Kurt Anglet

Vom Kommen des Reiches Gottes


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von 101 Jahren starb, zufolge »die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts«, wird mit der Selbstzerfleischung der christlichen Völker den apokalyptischen Mächten der Moderne Tür und Tor geöffnet. Doch selbst hier noch keine Scheidung, kein radikaler Bruch angesichts der Volksverbundenheit der Kirchen; bezeichnenderweise ist in der eingangs erwähnten geschichtstheologischen Untersuchung Walter Künneths Der große Abfall im Untertitel von »der Begegnung [!] zwischen Nationalsozialismus und Christentum« die Rede, obschon es sich in Wahrheit um eine handfeste Konfrontation handelte, die etlichen christlichen Glaubenszeugen, wie einem Dietrich Bonhoeffer noch in den letzten Kriegstagen, das Leben kostete. Und auch das eingangs zitierte Werk des katholischen Theologen Georg Feuerer Unsere Kirche im Kommen spricht im Untertitel von einer »Begegnung von Jetztzeit und Endzeit«, während doch aus christlicher Sicht Jetztzeit und Endzeit seit Christus sich nicht bloß »begegnen«, sondern einander entsprechen.

      Denn keineswegs erst im allgemeinen Zeitgeschehen, im Verlauf der Geschichte, sondern im Christusgeschehen selbst zeichnet sich die Konstellation von messianischer Jetztzeit und eschatologischer Endzeit ab. So nach dem Matthäusevangelium beim Verhör Jesu vor dem Hohen Rat, wo es zunächst angesichts der verschiedenen Anschuldigungen heißt: »Jesus aber schwieg. Darauf sagte der Hohepriester zu ihm: Ich beschwöre dich bei dem lebendigen Gott, sag uns: Bist du der Messias, der Sohn Gottes? Jesus antwortete: Du hast es gesagt. Doch ich erkläre euch: Von jetzt an werdet ihr den Menschensohn zur Rechten der Macht sitzen und auf den Wolken des Himmels kommen sehen.« (Mt 26,63 f. – Es überrascht, dass die Parallelstelle Mk 14,62 von den Herausgebern der Einheitsübersetzung nicht angegeben ist; vice versa nicht dort auf Mt 26,64 verwiesen ist, sondern jeweils auf Mk 13,26.) In Anlehnung an zwei Schriftworte aus Dan 7,13 und Ps 110,1 bekennt der seinem Todesurteil und seiner Kreuzerhöhung entgegensehende Christus nicht nur seine Messianität, sondern in einem Atemzug seine eschatologische Herrschaft, die mit seinem Todesurteil öffentlich gemacht wird. War sie bislang über seinen Jüngerkreis hinaus weitgehend verschwiegen, lediglich ausnahmsweise im persönlichen Gespräch – ob mit der Samariterin oder mit Martha und Maria, den Schwestern des Lazarus – bekannt, so ist mit dem Eingeständnis seiner Messianität nicht allein sein Todesurteil wegen Gotteslästerung gesprochen: »Da zerriss der Hohepriester sein Gewand und rief: Er hat Gott gelästert! Wozu brauchen wir noch Zeugen? Jetzt habt ihr die Gotteslästerung selbst gehört. Was ist eure Meinung? Sie antworteten: Er ist schuldig.« (Mt 26,65 f.) Was in diesem Zusammenhang leicht übersehen wird, ist der theologisch höchst bedeutsame Sachverhalt, dass hier, also »von jetzt an«, d. h. im Augenblick seiner äußersten Erniedrigung und Demütigung, seine endzeitliche Herrschaft ihren Anfang nimmt. Heißt es doch nach dem allgemeinen Schuldspruch: »Dann spuckten sie ihm ins Gesicht und schlugen ihn. Andere ohrfeigten ihn und riefen: Messias, du bist doch ein Prophet! Sag uns, wer hat dich geschlagen?« Doch nicht genug, denn anschließend folgt die tiefste aller Demütigungen: die Verleugnung durch Petrus (Mt 26,69–75), des Ersten seiner Jünger, der ihn vordem als Messias bekannt hat (vgl. Mt 16,13–20).

      Nirgendwo wird der Zusammenhang von Jesu Messianität und seiner Hoheit als Menschensohn, zwischen seinem Kreuzestod und seiner eschatologischen Herrschaft so manifest wie hier, nach Mt 26,64 bzw. Mk 14,62. Es wird offenkundig, dass diese nicht etwa irgendwann am Ende aller Zeiten einsetzt als vielmehr mit dem Werk unserer Erlösung ihren Anfang nimmt. Theologisch gesprochen: Erlösung und Vollendung, Christologie/Soteriologie und Eschatologie gehören aufs engste zusammen: Das Kommen des Menschensohns, das Kommen des Reiches Gottes vollzieht sich nicht irgendwann nach seiner ersten Ankunft, sondern ist mit seiner ersten Ankunft gegeben. Mit ihrer Vollendung im Kreuzestod nimmt die Vollendung der Zeit ihren Anfang – nicht erst mit der Wiederkunft Christi.

      Daher ist auch im Grunde genommen nicht ganz zutreffend die Rede von einer »eigentümlichen Dialektik der christlichen Eschatologie, wonach das messianische Reich zwar schon gekommen ist, aber doch erst in der zweiten Ankunft Christi seine Vollendung erfahren wird« – so Erik Peterson, dem wir die Wiederentdeckung der christlichen Eschatologie verdanken, in seinem Spätwerk Frühkirche, Judentum, Gnosis [Darmstadt 1982, 59; Erstausg.: Freiburg i. Br. 1959]. Gewiss wird das messianische Reich, das mit Christus schon gekommen ist, bei seiner zweiten Ankunft seine Vollendung erfahren. Nur setzt der Prozess der Vollendung nicht erst bei seinem zweiten Kommen ein, sondern nimmt seinen Anfang im Prozess gegen Jesus Christus, der vor dem Hohen Rat eingeleitet wird und – nach der Episode seiner Verspottung und der Verleugnung durch Petrus – mit der Auslieferung an Pilatus und dessen richterlichen Schuldspruch endet (vgl. Mt 27,26). Es folgen die Verspottung durch die (heidnischen) Soldaten sowie die Kreuzigung und der Tod Jesu – gleichsam das Ende der ersten Ankunft Jesu und der Anfang seiner eschatologischen Herrschaft, die vom Kreuz ihren Ausgang nimmt. Denn nicht erst am Ende der Zeiten, sondern vom Kreuz Christi aus erscheinen die Mächte dieser Weltzeit als Gerichtete – vorab der Hohe Rat und das Imperium Romanum, bis heute der Inbegriff aller Weltmacht. Deshalb kann mit Feuerer nur insofern davon die Rede sein, dass Unsere Kirche im Kommen ist, weil in Christus bereits das Reich Gottes gekommen und die Jetztzeit zur Endzeit geworden ist. Und deshalb vollzieht sich das »Kommen der Kirche« als Vorausbotin des mit Macht kommenden Gottesreiches unter dem Zeichen des Kreuzes [was übrigens der frühe Peterson in seiner Auslegung des ersten Korintherbriefes zutreffend beschrieben hat, insofern er die Parusie Christi als Apokalypsis, als Enthüllung, im Gegensatz zu seiner ersten Ankunft fasst, die im Mysterium vor sich ging; vgl. ebd. 397] bzw. des »geschlachteten Lammes«, das im Blutzeugnis der christlichen Märtyrer seine Entsprechung findet (vgl. Offb 12,11: »Denn sie haben ihn [den »Ankläger unserer Brüder« = Satan] besiegt durch das Blut des Lammes / und durch ihr Wort und Zeugnis; / sie hielten ihr Leben nicht fest, / bis hinein in den Tod«). Christi zweite Ankunft bildet gewissermaßen den Schlusspunkt jenes Prozesses, der von seiner Verurteilung ausgeht – nun aber um am Jüngsten Tag seinerseits den Mächten dieses Äons, dieser Weltzeit, das Urteil zu sprechen. Alle Geschichte nach Christus gleicht daher einem Prozess, dessen Urteil bis zum Jüngsten Tag aussteht.

      Darum ist es kein Zufall, wenn Petrus im Haus des römischen Hauptmanns Kornelius, gleichsam dem Ursprungsort der Heidenmission, seine Rede, in der er Christus als den Gekreuzigten und Auferstandenen bekennt, mit den Worten beschließt: »Und er hat uns geboten, dem Volk zu verkündigen und zu bezeugen: Das ist der von Gott eingesetzte Richter der Lebenden und der Toten. Von ihm bezeugen alle Propheten, dass jeder, der an ihn glaubt, durch seinen Namen die Vergebung der Sünden empfängt.« (Apg 10,42 f.) Es ist bezeichnend, dass hier, also im Hause des römischen Hauptmanns, Christus als »der von Gott eingesetzte Richter der Lebenden und der Toten« proklamiert wird. Denn zuvor – in seinen Reden auf dem Tempelplatz wie vor dem Hohen Rat – hat Petrus Jesus lediglich als Messias bekannt, durch dessen Name Heilungen geschehen und Israel die Sünden vergeben würden. Doch bereits hier, in seiner Rechenschaft vor dem Hohen Rat wegen der Heilung eines Gelähmten, verweist Petrus auf die universale Bedeutung des messianischen Namens Jesu: »Wenn wir heute wegen einer guten Tat an einem kranken Menschen darüber vernommen werden, durch wen er geheilt worden ist, so sollt ihr alle und das ganze Volk Israel wissen: im Namen Jesu Christi, des Nazoräers, den ihr gekreuzigt habt und den Gott von den Toten auferweckt hat. Durch ihn steht dieser Mann gesund vor euch. Er [Jesus] ist der Stein, der von euch Bauleuten verworfen wurde, der aber zum Eckstein geworden ist. Und in keinem anderen ist das Heil zu finden. Denn es ist uns Menschen kein anderer Name unter dem Himmel gegeben, durch den wir gerettet werden sollen.« (Apg 4,10–12)

      Hier, vor dem Hohen Rat, weist Petrus im Geist der Umkehr auf den messianischen Erlöser, der Heilung und Rettung bringt, hin – nicht auf den Richter und Rächer des Bösen. Deshalb erklärt er zuvor, in seiner Rede auf dem Tempelvorplatz: »Nun, Brüder, ich weiß, ihr habt aus Unwissenheit gehandelt, ebenso wie eure Führer [!]. Gott aber hat auf diese Weise erfüllt, was er durch den Mund aller Propheten im Voraus verkündigt hat: dass sein Messias leiden werde. Also kehrt um, und tut Buße, damit eure Sünden getilgt werden und der Herr Zeiten des Aufatmens kommen lässt und Jesus sendet als den für euch bestimmten Messias. Ihn muss freilich der Himmel aufnehmen bis zu den Zeiten der Wiederherstellung von allem, die Gott von jeher durch den Mund seiner heiligen Propheten verkündet hat.« (Apg 3,17–21) Unter »den Zeiten der Wiederherstellung«, der Apokatastasis, ist allerdings keineswegs, wie ein Origenes († 253/254) vermeinte, eine Preisgabe des Gerichtsgedankens