Wesen dem Wechsel und der Zufälligkeit der Geschichte gegenüberstellen, ohne den Menschen von Grund auf misszuverstehen, da doch Geschichte und Wesen bei ihm ineinanderfallen und das eine nur im anderen wirklich ist.“134
Die geschichtliche Prägung des menschlichen Wesens impliziert, dass der Mensch nie in ungeschichtlich gedachter Freiheit beliebig über sein Wesen verfügen kann. „Er ist selbst nur in der Spannung von Vergangenheit über Gegenwart in Zukunft hinein.“135 Zwar kann der Mensch die Geschichte im Rahmen seiner Möglichkeiten beeinflussen und ihr sozusagen seinen persönlichen Stempel aufdrücken, aber er kann sich doch nicht unabhängig von ihr denken, er kann sie „nicht aufsprengen und verlassen in ein vermeintlich reines Wesen hinein, das eine Utopie ist, in der er sich selbst verkennt.“136
In einer scharfen Abgrenzung vom Deutschen Idealismus charakterisiert Ratzinger die dort seiner Auffassung nach versuchte Loslösung des Menschen von seiner Geschichtlichkeit dementsprechend als „die bei Fichte zu ihrer höchsten Übersteigerung gekommene idealistische Verkennung des menschlichen Wesens, so als wäre jeder Mensch ein autonomer Geist, der sich ganz aus eigener Entscheidung auferbaut und ganz das Produkt seiner eigenen Entschlüsse ist – nichts als Wille und Freiheit, die nichts Ungeistiges duldet, sondern sich ganz in sich selbst gestaltet.“137 Diese Auffassung des Menschen als einem von jeglichen geschichtlichen Bindungen losgelösten, also ‚absoluten‘, schöpferischen ICH, läuft für Ratzinger auf die Gleichsetzung des Menschen mit Gott hinaus.138 Durch diese Folgerung, die Ratzinger bei Fichte konsequent vollzogen sieht, widerspricht sich die idealistische Auffassung aber seiner Ansicht nach selbst, denn „der Mensch ist nicht Gott: Um das zu wissen, braucht man im Grunde nur selber ein Mensch zu sein.“139
Ganz im Gegenteil zum idealistischen Denken erfährt man sich laut Ratzinger als Mensch vielmehr jeden Tag aufs Neue als ein „Wesen der Abhängigkeiten … das gar nicht isoliert gedacht werden kann, weil die Abhängigkeit, das Mitsein mit anderen sozusagen in seine Definition hineingehört.“140 Ratzinger weiß in diesem Zusammenhang auch um die häufig zu idealistisch ausgerichtete christliche Metaphysik, die seines Erachtens „längst vor Fichte eine allzu starke Dosis von griechischem Idealismus in sich aufgenommen“141 hatte, sodass sie geschichtliche Aussagen des Glaubens wie Erbsünde und Erlösung aufgrund ihres ungeschichtlichen Denkens nicht mehr erklären konnte.142
Es ist also für Ratzinger gerade nicht so, „dass jeder Mensch vom Nullpunkt seiner Freiheit aus sich ganz neu entwirft, wie es im deutschen Idealismus erschien.“143 Vielmehr ist jeder Mensch „geprägt von einer Gemeinschaft, die ihm Formen des Denkens, des Fühlens, des Handelns vorgibt. Dieses Gefüge von Denk- und Vorstellungsformen, das den Menschen vorprägt, nennen wir Kultur.“144 Zur Kultur gehören neben der Sprache für Ratzinger z.B. auch die jeweilige staatliche Verfassung einer Gesellschaft, das Recht und die moralischen Auffassungen, die Kunst sowie der religiöse Kult.145 All dies bildet seines Erachtens den unhintergehbaren Ausgangspunkt menschlichen Denkens. Die Gegenwart des Menschen ist nicht von seiner Geschichte, den Erfahrungen seiner Vergangenheit, trennbar.
Dies wird auch in Ratzingers Verständnis von ‚Gedächtnis‘ deutlich: „Zeit wird für uns als eine in allem Vergehen zusammenhängende Wirklichkeit nur durch das Gedächtnis wahrnehmbar. Im Gedächtnis ist Vergangenheit als Gegenwart verwahrt. Was überhaupt Gegenwart für uns bedeutet, hängt von unserem Gedächtnis ab“146. So manifestiert sich der Geist des Menschen gerade „in der Überschreitung der Zeit, des Augenblicks: Geist ist grundlegend Gedächtnis – Einheit stiftender Zusammenhang über die Grenze der Augenblicke hinweg.“147
Ausgehend von diesem Gedanken ist es logisch, dass auch die Zukunft des Menschen von seiner Geschichte beeinflusst wird: „Die Zukunftsfähigkeit des Menschen hängt davon ab, welche Wurzeln er hat, wie er Vergangenheit in sich aufzunehmen und von da aus Maßstäbe des Handelns und des Urteilens zu bilden vermag.“148 Hier zeigt sich deutlich die Bedeutung der Geschichte des Menschen, die Bedeutung seiner jeweiligen Kultur, für sein moralisches Denken und Handeln, welches ja ein auf die Zukunft gerichtetes Denken ist. Die moralische Vernunft des Menschen kann für Ratzinger folglich keine geschichtslose Vernunft sein; sie kann sich nicht an der jeweiligen Geschichte und kulturellen Tradition vorbei, nicht unabhängig von ihr entwickeln. Dieser Zusammenhang wird im Folgenden näher erläutert.
2.3.2. Das moralische Wissen der Traditionen
Ausgehend von den vorhergehenden Einsichten in die geschichtliche Verfasstheit des Menschen kann nun gesagt werden, dass menschliche ‚Tradition‘ sich für Ratzinger aus dem Zusammenspiel von Gedächtnis und Sprache in einem gemeinschaftlichen Traditionssubjekt aufbaut. Denn wie gesehen, wirkt Gedächtnis seiner Ansicht nach „sinngebend, indem es Einheit stiftet, das Vergangene in Gegenwart vermittelt und zugleich Ausgriff auf Zukunft vollzieht.“149 Ebenso verhält es sich mit der Sprache: „Sie erfüllt ihre einheitsstiftende Funktion wesentlich als vorgegebene, als empfangene; Bedingung ihrer Wirksamkeit ist ihre Unbeliebigkeit, ihr Traditionscharakter.“150 Gleichzeitig aber ist sie offen für zukünftige Weiterentwicklung und Weiterbildung der Tradition.151 Als drittes Element neben Gedächtnis und Sprache braucht Tradition ein Traditionssubjekt, das sie im Normalfall in der jeweiligen Sprachgemeinschaft findet.152 „Sie ist nur möglich, weil viele Subjekte im Zusammenhalt gemeinsamer Überlieferung so etwas wie ein Subjekt werden.“153 Wir sind als Menschen von unserer Herkunft her in die Geschichte eines bestimmten Traditionssubjekts eingegliedert, „sodass wir unausweichlich an Segen und Fluch dieser bestimmten Geschichte beteiligt sind.“154
Wie schon angedeutet, kann die moralische Vernunft des Menschen nach Ansicht Ratzingers nun nicht unabhängig von seiner geschichtlichen Tradition gedacht werden. Dieser Gedanke ist auch von daher logisch, dass Ratzinger das moralische Vernunftvermögen des Menschen als ein ‚Organ‘ bezeichnet hat155, dessen Ausbildung und Wachstum innerhalb von Geschichte und Gemeinschaft des Menschen erfolgen muss. „Denn auch die praktische Vernunft braucht das Bürgnis des Experiments, aber eines größeren, als es in Laboratorien geleistet werden kann: Sie braucht das Experiment des bestandenen Menschseins, das nur aus der bestandenen Geschichte selbst kommen kann.“156 Menschliches Denken und „die Bewährung des Lebens sind in einer Wechselbeziehung ineinander verschränkt, in der auf keine der beiden Seiten zu verzichten ist.“157
Aufgrund dieser ihrer Bezogenheit auf geschichtliche Erfahrung ist die moralische Vernunft des Menschen auf geschichtliche Räume verwiesen, in denen sie sich bewähren kann. Sie ist nach Ratzinger „immer eingeordnet in den großen Erfahrungs- und Bewährungszusammenhang ethisch-religiöser Gesamtvisionen.“158 Moralische Werte sind für Ratzinger folglich aufs Engste mit der Kultur verknüpft, in die der einzelne Mensch hineingeboren wird. Kultur ist für ihn in dieser Hinsicht „die geschichtlich gewachsene Ausdrucksgestalt der das Leben einer Gemeinschaft prägenden Erkenntnisse und Wertungen.“159 Moralische Werte existieren nicht einfach nackt und abstrakt, sondern immer in Abhängigkeit von geschichtlicher Tradition, in geschichtlichen Bewährungszusammenhängen: „Geschichtlich betrachtet, ist Moral gerade nicht der Bereich der Subjektivität, sondern von der Gemeinschaft verbürgt und auf die Gemeinschaft bezogen.“160 Sie ist kein „abstrakter Kodex von Verhaltensnormen, sondern sie setzt einen gemeinschaftlichen way of life voraus, in dem sie ihre Evidenz und ihre Vollziehbarkeit empfängt.“161 So ist moralische Vernunft auf ein ‚Wir‘ mit all seinen geschichtlichen Erfahrungen angewiesen, „in denen nicht nur Berechnung des Augenblicks spricht, sondern Weisheit der Generationen zusammenströmt.“162 Moralische Vernunft hat ihren Ort in den geschichtlichen Kulturtraditionen der Menschheit.
Laut Ratzinger wusste schon Platon um diese Verbindung von moralischer Vernunft und Geschichte, denn sein Denken zielt Ratzinger zufolge nicht etwa auf eine „Philosophie der reinen Vernunft“163, sondern darauf, die Vernunft dahin zu führen, „sich von jenen Grundüberlieferungen her neu zu finden, die wahre Gemeinschaft ermöglichen.“164 Auf dem Boden dieser überlieferten Weisheit war Platons Denken für Ratzinger nicht etwa auf abstrakte