Heiko Nüllmann

Logos Gottes und Logos des Menschen


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auch klar herausstellen, kann aber sich widersprechende Gewissensentscheidungen bei verschiedenen Menschen nicht erklären: „Sagt denn Gott zu verschiedenen Menschen Widersprüchliches? Widerspricht Gott sich selbst? Verbietet er dem einen bis hin zur Martyriumspflicht, was er dem anderen erlaubt oder sogar gebietet?“89 Für Ratzinger erweist sich eine solche problembeladene Identifizierung von Gewissensurteilen mit der Rede Gottes als nicht schlüssig. Dagegen sagt er mit Bezug auf Robert Spaemann: „Das Gewissen ist ein Organ, kein Orakel. Es ist ein Organ, d.h.: es ist etwas uns Gegebenes, zu unserem Wesen Gehöriges, nicht etwas von außen Gemachtes.“90 Das Gewissen ist also nicht selbst die moralische Wahrheit, sondern ein Organ für diese Wahrheit, die von außen auf den Menschen zukommt. „Aber als Organ bedarf es des Wachstums, der Bildung und der Übung.“91 Mit Spaemann vergleicht Ratzinger die Bildung des Gewissens mit der Entwicklung der Sprache eines Menschen: „Der Mensch ist von sich selbst her ein sprechendes Wesen, und er wird es doch nur, indem er von anderen das Sprechen lernt.“92 Zwar ist die Sprachfähigkeit im Menschen angelegt, doch sie bedarf der Formung von außen. Analog verhält es sich mit der Gewissensbildung. Der Mensch ist für Ratzinger „von sich selbst her ein Wesen, das ein Organ des inneren Wissens um Gut und Böse hat. Aber damit er wird, was er von sich her ist, bedarf er der Hilfe der anderen: Das Gewissen bedarf der Formung und der Erziehung“93. Bleibt eine solche Erziehung aus, kann es zur Verkümmerung des Gewissens kommen, zur Unfähigkeit des Menschen, Schuld zu empfinden.94

      Vor diesem Hintergrund wird nun auch deutlich, in welcher Hinsicht das Gewissen des Menschen fehlbar ist und warum ein Mensch in objektiver Hinsicht moralisch schlecht handeln kann, obwohl er seinem Gewissen folgt, also ‚nach bestem Wissen und Gewissen‘ handelt. Denn wenn das Gewissen nicht selbst als Stimme der moralischen Wahrheit, sondern nur als Organ für diese aufgefasst wird, kann es auch im Menschen verkümmert sein, sodass er in diesem Fall die moralische Wahrheit des Seins mittels seines Gewissens nicht zu vernehmen vermag. So ist es nicht unwahrscheinlich, dass seine Handlung nicht dem moralischen Sollen des Seins gemäß ist und der Mensch sich objektiv schuldig macht, obwohl er nach seinem Gewissen gehandelt hat. „Es ist nie Schuld, der gewonnenen Überzeugung zu folgen – man muss es sogar. Aber es kann sehr wohl Schuld sein, dass man zu so verkehrten Überzeugungen gelangt ist und den Widerspruch der Anamnese des Seins niedergetreten hat. Die Schuld liegt dann woanders, tiefer: nicht in dem jetzigen Akt, sondern in der Verwahrlosung meines Seins, die mich stumpf gemacht hat für die Stimme der Wahrheit und deren Zuspruch in meinem Innern.“95

      Der Mensch ist der Verkümmerung seines Gewissens allerdings nicht gänzlich schutzlos ausgeliefert, als ob er nur Opfer einer schlechten Erziehung wäre. Ratzinger betont nämlich in Anlehnung an Augustinus, dass für die moralische Erkenntnisgewinnung der Wille des Menschen eine große Rolle spielt. Augustinus sah es zwar nicht als Schuld des Menschen an, nicht im Besitz von Erkenntnis zu sein, sehr wohl aber, nicht nach dieser zu streben.96 „Ob hier etwas erkannt oder nicht erkannt wird, hängt immer auch vom Willen des Menschen ab, der Erkenntnis versperrt oder zur Erkenntnis führt.“97 Der Mensch ist nach Ratzinger also imstande, seine vorgegebene moralische Prägung durch seinen Willen entweder weiter zu entstellen oder aber zu reinigen.98 Auf diesem Wege entgeht Ratzinger einem Gewissens-Determinismus, der den Menschen als Opfer seiner Umwelt der Verantwortung für seine Taten entheben könnte.

      Unterschiedliche Gewissensentscheidungen unterschiedlicher Menschen bedeuten folglich für Ratzinger auch nicht, dass es unterschiedliche Wahrheiten gäbe. Die Wahrheit ist nur eine einzige, und deshalb ist auch der „Weg des Gewissens, der Ausschau hält nach der Wahrheit und dem objektiv Guten … nur ein Weg, auch wenn er gemäß der Vielheit der Menschen und ihrer Situationen viele Gestalten hat.“99 Menschen können bei ihrer Suche nach der Wahrheit aufgrund ihres nicht hinreichend geformten Gewissens irren, die Wahrheit bleibt indessen immer dieselbe.

      Ausgehend von diesen Überlegungen kann das Gewissen als konstitutiver Bestandteil der moralischen Vernunft des Menschen bezeichnet werden. Es ist das „Organ für die Wahrheit“100, mit welchem der Mensch die moralische Seite des Schöpfungslogos erkennen kann. Im Idealfall ist dann „die Sprache des Seins, die Sprache der ‚Natur‘, identisch mit der Sprache des Gewissens.“101 Ratzingers doppelpoliges Verständnis des Vernunftbegriffs tritt hier sehr deutlich hervor: Es gibt auf der einen Seite die Vernunft des Menschen als ‚Organ‘, auf der anderen Seite die Vernunft des Schöpfers als bleibende, übergeschichtliche Wahrheit, auf welche sich die Vernunft des Menschen bezieht.102

       2.2.3. Notwendiges Leiden für die Wahrheit

      Weil das Gewissen nach Ansicht Ratzingers das Organ für die moralische Wahrheit des Seins ist, kann es dem Menschen als ein objektiver Maßstab in moralischen Fragen dienen. Aufgrund dieser Objektivität fällt es nicht zusammen „mit den eigenen Wünschen und dem eigenen Geschmack; es fällt nicht zusammen mit dem, was das sozial Günstigere ist, mit dem Konsens der Gruppe, mit den Ansprüchen politischer und sozialer Macht.“103 Es generiert vielmehr Widerspruch gegen Lebensumstände, die der moralischen Vernunft der Wirklichkeit, die es dem Menschen zugänglich macht, zuwiderlaufen. So ist für Ratzinger ein Mann des Gewissens auch jemand, „der niemals Verträglichkeit, Wohlbefinden, Erfolg, öffentliches Ansehen und Billigung von Seiten der herrschenden Meinung durch den Verzicht auf Wahrheit erkauft.“104 Eine solche Haltung impliziert notwendigerweise eine Leidensbereitschaft für die Wahrheit: Der „Höhenweg zur Wahrheit, zum Guten ist nicht bequem. Er fordert den Menschen.“105 Denn als Mensch ist man nach Ansicht Ratzingers immer versucht, unter dem Vorwand der Gutmütigkeit etwa Bequemlichkeit oder gutes Ansehen der Wahrheit überzuordnen.106

      Doch auch wenn die Option für die Wahrheit den Menschen mehr fordert als ihr Ignorieren, bleibt ihm nach Ratzinger keine wirkliche Wahl, denn mit der Unwahrheit kann der Mensch auf Dauer nicht glücklich werden. „[N]icht das bequeme Bleiben bei sich selbst erlöst ihn; darin verkümmert er und verliert sich.“107 Ganz im Gegenteil braucht der Mensch einen moralischen Maßstab, nach dem er sein Leben ausrichten kann, wie Ratzinger mit einem Verweis auf die seines Erachtens moralisch unterforderte Jugend feststellt.108 „Irgendwo steckt das im Menschen drin, dass er weiß: Ich muss gefordert werden und ich muss mich nach einem höheren Maß bilden und mich zu geben und zu verlieren lernen.“109 Der Mensch braucht das Herausgerissen-werden aus seinem nach Bequemlichkeit strebendem Eigenwillen hin zum ihn fordernden und leiden lassenden moralischen Logos, welcher der Wille des Schöpfers ist. Ratzinger folgt mit dieser Auffassung ganz seinem eingangs beschriebenen Verständnis der menschlichen Natur, die zwischen dem Eigenwillen des Menschen und dem Willen des Schöpfers angesiedelt ist.110

      Wo der Mensch sich nun aber scheut, den unbequemen Weg der Wahrheit zu gehen, verfehlt er nach Ratzinger den Sinn seines Daseins, denn eine solche Leidverweigerung, die nichts anderes ist als die Verweigerung seiner eigenen Kreatürlichkeit, „ist letzten Endes die Verweigerung der Liebe selbst, und das ruiniert den Menschen.“111 Wieder kommt hier die enge Verbindung von Wahrheitsorientierung und Liebesfähigkeit bzw. Beziehungsfähigkeit des Menschen zur Sprache: Ohne die Ausrichtung des Menschen an der moralischen Wahrheit ist ihm auch die Fähigkeit der Liebe verwehrt; die Verweigerung der Wahrheit impliziert die Verweigerung der Liebe. Weil Leben und Leiden für Ratzinger untrennbar zusammengehören, ist Leidflucht für ihn außerdem identisch mit Lebensflucht.112

      Seine Erfüllung findet der Mensch also nicht in der Loslösung von der moralischen Vernunft des Seins zugunsten seiner subjektiven Interessen, sondern im Gegenteil durch den Aufbruch zur Wahrheit, im Hören auf die Stimme seines Gewissens. „In der Bergwanderung des Guten entdeckt er immer mehr die Schönheit, die in der Mühsal der Wahrheit liegt und dass gerade sie für ihn das Erlösende ist.“113 Das Erlösende besteht dabei gerade in der Selbstlosigkeit der Wahrheit, denn diese führt den Menschen über seine Subjektivität hinaus; sie macht ihn frei von der Abhängigkeit vom eigenen Geschmack und von der herrschenden Meinung.

      Die durch das Gewissen in der Wirklichkeit vorgefundene Wahrheit ist für den Menschen also nicht primär eine Einschränkung, sondern wirkt vielmehr erlösend und befreiend.