Kurt Anglet

Vom Kommen des Reiches Gottes


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Kriegen ihre Bestätigung erfahren und ihren Niederschlag vor allem in den Werken der »drei großen – Kraus, Kafka und Klee – gefunden, denen wir einen kleinen Exkurs widmen, und zwar nicht, weil ihre Namen in eine Hagiographie gehörten; viel zu widersprüchlich bzw. zu einseitig ihrer Kunst verpflichtet erscheint ihr Leben, als dass von ihm ein besonderes Licht ausginge. Vielmehr fällt das Licht der Offenbarung auf ihr Werk, in dem jedes auf seine Weise die finstersten Abgründe unserer Zeit erhellt; insofern buchstäblich ein Stück Apokalypsis (= Enthüllung, Offenbarung) verkörpert. Man könnte jene Namen durchaus um weitere ergänzen. So hat der frühe Chagall in La caduta dell’angelo (Der Sturz/Fall des Engels) [Öl auf Leinwand, 1923–1933–1947] mit den entsprechenden Variationen aus den Jahren 1933/34 ein Epochenbild geschaffen. Dann wäre Olivier Messiaen (1908–1992) zu nennen, dessen Quartett auf das Ende der Zeit mit dem wunderbaren Schlusssatz 1940 in deutscher Kriegsgefangenschaft entstand; auch spätere Kompositionen wie für Holz- und Blechbläser mit Schlagzeug Et exspecto resurrectionem mortuorum (1964). Auch eine zeitgenössische Komponistin wie Sofia Gubaidulina, auf deren Johannes-Passion wir kurz eingehen. Und nicht zuletzt Galina Ustwolskaja (1919–2006), über Messiaen hinaus die einzige Komponistin, der die Vertonung der Apokalypse gelungen ist, so in der Komposition Nr. 1 »Dona nobis pacem« (1972), in der Komposition Nr. 2 »Dies irae« (1972/73), Komposition Nr. 3 »Benedictus, qui venit« (1974/75), Sinfonie Nr. 2 » wahre, ewige Seligkeit!« (1979), Sinfonie Nr. 3 »Jesus Messias, errette uns!« (1983), einer Anrufung, die in Sinfonie Nr. 4 (1985/87) wie zuvor mit knappen Worten von Hermann dem Lahmen (Hermannus contractus, 1013–1054) untermauert wird. Schließlich in Sinfonie Nr. 5 »Amen« die Vertonung des Vaterunsers.

      Verständlich, dass sich einer hedonistisch gestimmten (Post-)Moderne der theologische Gehalt einer Musik nicht erschließt, deren unaufhörliches procedendo den Eindruck vermittelt, als ob ein Engelsheer ganze Panzerarmeen niederwalzte. So vermerkt jüngst die Musikwissenschaftlerin Anja Städtler in ihrem Essay Kunst und Ethik. Spiritualität als Grundlage des Schaffens bei Komponistinnen und Komponisten aus dem Osten Europas (Sonderbeilage der NZZ zum Lucerne Festival Sommer 2012 unter dem Thema »Glaube« [9. August 2012], 3) anlässlich der Aussage der Komponistin »Meine Musik ist geistig, aber nicht religiös«, damit bringe sie »zum Ausdruck, dass sie ihre Kunst als individuelle Angelegenheit und individuellen Schöpfungsakt verstanden wissen will, der einen spirituellen Hintergrund hat, aber nicht mit traditionellen, kirchlichen Formen und Ritualen gleichgesetzt werden soll«. Zunächst ist dazu anzumerken, dass jegliche große Musik, auch tiefreligiöse, auf einem »individuellen Schöpfungsakt« beruht, und zwar aus dem rein theologischen Grund, weil jedwedes Charisma einem Einzelnen, also einem Individuum zugeteilt wird, auch wenn das daraus resultierende Wirken der Allgemeinheit dient. [Ein Pianist etwa, der zeitlebens nur für sich spielte, wäre eine ähnlich absurde Figur wie ein Beter, der lediglich für sich betete.] Außerdem lautet das Zitat genau: »Meine Werke sind zwar nicht religiös im liturgischen Sinne, aber vom religiösen Geist erfüllt, und – wie ich es empfinde – sie würden am besten in einem Kirchenraum erklingen, ohne wissenschaftliche Einführungen und Analysen. Im Konzertsaal, also in ›weltlicher‹ Umgebung klingen sie anders …« (Galina Ustwolskaja, Musikverlag Hans Sikorski, Hamburg 2006, 7). Allein ein Blick auf die oben genannten Titel zeugt von dem religiösen, ja hochtheologischen Charakter ihrer Musik. Dass sich bei deren Aufführung Galina Ustwolskaja »wissenschaftliche Einführungen und Analysen« verbeten hat, liegt auf der Hand in Anbetracht der massiven Unkenntnis des Liturgischen unter einigen Musikwissenschaftlern: Nicht nur würde ihr Benedictus aufgrund seiner Überlänge in keinem Sanctus aufgehen; vielmehr verweist Viktor Suslin in seinem Vorwort auf den Komponisten Boris Tischtschenko, auf dessen Vergleich der »›Dichte‹ ihres Stils mit dem gebündelten Licht des Laserstrahls, der in der Lage ist, Metall zu durchdringen« (vgl. ebd. 6). M. a. W., die Gemeinde wäre bei dem anschließenden eucharistischen Hochgebet, dem Höhepunkt der gesamten Liturgie, so verstört, dass so etwas wie eine innere Sammlung gar nicht zu denken wäre; ganz abgesehen davon, dass nach dem neueren Liturgieverständnis der katholischen Kirche die Gemeinde zu einer participatio actuosa, also zu einer aktiven Mitfeier der Liturgie, gehalten ist. Was schließlich die orthodoxe Liturgie betrifft, so beruht deren Gestaltung auf dem Chorgesang, den Ustwolskajas Musik so wenig kennt wie jene die Instrumentalmusik.

      Allerdings hat auch die neuere Theologie kaum ein Verhältnis zur Moderne noch zur ureigenen neutestamentlichen Eschatologie gefunden. Bezeichnenderweise blieb in Karl Barths Dogmatik die Eschatologie ungeschrieben. »Sicher sei nur, dass er sie unter den Titel der ›Apokalypsis‹ stellen würde.« Und es klingt wie ein Treppenwitz der Geschichte, wenn Barth anschließend gegenüber seinem letzten Assistenten Eberhard Busch, der nach ihr fragte, bekennt: »Wenn der Hitler nicht dazwischen getreten wäre und ihn so lange in Atem gehalten hätte, dann wäre er vielleicht noch mit der Dogmatik fertig geworden.« (Busch, Meine Zeit mit Karl Barth, 444) Dabei hätte jene Zeit nicht nur reichlich Anschauungsunterricht für seine »Apokalypsis« geboten. Vielmehr entsprach sie der Apokalypsis, wie sie in Klees Bilderwelt und in Kafkas Schriften zum Ausdruck gelangt. Nicht nur dass Barth vor Kafkas Schloss-Fragment kapituliert (vgl. ebd. 512). »Er verstehe diese moderne Kunst einfach nicht« (ebd. 402). Denn »die modernen Gedichte, die er durchweg nicht mag, die modernen Bilder und Musikstücke, das alles sei anscheinend zu verstehen als ein endloses Sichausbreiten und Sichernstnehmen einer individualistischen Subjektivität.« Wäre dem so, so könnte bereits von ihr im Hinblick auf die Genieästhetik der Vormoderne die Rede sein. Doch um bei der modernen Prosa zu verbleiben – allein hier wird die individuelle Erfahrungswelt auf das Kommende hin überschritten. Kaum zufällig setzt Adalbert Stifters letzte Erzählung Aus dem bairischen Walde nach einem langgezogenen Spätsommer (»Der October war so sonnig und warm, wie ich selten einen erlebt hatte«) mit einem fulminanten Wintereinbruch ein, so dass »achtzigjährige Männer sagten, daß sie das nie erlebt hätten«. Und der Erzähler scheint über die Jahrhundertschwelle hinwegzuschauen, wenn er konstatiert: »Man konnte nur das Toben anschauen und hatte keine Ahnung, wohin das führen werde.« (Vgl. Sämtliche Erzählungen Bd. II, 1526 ff.) Wo Stifter endet, da beginnt Kafkas Schloss-Fragment mit den Worten: »Es war spät abends, als K. ankam. Das Dorf lag in tiefem Schnee. Vom Schloßberg war nichts zu sehen, Nebel und Finsternis umgaben ihn, auch nicht der schwächste Lichtschein deutete das große Schloß an.« Nicht etwa Europas Landkarte sollte Kafkas Landvermesser neu vermessen; das war kurz zuvor in Versailles und Trianon geschehen. Sondern »das Reich des Fragwürdigsten«, das Reich des Todes, von dem Heideggers Philosophie Zeugnis ablegt: »die verborgene Geschichte der großen Stille«, die sich bald über Europa herabsenken wird. Von ihr zeugt nicht allein die große Literatur der Moderne, mehr noch die Musik in der »Detonation des Schweigens«, wie es im musikalischen Schaffen Galina Ustwolskajas zum Ausdruck gelangt, und zwar durch einen doppelten Bruch und die daraus resultierende persönliche Isolation bestimmt: einmal durch den Bruch mit ihrem Lehrer Schostakowitsch, dessen Heiratsantrag sie empört zurückwies; dann durch ein mehrjähriges Schweigen infolge des mysteriösen Todes eines befreundeten Komponisten Anfang der sechziger Jahre. Dass sie danach nicht einfach ihre frühere, durchaus eigenständige Kompositionsweise fortsetzte oder gar aus einer inneren Trauer heraus der schwermütigen Musik des von ihr verehrten Schubert nacheiferte, liegt auf der Hand: Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings im Jahre 1968 schien die Sowjetherrschaft nach innen wie außen auf unabsehbare Zeit so gefestigt und die politische Eiszeit im sog. Kalten Krieg auf ihren Höhepunkt gelangt, dass es letzthin nur die Wahl gab zwischen einer resignierenden Unterwerfung bzw. einem melancholischen Rückzug ins eigene Innere oder aber einem Voran, ebenjenem Ton eines unablässigen procedendo, den ihre Kompositionen im Geiste der christlichen Apokalyptik in den folgenden Jahren anschlagen werden, um den zerstörerischen Mächten ihrer Zeit den Untergang, den Dies Irae, zu verkünden. Dass es sich hierbei nicht um Kirchenmusik im herkömmlichen Sinne handelt, liegt auf der Hand: Keine Glocken können so laut läuten, kein Chor so laut singen und keine Orgelregister gezogen werden, wie jene Cluster auf dem Klavier ertönen, wie jene Pauken- und Posaunenklänge oder Sirenenklänge der Streicher, die das Nahen des Gerichts bzw. das Benedictus dessen, der da kommt, ankündigen. Denn anders als ein fader christlicher Humanismus, der seinen Frieden mit der Welt geschlossen hat, in unseren Tagen glaubt, hat die Apokalypse nur zu fürchten, wer das Gericht zu fürchten