Heiko Nüllmann

Logos Gottes und Logos des Menschen


Скачать книгу

eingeschriebene moralische Vernunft aufmerksam macht und sie auf diese Weise dazu bringt, sich dieser Vernunft zu öffnen. „Die unserem Sein eingesenkte Anamnese braucht sozusagen die Nachhilfe von außen, damit sie ihrer selbst innewird. Aber dies Äußere ist doch nicht etwas ihr Entgegengesetztes, sondern ihr zugeordnet: Es hat mäeutische Funktion, legt ihr nicht Fremdes auf, sondern bringt ihr Eigenes, ihre eigene innere Eröffnetheit für die Wahrheit zum Vollzug.“218 So ist der Glaube an den Schöpfergott „zugleich Glaube an den Gott des Gewissens“219, der dem verschütteten Gewissen des Menschen wieder eine Stimme zu geben vermag.220

      Indem sein Erkenntnisvermögen über die rein naturwissenschaftlichen Gewissheiten hinausgeführt wird, kann der Mensch auch sich selbst als ein das rein Empirische transzendierendes Wesen verstehen. Den „Schöpfungsgedanken fassen, bedeutet zugleich, die Grenze des Subjekt-Objekt-Schemas herausstellen, die Grenze des ‚exakten‘ Denkens, und aufdecken, dass erst in dieser Entgrenzung das Humanum, das Eigentliche des Menschen und der Wirklichkeit, vor den Blick kommt“221. Der Mensch kann dann auch „die Leibhaftigkeit seiner Existenz als Reichtum für den Geist“222 erkennen und seinen Leib wieder in der Einheit mit seinem Geist und als Ausdruck dieses Geistes begreifen, sodass der Leib seine geistige Würde wiedererlangt.223 Auf diese Weise geschieht nach Ratzinger „‚Humanisierung‘ des Menschen und der Welt, die eben darin besteht, dass die Materie zu ihren geistigen Möglichkeiten geführt und dass der Geist in der Fülle der Schöpfung ausgedrückt wird.“224

      Schöpfungsglaube ist für Ratzinger außerdem untrennbar mit dem Unsterblichkeitsglauben des Menschen verbunden. Die Leugnung der Ewigkeit ist für ihn gleichbedeutend mit der Aussage, dass „Geist nicht das Vorgängig-Schöpferische, sondern das Nachträglich-Zufällige ist“225. Ein der Endlichkeit ausgelieferter Geist nämlich erscheint als sinnlose Laune der Natur, sodass ihm nur noch der Egoismus als Leitlinie seines Handelns übrig bleibt.226 Ein Mensch ohne Hoffnung auf ewiges Leben wird daher laut Ratzinger „versuchen, so viel aus diesem Leben herauszuholen, wie es eben möglich ist. Dann wird er alle anderen als Feinde seines Glücks betrachten, die ihm etwas wegzunehmen drohen; Neid und Gier übernehmen die Herrschaft im Leben und vergiften die Welt.“227

      Deshalb kann der Mensch die Wahrheit der Schöpfung nur als Wahrheit eines personalen Schöpfers annehmen, der ihn als Menschen in seiner Ewigkeit erhält. An dieser Stelle wird abermals die innere Bewegung des Schöpfungsglaubens auf den Glauben an die liebende Zuwendung des Schöpfers in Christus deutlich.

      Zusammenfassend lässt sich mit Ratzinger demnach sagen: „Der Mensch braucht das Ethos, um er selbst zu sein. Das Ethos aber braucht den Schöpfungs- und den Unsterblichkeitsglauben, d.h. es braucht die Objektivität des Sollens und die Endgültigkeit von Verantwortung und Erfüllung. Die Unmöglichkeit eines davon abgeschnittenen Menschseins ist der indirekte Beweis für die Wahrheit des christlichen Glaubens und seiner Hoffnung.“228 Man kann hier von einem indirekten Beweis des christlichen Glaubens auf dem Boden der moralischen Vernunft sprechen: Nur, wenn es den Schöpfer und die Unsterblichkeit wirklich gibt, hat die moralische Vernunft einen Anknüpfungspunkt in der Metaphysik und nur dann kann der Mensch in Würde leben. Die Annahme des Schöpfers ist Ratzinger zufolge für das moralische Vernunftvermögen des Menschen eine Notwendigkeit.

      Ratzinger bezieht sich hinsichtlich dieser Argumentation an einer Stelle sogar direkt auf den ‚moralischen Gottesbeweis‘ Immanuel Kants: „Kant hatte die Erkennbarkeit Gottes im Bereich der reinen Vernunft bestritten, aber Gott, Freiheit und Unsterblichkeit als Postulate der praktischen Vernunft dargestellt, ohne die seiner Einsicht nach konsequenterweise sittliches Handeln nicht möglich schien. Gibt uns nicht die Weltlage von heute Anlass dazu, neu nachzudenken, ob er nicht recht hatte?“229

      1 Dialektik, 49.

      2 Naturrecht, 25.

      3 Dialektik, 49.

      4 Vgl. Dialektik, 50.

      5 Naturrecht, 25.

      6 Naturrecht, 25.

      7 Vgl. Dialektik, 50.

      8 Naturrecht, 26.

      9 Vgl. Naturrecht, 26.

      10 Naturrecht, 26.

      11 Volk und Haus Gottes, 311.

      12 Vgl. Volk und Haus Gottes, 311; vgl. auch Dritte Konzilsperiode, 44.

      13 Volk und Haus Gottes, 311.

      14 Naturrecht, 27.

      15 Naturrecht, 28.

      16 Naturrecht, 29.

      17 Naturrecht, 29.

      18 Vgl. Naturrecht, 29.

      19 Dogma und Verkündigung, 170.

      20 Vgl. Dogma und Verkündigung, 172; vgl. zur Thematik auch Wortgebrauch, 489f.

      21 Dogma und Verkündigung, 172.

      22 Dogma und Verkündigung, 173f.

      23 Weiterhin kennt Bonaventura aber auch einen vom Glauben unabhängigeren metaphysischen Naturbegriff, der für Ratzinger „an und für sich einen Eigenbereich philosophischen Denkens eröffnen kann“ (Wortgebrauch, 493f), der aber von ihm immer in starker Geschichtsbezogenheit behandelt wird. Auch Augustinus weiß nach Ratzinger um die „Geschichtlichkeit auch der menschlichen ‚Natur‘“ (Theologie der Ehe, 58, Anmerkung 4).

      24 Dogma und Verkündigung, 174.

      25 Dogma und Verkündigung, 174.

      26 Dogma und Verkündigung, 175.

      27 Dogma und Verkündigung, 176.

      28 Dogma und Verkündigung, 177.

      29 Dogma und Verkündigung, 177.

      30 Dogma und Verkündigung, 177.

      31 Vgl. Dogma und Verkündigung, 178.

      32 Dogma und Verkündigung, 180.

      33 Dogma und Verkündigung, 178.

      34 Dogma und Verkündigung, 179.

      35 Dogma und Verkündigung, 179f.

      36 Dogma und Verkündigung, 181.

      37 Dogma und Verkündigung, 181.

      38 Letzte Sitzungsperiode, 51. Dementsprechend hebt Ratzinger in seinem Bericht über die letzte Sitzungsperiode des Zweiten Vatikanischen Konzils positiv hervor, das Konzil habe das vom biologisch verstandenen Naturrecht geprägte katholische Eheverständnis zu Recht durch ein personales Eheverständnis abgelöst (vgl. a.a.O. 52). So setzt es seiner Beobachtung nach „an die Stelle eines abstrakten Naturbegriffs, der für einen Großteil der moraltheologischen Begründungen maßgebend gewirkt hatte, eine Besinnung auf die konkreten Wirklichkeiten des Menschen und seiner Geschichte“ (a.a.O. 27).

      39 Naturrecht, 29.

      40 Dialektik, 50f.

      41 Vgl. Dialektik, 50f.

      42 Abbruch und Aufbruch, 14.

      43 Vgl. Abbruch und Aufbruch, 14f.

      44 Abbruch und Aufbruch, 15.

      45 Dialektik, 51. Noch 1993, in seiner Vorstellung der von Papst Johannes Paul II. verfassten Enzyklika Veritatis Splendor, empfindet Ratzinger