Tagen Johannes’ des Täufers bis heute wird dem Himmelreich Gewalt angetan; die Gewalttätigen reißen es an sich.« (Mt 11,12) – Bis heute, d. h. bis auf den heutigen Tag wird dem Himmelreich und denen, die daran bauen, Gewalt angetan.

       II. Kleiner Exkurs zu den drei großen K – eine kleine Geschichtstheologie der Moderne

      Daher auch unsere Hegel-Kritik in früheren Abhandlungen wie auch die entschiedene Absage an Heidegger, dessen Popularität nicht zuletzt darin gründet, dass seine Philosophie unter vermeintlichem Rückgang auf den Ursprung des Denkens dem Gott Israels und Gott Jesu Christi den Rücken kehrt; bildet doch die Abkehr, die Lossage von Gott geradezu das Siegel eines Zeitalters, das aus sich heraus, aus seinen eigenen Quellen und Methoden seine Evidenz zu schöpfen trachtet. Und selbst wenn ein Heidegger nicht den Richtlinien einer säkularen Wissenschaft folgt, ja sie verachtet und das Sein des Menschen und seiner »Geschichtlichkeit« von jenem Ursprung her zu bestimmen sucht, wie in den Beiträge(n) zur Philosophie (Vom Ereignis), seiner sog. Philosophie der »Kehre« aus den dreißiger Jahren, die erst posthum 1989 anlässlich seines 100. Geburtstags erschien, ist dem vorletzten Kapitel DER LETZTE GOTT folgendes Epitheton vorangestellt: »Der ganz Andere gegen / die Gewesenen, zumal gegen / den christlichen.« – Es handelt sich in der Tat um den »Gott dieses Äons, dieser Weltzeit, der das Denken der Ungläubigen verblendet hat« (2 Kor 4,4). Hier, nicht erst im nationalsozialistischen Engagement Heideggers, wird der antichristliche Charakter eines Denkens offenbar, das sich ganz dieser Weltzeit verschrieben hat – einem »Chronos ohne Kairos«; einer Zeit, die keine Gnade, keine Erlösung kennt, sondern folgerichtig – ganz wie in der oben genannten Schrift – in einer Welt des Todes terminiert.

      Dass die Moderne keineswegs identisch ist mit den nihilistischen Tendenzen des Zeitalters; ja eine authentische Moderne von Anfang an aus dem Geist des Judentums oder des Christentums gegen seine Todesmächte ankämpft, ist bereits eingangs gesagt worden. Wie ein Fanal auf das folgende Jahrhundert liest sich daher Karl Kraus’ Apokalypse (Offener Brief an das Publikum) aus dem Jahre 1908 mit dem Bekenntnis: »Es ist meine Religion zu glauben, daß [das] Manometer auf 99 steht. An allen Enden dringen die Gase aus der Welthirnjauche, kein Atemholen bleibt der Kultur und am Ende liegt eine tote Menschheit neben ihren Werken, die zu erfinden ihr so viel Geist gekostet hat, daß ihr keiner mehr übrig blieb, sie zu nützen.« Bedenkt man, dass für Kraus die Luftschifffahrt das Modell für das Tempo des Fortschritts abgibt, so könnte man im digitalen Zeitalter darüber nur müde lächeln, wo doch monatlich eine Summe von 390 Billionen Dollar um den Globus gejagt wird, um seinen Teil am Mehrwert aller erwirtschafteten Gelder abzuschöpfen. Doch die Fehlkalkulationen waren damals nicht geringer, als man meinte, mit Hilfe der Innovationen zumal auf dem Gebiete der Kriegstechnik schneller voranzukommen, um am Ende im Sumpf der Schützengräben steckenzubleiben. Als Kraus seinen Brief 1922 seinem Buch Untergang der Welt durch schwarze Magie voranstellte, lachte keiner mehr, der zuvor in seinen Polemiken nicht mehr zu erkennen glaubte als eine Ansammlung satirischer Übertreibungen. Nicht erst hier dringt Kraus auf nicht weniger als auf die Entzauberung der Macht der modernen Medien im Zeichen der »Enthüllung«, der Apokalypsis, jener falschen Propheten, die Völkerhass und Krieg schönredeten, um sich nach dem Untergang aus der Verantwortung zu stehlen. Schon vor Kriegsbeginn hat Kraus in seinem Ein-Mann-Feldzug in der Fackel gegen ihr Lügengebaren angekämpft, bis hinein in die Mimik des Ausdrucks, die das Groteske der Presseberichte seiner Zeit buchstäblich aufspießt, um es auf die Anklagebank zu bringen, dagegen einen Prozess anzustrengen. Daher Benjamins treffende Charakteristik nicht so sehr in dem großen Kraus-Essay, sondern in dem kleinen Porträt (vgl. GS. II, 624 f.), demzufolge sich in Kraus »der großartigste Durchbruch des halachischen Schriftums mitten durch das Massiv der deutschen Sprache« ereigne. Ja man verstehe »nichts von diesem Mann, solange man nicht erkennt, daß mit Notwendigkeit alles, ausnahmslos Alles, Sprache und Sache, für ihn sich in der Sphäre des Rechts abspielt«. Erst von hier aus wird verständlich, wieso später Theodor Haecker in seinen Tag- und Nachtbüchern bekennt, er wolle die Fackel nicht geschrieben haben (vgl. ebd. 146). Denn in ihr wird auf dem Boden einer großen überkommenen Kultur einer Welt, einer Zeit der Prozess gemacht, die sich anschickt, ebendiese Kultur abzuschaffen. Bevor ihr Kraus in Die letzten Tage der Menschheit auch ein literarisches Denkmal setzte, hat er sie auf dem Feld der Sprache ausfindig zu machen gesucht, der Sprache seiner Zeit, der »grossen Zeit«. So lautet der Eingangsaufsatz zu Weltgericht: »IN DIESER GROSSEN ZEIT [ – ] die ich noch gekannt habe, wie sie so klein war; die wieder klein werden wird, wenn ihr dazu noch Zeit bleibt; und die wir, weil im Bereich organischen Wachstums derlei Verwandlung nicht möglich ist, lieber als eine dicke Zeit und wahrlich auch schwere Zeit ansprechen wollen; in dieser Zeit, in der eben das geschieht, was man sich nicht vorstellen konnte, und in der geschehen muß, was man sich nicht mehr vorstellen kann, und könnte man es, es geschähe nicht –; in dieser ernsten Zeit, die sich zu Tode gelacht hat vor der Möglichkeit, daß sie ernst genommen werden könnte; von ihrer Tragik überrascht, nach Zerstreuung langt, und sich selbst auf frischer Tat ertappend, nach Worten sucht; in dieser lauten Zeit, die da dröhnt von der schauerlichen Symphonie der Taten, die Berichte hervorbringen, und der Berichte, welche Taten verschulden: in dieser da mögen sie von mir kein einziges Wort erwarten. Keines außer diesem, das eben noch Schweigen vor der Mißdeutung bewahrt. Zu tief sitzt mir die Ehrfurcht vor der Unabänderlichkeit, vor der Subordination der Sprache vor dem Unglück.«

      Das »Schweigen vor der Mißdeutung« bewahren vermag nur einer, dem die falsche Eindeutigkeit der handfesten Parolen ebenso zuwider ist wie die Zweideutigkeit des Wortreichtums in Presse und Literatur, die in jenen Prozess verstrickt sind, und gegen die daher Kraus ankämpft – als ein von Presse und offiziellem Schrifttum Attackierter. Als solcher hat Kraus gegen seine Zeit, gegen die Mächte seiner Zeit gekämpft; wissend, ja in »Ehrfurcht vor der Unabänderlichkeit, vor der Subordination der Sprache vor dem Unglück«, was nicht weniger besagt, als dass alle Anklage der Klage der Unglücklichen eingedenk sein muss. Daher das Schweigen vor dem Sprechen, wie es dem Gebet eigentümlich ist, das sich ja nicht in einem leeren Wortschwall ergießen soll; aber nicht weniger eigentümlich auch der Anklage, die sich gegen jene wortreichen Ankläger zur Wehr setzt, die den ungeliebten Zeitgenossen durch Phrasen und Parolen einzuschüchtern, mundtot oder einfach lächerlich zu machen suchten. »Daß dieser Mann, einer der verschwindend wenigen, die eine Anschauung von Freiheit haben, ihr nicht anders dienen kann, denn als oberster Ankläger, das stellt seine gewaltige Dialektik am reinsten dar. Ein Dasein, das, eben hierin, das heißeste Gebet um Erlösung ist, das heute über jüdische Lippen kommt.« Anscheinend ein Selbstwiderspruch, »Dialektik«, insofern als oberster Ankläger im Allgemeinen allein derjenige auftreten kann, der in einem Staatswesen, in einem öffentlichen Raum höchste Autorität besitzt. Weder in diesem noch in jenem besaß Kraus Autorität – einzig aufgrund der Autorität göttlichen Rechts, das höher steht als alle profanen Gesetze, die in Staat und Gesellschaft herrschen, weil jenes Bewusstsein, genauer: Sprachbewusstsein, die Ehrfurcht des Anklägers vor den Klagen der Unglücklichen einschließt. In diesem Sinne war Kraus’ Wirken und Schreiben Anklage gegen die Mächte und Kräfte seiner Zeit und Gebet – »das heißeste Gebet um Erlösung, das heute über jüdische Lippen kommt«. Beides war es freilich insoweit, als ihm in all jenen Jahren, selbst in der Kriegszeit, ein Freiraum blieb, um aus einer noch gegenwärtigen großen europäischen Kultur und aus seiner eigenen jüdisch-christlichen Überlieferung zu schöpfen und