keine notwendige Voraussetzung des Schauens Christi ist, sondern dass es sich bei dieser unmittelbaren Schau um eine glaubensunabhängige, von außen ‚geschenkte‘ Erkenntnis des Menschen handelt, worauf ja der Begriff der ‚Offenbarung‘ auch hinweist. „Auch in Sachen Gott sind wir nicht alle Blinde, die im Dunkeln tappen. Auch hier gibt es Personen, denen das Sehen geschenkt worden ist“18.
3.4 Christliche Kunst
Weil der christliche Glaube in Christus den inkarnierten Logos des Schöpfers erblickt, spielt für Ratzinger der Verweischarakter der christlichen Kunst auf ebendiesen Logos eine besonders große Rolle. Hier hat für ihn z.B. der kosmische Charakter der liturgischen Musik seinen Ort. Dabei geht es ihm um ein „Mitsingen mit dem All“, das „sich auf die Spur des Logos“19 begibt. Dazu braucht es eine Musik, die, wie Ratzinger in Anlehnung an Platon und Aristoteles beschreibt, „die Sinne in den Geist hineinzieht und so den Menschen zur Ganzheit bringt. Musik, die die Sinne nicht aufhebt, aber sie in die Einheit des Geschöpfes Mensch hineinstellt. Sie erhöht den Geist gerade, indem sie ihn mit den Sinnen vermählt, und sie erhöht die Sinne, indem sie sie mit dem Geist eint“20. Auf diese Weise entspricht sie nach Ratzinger zutiefst dem Menschen als einem Wesen aus Materie und Geist. Indem sie den Geist anspricht und ihn auf den Logos hin ausrichtet, bleibt in ihr „eine letzte Nüchternheit, eine tiefere Rationalität bestehen, die sich dem Absinken ins Irrationale und Maßlose entgegenstellt.“21 Der für die Liturgie wichtige Maßstab logosgemäßer Musik muss für Ratzinger demnach die „Integration des Menschen nach oben zu und nicht die Auflösung in den gestaltlosen Rausch oder die bloße Sinnlichkeit“22 sein.
So zeigt sich für Ratzinger in der Kirchenmusik die „‚nüchterne Trunkenheit‘ des Glaubens – Trunkenheit, weil alle Möglichkeiten der bloßen Rationalität überschritten werden. Aber nüchtern bleibt dieser ‚Rausch‘, weil Christus und der Geist zusammengehören, weil diese trunkene Sprache doch ganz in der Zucht des Logos bleibt, in einer neuen Rationalität, die über alle Worte hinaus dem einen Urwort dient, das der Grund aller Vernunft ist.“23
Ein Spezialfall der auf den Logos ausgerichteten Kunst im Christentum sind Christusdarstellungen, die z.B. in Form von Ikonen das ‚Schauen auf Christus‘, auf den fleischgewordenen Logos selbst ermöglichen. Ratzinger sieht darin die Außenseite der beschriebenen möglichen innerlichen Schau des Logos Gottes. Trotz der Abhebung der unmittelbaren Gottesschau der Heiligen betont Ratzinger nämlich, dass der große Sehende Christus bleibt, und „für uns alle gilt: ‚Wer mich sieht, hat den Vater gesehen.‘ (Joh 14,9)“24. Auch die ‚normalen‘ Gläubigen haben im Glauben demnach Zugang zu Gott, indem sie ihren Blick ganz auf Christus richten, in welchem der Logos Gottes Fleisch geworden ist. Aus diesem Bewusstsein heraus ist in der Ikonen-Kunst, „aber auch in den großen abendländischen Bilderwerken der Romanik … die Erfahrung, die Kabasilas schildert, von innen nach außen gewandert und so mitteilbar geworden.“25
Das Schauen des göttlichen Logos geschieht hier also zwar nicht in der unmittelbaren inneren Schau der Heiligen, aber auch nicht auf dem ‚Umweg‘ über die Schönheit der durch den Logos strukturierten Schöpfung bzw. der durch sie inspirierten Kunst, sondern durch den Anblick des in der Kunst dargestellten Menschen Jesus als dem inkarnierten Logos Gottes selbst. „Das Hinschauen auf die Ikone, überhaupt auf die großen Bilder christlicher Kunst, führt uns einen inneren Weg, einen Weg der Überschreitungen, und bringt uns so, in dieser Reinigung des Schauens, die eine Reinigung des Herzens ist, die Schönheit zu Gesicht oder wenigstens einen Strahl von ihr. Gerade so bringt sie uns mit der Macht der Wahrheit in Berührung.“26
Aufgrund dieses Aufscheinens der Wahrheit in der christlichen Kunst ist für Ratzinger neben den Heiligen der Kirche die Kunst und Schönheit, die der Glaube in seiner Geschichte hervorgebracht hat, allem Negativen entgegen „die wahre Apologie des Christlichen, sein überzeugender Wahrheitsbeweis.“27 Dieser „Ausdruck, den sich der Glaube in der Geschichte zu schaffen vermochte, zeugt für ihn, für die Wahrheit, die hinter ihm steht.“28
3.5 Die notwendige Passion der Schönheit
Zusammenfassend kann man sagen, dass nach Ansicht Ratzingers die ästhetische Vernunft des Menschen ihm durch die Sinneserfahrung der Betrachtung der Natur oder eines Kunstwerkes bzw. durch die unmittelbare innere ‚Schau‘ Christi eine mehr oder weniger unmittelbare Erkenntnis der Schönheit des Logos Gottes ermöglicht, der sich in der Schöpfung zu erkennen gibt. Die Betrachtung dieser Schönheit führt ihn dabei über seine innere Verschlossenheit hinaus und öffnet ihn zur Erkenntnis der Wahrheit.
Dem naheliegenden Einwand gegen diese enge Verbindung des Schönen und des Wahren will Ratzinger sich dabei allerdings nicht entziehen: Wie kann solche Rede heute noch guten Gewissens geschehen, wo doch die „Botschaft der Schönheit … durch die Macht der Lüge, der Verführung, der Gewalt, des Bösen überhaupt infrage gestellt“29 wird? Kann die Schönheit vor diesem Hintergrund überhaupt noch als ‚wahr‘ bezeichnet werden? „Oder ist sie nicht am Ende doch eine Täuschung? Ist nicht vielleicht die Wirklichkeit doch im Grunde böse?“30 Dieser Einwand, „für den es auch schon vor Auschwitz in all den Furchtbarkeiten der Geschichte Gründe genug gab, zeigt auf jeden Fall, dass ein bloß harmonischer Begriff der Schönheit nicht ausreicht. Er wird dem Ernst der Infragestellung Gottes, der Wahrheit, der Schönheit nicht gerecht.“31
Ratzinger antwortet auf diese Frage, die unmittelbar aus der Theodizee-Problematik erwächst, mit dem Verweis auf die Passion Christi. In ihr hat die „Erfahrung des Schönen … eine neue Tiefe, einen neuen Realismus empfangen. Der, der die Schönheit selber ist, hat sich ins Gesicht schlagen, sich anspucken, sich mit Dornen krönen lassen.“32 Am leidenden Christus lernen wir damit nach Ratzinger, „dass die Schönheit der Wahrheit Verwundung, Schmerz, ja das dunkle Geheimnis des Todes einschließt und nur in der Annahme des Schmerzes, nicht an ihm vorbei gefunden werden kann.“33 Doch gerade auf diese Weise kommt in ihm „die wahre, die letzte Schönheit zur Erscheinung: die Schönheit der Liebe, die ‚bis zum Letzten‘ geht und sich eben darin stärker erweist als die Lüge und die Gewalt.“34 Diese Erfahrung ermöglicht auch trotz der Lüge und der Gewalt die Überzeugung, „dass eben doch die Wahrheit und nicht die Lüge die letzte Instanz der Welt ist.“35 Von einer Wahrheit der Schönheit kann also heute nach Ansicht Ratzingers nur dann noch gesprochen werden, wenn diese Wahrheit die Passion der Liebe mit einschließt.
1 Vgl. Auftrag des Bischofs, 534.
2 Unterwegs, 34.
3 Unterwegs, 33. Ratzinger bezieht sich hier auf die Platon-Interpretation von Pieper, 248–331. In der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher heißt es im Phaidros: „Wer aber noch frische Weihung an sich hat und das Damalige vielfältig geschaut, wenn der ein gottähnliches Angesicht erblickt oder eine Gestalt des Körpers, welche die Schönheit vollkommen darstellen: So schaudert er zuerst, und es wandelt ihn etwas an von den damaligen Ängsten, hernach aber betet er sie anschauend an wie einen Gott, und fürchtete er nicht den Ruf eines übertriebenen Wahnsinns, so opferte er auch, wie einem heiligen Bilde oder einem Gotte, dem Liebling. Und hat er ihn gesehen, so überfällt ihn wie nach dem Schauder des Fiebers, Umwandlung und Schweiß und ungewohnte Hitze“ (Platon: Phaidros 251a).
4 Unterwegs, 36.
5 Vgl. Unterwegs, 37.
6 Einführung, 118.
7 Unterwegs, 36.
8 Geist der Liturgie, 132.
9 Geist der Liturgie, 132.
10 Geist der Liturgie, 132; vgl. dort auch 134: „Die demütige Unterwerfung unter das, was uns vorangeht, setzt die wirkliche Freiheit aus sich heraus und führt uns zu der wahren Höhe unserer Berufung als Menschen.“
11