Kurt Anglet

Vom Kommen des Reiches Gottes


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nicht auf den messianischen Propheten hört. Mehr noch deutet das Gebet der christlichen Urgemeinde um Furchtlosigkeit nach der Freilassung des Petrus und Johannes durch den Hohen Rat (vgl. Apg. 4,23–31) auf den universalen Zusammenhang von messianischer Erlösung und dem Gericht über Völker und Herrscher, insofern Gott zunächst als Schöpfer des Kosmos gepriesen wird, um dann den Beginn von Ps 2 zu zitieren: »Warum toben die Völker, / warum machen die Nationen vergebliche Pläne? Die Könige der Erde stehen auf, / und die Herrscher haben sich verbündet / gegen den Herrn und seinen Gesalbten. Wahrhaftig, verbündet haben sich in dieser Stadt gegen deinen heiligen Knecht Jesus, den du gesalbt hast, Herodes und Pontius Pilatus mit den Heiden und Stämmen Israels, um alles auszuführen, was deine Hand und dein Wille im Voraus bestimmt haben.« M. a. W., es geht hier nicht um irgendeine abstrakte Gerichtsidee oder um einen entsprechenden Gerechtigkeitsgedanken. Vielmehr wird hier – im Bündnis eines Herodes und Pontius Pilatus – genau der geschichtliche Schnittpunkt benannt, in dem Profan- und Heilsgeschichte, die Gewalten des alten und des neuen Äons, aufeinandertreffen, und zwar nicht aufgrund irgendeiner historischen Kontingenz, sondern »um alles auszuführen, was deine Hand und dein Wille im Voraus bestimmt haben«.

      Das bedeutet nicht weniger, als dass sowohl die konkrete Machtausübung eines Herodes und eines Pontius Pilatus wie ihr endgültiges Scheitern ganz in der Hand Gottes liegen. Auch wird immer wieder gern auf die Gütergemeinschaft der Urgemeinde als Modell eines authentischen Christentums hingewiesen, von der im darauffolgenden Abschnitt die Rede ist (vgl. Apg 4,32–37). Doch ebenso wichtig, ja vielleicht noch wichtiger ist der Abschluss des vorausgehenden Gebets der Urgemeinde, die fortfährt: »Doch jetzt, Herr, sieh auf ihre Drohungen und gib deinen Knechten die Kraft, mit allem Freimut dein Wort zu verkünden. Streck deine Hand aus, damit Heilungen und Zeichen und Wunder geschehen durch den Namen deines heiligen Knechtes Jesus. Als sie gebetet hatten, bebte der Ort, an dem sie versammelt waren, und alle wurden mit dem Heiligen Geist erfüllt, und sie verkündeten freimütig das Wort Gottes.«

      Denn hier ereignet sich gewissermaßen das »zweite Pfingsten« (vgl. Apg 2,1–13), die Geburtsstunde der Parrhesia, der »freimütigen Rede«, wie sie bereits die Apostel zuvor auf dem Tempelplatz und vor dem Hohen Rat bewiesen haben. Kündigte sich dort die Macht des Heiligen Geistes in einem Sturm an, unter der Ausbreitung von Feuerzungen, der Gabe, in fremden Sprachen zu reden, so jetzt in einem Beben, das der kleinen Schar der Urgemeinde die Kraft schenkt, den Drohungen der Mächtigen standzuhalten und »mit Freimut« [μετà παρρησίας = metà parrhesías] das Wort Gottes zu verkünden.

      Mehr als in irgendeinem Manifest politischer Natur oder in einer gutmeinenden ethischen Absichtserklärung liegt in diesem Gebet der Urgemeinde gewissermaßen die pneumatische Sprengkraft des christlichen Glaubens. Und zwar nicht allein in einem historischen Sinne, im Hinblick auf »die Stämme Israels« wie die Völker des Römischen Imperiums. Es ist der gewaltige eschatologische Impetus jenes Geistes, der in der Kraft jenes Bebens ganze Reiche zum Einsturz bringt – eines nach dem anderen. Allein aus diesem Grunde ist eine geschichtstheologische Betrachtung einer jeden Epoche nicht allein von kultur- oder kirchengeschichtlicher Bedeutung. Vielmehr trägt sie dem im Kommen begriffenen Christus Rechnung, wie es auch im Epheser-Hymnus (Eph 1,10) heißt: »Er [Gott] hat beschlossen, die Fülle der Zeiten heraufzuführen [wörtlich: im Blick auf den Heilsplan für die Erfüllung der Zeiten], / in Christus alles zu vereinen, alles, was im Himmel und auf Erden ist.«

      Und zwar gilt jener »Heilsplan [griech.: oikonomia] für die Erfüllung der Zeiten« bereits für die Zeiten vor Christus wie für Gegenwart und Zukunft. Mit Blick auf das Heilsgeschehen vor Christus hat Irenäus von Lyon in seinem Buch gegen die Irrlehren (Adversos haeresos, Lib. 4, Cap. 2,14) Gottes Wirken umschrieben: »Von Anfang an hat Gott den Menschen gebildet im Hinblick auf die Gaben, die er ihm schenken wollte. [ – ] Die Patriarchen erwählte er um ihres Heiles willen. Im Voraus formte er das ungelehrte Volk, um die Ungelehrigen zu lehren, Gott zu folgen. Im Voraus unterrichtete er die Propheten, um die Menschen daran zu gewöhnen, den Geist Gottes zu tragen und Gemeinschaft mit ihm zu haben. Der selbst niemanden braucht, gewährte denen, die ihn brauchen, seine Gemeinschaft. Denen, die sein Wohlgefallen besaßen, entwarf er wie ein Baumeister den Plan für den Aufbau des Heils.« Erst recht aber gilt dies im Hinblick »auf den Heilsplan für die Erfüllung der Zeiten«: »in Christus alles zu vereinen, alles, was im Himmel und auf Erden ist«. Entscheidend ist also die theozentrische bzw. christozentrische Fundierung christlicher Geschichtsdeutung. M. a. W., es kann keinerlei christliche Geschichtsdeutung auf dem Fundament des Deutschen Idealismus, des Marxismus, der Lebensphilosophie, Nietzsches, Heideggers oder irgendwelcher postmoderner Geschichtskonzeptionen geben, weil alle diese säkularen Geschichtsauffassungen Gott nicht als Lenker der menschlichen Geschichte kennen, geschweige denn in Christus die anakephaleiosis, d. h. die »Zusammenfassung« alles Geschehens in Christus als Haupt erkennen. Es kennzeichnet all jene Geschichtsauffassungen, dass der Mensch – als Gestalter, ja als Schöpfer seiner Geschichte und seines Geschicks – den Platz Gottes einnimmt, und sei es auch um – wie etwa Cioran – einer ausweglosen Skepsis, der Melancholie einer unauslotbaren Trostlosigkeit zu huldigen.

      Gern wird in diesem Zusammenhang auf die Errungenschaften der europäischen Freiheitsgeschichte verwiesen. Diese mögen unbestritten sein in Anbetracht von Unmündigkeit und Unterdrückung im Zeitalter des Absolutismus. Nur ist der Traum der Vernunft, nach ihren eigenen Gesetzen die Welt zu regieren, auf den Kriegsschauplätzen und in den Todeslagern des 20. Jahrhunderts zum Albtraum geworden. Goyas Capriccio »Der Traum der Vernunft gebiert Ungeheuer« (1797) greift mehr als ein Jahrhundert voraus: Angesprochen, was für ihn das erste Dokument des modernen Antisemitismus sei, antwortete Raul Hilberg, der Nestor der Holocaust-Forschung, es sei ein Brief Hitlers aus dem Jahre 1919, in dem dieser von einem »Antisemitismus der Vernunft« gegenüber dem gefühlsbetonten Antisemitismus der Vergangenheit spricht [vgl. Geschichte reicht in die Gegenwart. Ein Gespräch mit Raul Hilberg, in: NZZ Nr. 287 (10.12.2002), 34]. Denn das Monströse, buchstäblich »Ungeheuerliche« der menschlichen Vernunft tritt da zutage, wo der Mensch sich nicht mehr als der Vernehmende, also gegenüber Gott als der Gehör und Gehorsam Schenkende, begreift, sondern sich anmaßt, selbst den Platz Gottes in der Geschichte im Geiste seiner Selbstverabsolutierung, ja seiner Selbstübersteigerung einzunehmen. Nichts anderes aber ist seit Goyas Zeiten, seit der Ära Napoleons in der europäischen Geschichte etliche Male geschehen: Allein deshalb kann es keinerlei Substitution des christlichen Gottesbegriffs durch eine säkulare Geschichtskonzeption geben, selbst wo diese sich – wie noch die Kriegsmächte des Ersten Weltkriegs – auf Gott beruft. Das in aller Unmissverständlichkeit zum Ausdruck gebracht zu haben, ist nicht zuletzt das Verdienst von Erik Petersons Abhandlung Der Monotheismus als politisches Problem aus dem Jahre 1935, wo – über ihren historischen Gegenstand, die römische Kaiserzeit, hinaus mit einem Seitenhieb gegen Carl Schmitts »politische Theologie« – es abschließend heißt: »Die Lehre von der göttlichen Monarchie mußte am trinitarischen Dogma und die Interpretation der Pax Augusta an der christlichen Eschatologie scheitern. Damit ist nicht nur theologisch der Monotheismus als politisches Problem erledigt und der christliche Glaube aus der Verkettung mit dem Imperium Romanum befreit worden, sondern auch grundsätzlich der Bruch mit jeder ›politischen Theologie‹ vollzogen, die die christliche Verkündigung zur Rechtfertigung einer politischen Situation missbraucht. Nur auf dem Boden des Judentums oder Heidentums kann es so etwas wie eine ›politische Theologie‹ geben. Doch die christliche Verkündigung von dem dreieinigen Gott steht jenseits von Judentum und Heidentum, gibt es doch das Geheimnis der Dreieinigkeit nur in der Gottheit selber, aber nicht in der Kreatur. Wie denn auch der Friede, den der Christ sucht, von keinem Kaiser gewährt wird, sondern allein ein Geschenk dessen ist, der ›höher ist als alle Vernunft‹.« [Hervorh. K. A.]

      Wenn aber Gott allein der Schenkende, der Mensch jedoch der Empfangende ist, wie auch aus den oben zitierten Ausführungen des Irenäus von Lyon ersichtlich wird, dann kann es ebenso wenig eine politische Fundierung des Gottesreiches auf dem Boden des Profanen in einer Art Synthese von christlicher Reich-Gottes-Erwartung und politischer Weltverantwortung geben. Es entbehrt nicht der Ironie, dass nicht etwa ein christlicher Traditionalist oder ein politisch Konservativer das in aller Unmissverständlichkeit zum Ausdruck gebracht hat, sondern der später dem Marxismus zugewandte Philosoph Walter Benjamin, und zwar im Anschluss an die eingangs zitierten