und dieser Wille „ist für den Menschen nicht eine fremde, von außen kommende Gewalt, sondern die Richtung seines Wesens.“115 Die Bindung des Eigenwillens des Menschen an die moralische Vernunft, an den Willen des Schöpfers, führt den Menschen zu seiner wahren Natur und somit zur wahren Freiheit.116
2.2.4. Das Ausstrecken des Gewissens auf den Erlösungsglauben hin
Diese im Gewissen und damit im moralischen Vernunftvermögen des Menschen angetroffene Erkenntnis der moralischen Schöpfungsordnung wird von Ratzinger zunächst einmal unabhängig von der Glaubensentscheidung des Menschen gedacht. Jeder Mensch kann also nur mittels seines moralischen Vernunftvermögens, im Hören auf die Stimme seines Gewissens, die moralische Vernunft des Schöpfers in der Wirklichkeit vernehmen. Wie soeben erläutert, bedeutet diese dem Menschen einsehbare Wahrheit aber einen unglaublichen Anspruch an ihn und sein Handeln. Denn sie zwingt ihn über sich selbst hinaus, über seinen Egoismus und seine Konformität in den Raum des ‚objektiv‘ moralisch Vernünftigen, in den Raum der objektiven Wahrheit. Das Gewissen ist deshalb eben nicht die Bestätigung der menschlichen Subjektivität, sondern der Richter über den Menschen. Dies aber führt Ratzinger zufolge dazu, dass es den Menschen im Falle seines Verstoßes gegen die moralische Vernunft schuldig spricht: Der Mensch muss fortan mit einem schlechten Gewissen leben. Dies ist ihm jedoch auf die Dauer unerträglich, und so wird er dieser Situation zu entrinnen versuchen, indem er die Stimme seines Gewissens fortan ignoriert. Die Fähigkeit des Menschen, Schuld wahrzunehmen, verkümmert dann, was nach Ansicht Ratzingers zur Verhärtung und inneren Erkrankung des Menschen führt.117 „Dieses Abstumpfen des Gewissens ist unsere große Gefahr. Es erniedrigt den Menschen.“118
Das Einzige, was den Menschen aus diesem Dilemma befreien kann, ist der erlösende Freispruch von seiner Schuld. Der Mensch sehnt sich laut Ratzinger deshalb danach, „dass der objektiv gerechte Schuldspruch des Gewissens und die daraus folgende zerstörerische innere Not nicht das Letzte seien, sondern dass es eine Vollmacht der Gnade gebe, eine Kraft der Sühne, die die Schuld verschwinden lässt und Wahrheit erst wirklich erlösend macht.“119 In diesem Gedanken Ratzingers wird eine innere logische Verbindung zwischen moralischem Logos Gottes und christlicher Erlösungslehre deutlich: Hier zeigt sich für Ratzinger, „wie die Anamnese des Schöpfers sich in uns ausstreckt auf den Erlöser hin und jeder Mensch ihn als Erlöser zu begreifen vermag, weil er auf unsere innerste Erwartung antwortet.“120
Der Mensch findet Ratzinger zufolge also mittels seines Vernunftvermögens den moralischen Logos des Schöpfers, wird aber aufgrund des Anspruchs dieses Logos über denselben hinaus verwiesen auf den liebenden, vergebenden Zuspruch ebendieses Logos. Dieser liebende Zuspruch liegt jedoch außerhalb der Reichweite der moralischen Vernunft des Menschen, etwa vergleichbar mit der Begrenzung seiner naturwissenschaftlichen Vernunft, die ja auch selbst über ihre Methode hinausweist. Um wirklich moralisch handeln zu können, ist der Mensch in seiner moralischen Vernunft im Letzten auf den Glauben an die liebende und somit erlösende Zuwendung des Schöpfers angewiesen. Denn der Mensch kann das ‚Joch der Wahrheit‘ (vgl. Mt 11,30) nach Ansicht Ratzingers nur tragen, wenn dieses Joch für ihn durch die Gewissheit leicht geworden ist, dass „die Wahrheit kam, uns liebte und unsere Schuld in ihrer Liebe verbrannte. Erst wenn wir dies von innen her wissen und erfahren, werden wir frei, die Botschaft des Gewissens angstlos und freudig zu hören.“121
Anders formuliert kann man sagen: Wahrheit ohne Liebe erlöst den Menschen nicht. Seine moralische Vernunft gibt ihm die Einsicht in die Wahrheit und die damit verbundene Einsicht in seine Schuld; die Erlösung von dieser Schuld aber kann ihm nur durch Liebe zuteil werden. Die Einsicht in die Liebe aber, in die vergebende und erlösende Zuwendung der schöpferischen Vernunft, kann ihm sein moralisches Vernunftvermögen, sein Gewissen, allein nicht geben. Es kann ihm lediglich seine Abhängigkeit von der Wahrheit vor Augen führen und ihn so auf das existentielle Bedürfnis verweisen, von dieser Wahrheit auch geliebt zu sein. Durch die Vernunft der Schöpfungs-Anamnese streckt sich der Mensch also zum Erlösungsglauben hin aus; er sieht ein, dass er der erlösenden Liebe durch die Wahrheit bedarf. „Der Mensch ist abhängig – das ist seine primäre Wahrheit. Weil es so ist, kann nur die Liebe ihn erlösen, weil nur sie Abhängigkeit in Freiheit umwandelt.“122
So kann Ratzinger auch sagen, dass ‚nach dem Gewissen zu leben‘ für den Menschen bedeutet, dem „Ruf auf Glaube und Liebe hin“123 zu folgen. Man kann hier eine Wechselbeziehung zwischen moralischer Vernunfteinsicht und Glaube feststellen: Die moralische Vernunft streckt sich im Gewissen auf den Glauben hin aus, während dieser durch den Erlösungsgedanken die moralische Vernunfteinsicht für den Menschen erst möglich und im konkreten Leben erträglich macht und das Gewissen so vor seiner Abstumpfung schützt. Denn die „Fähigkeit, Schuld wahrzunehmen, ist dann erträglich und entfaltet sich, wenn es auch die Heilung gibt.“124 Nur in der durch Christus vermittelten vergebenden Liebe der Wahrheit ist es dem Menschen möglich, sich trotz aller Verfehlungen immer wieder an dieser Wahrheit auszurichten und die Stimme seines Gewissens immer wieder neu als Maßstab seines Handelns anzunehmen.
Aufgrund dieser Wechselbeziehung von moralischem Vernunftvermögen des Menschen und seinem Glauben an die erlösende Liebe durch die Wahrheit kann Ratzinger die moralische Vernunft eines Menschen als Maßstab für seinen christlichen Glauben ansehen. Die Offenheit des Gewissens ist für ihn letztlich gleichbedeutend mit der inneren „Zugehörigkeit zu Christus“125.
Die moralische Vernunft als ‚Organ‘ des Menschen für den Logos Gottes ist, wie gesehen, laut Ratzinger verwiesen auf geschichtliche Formung. „Auch die Vernunft … ist ein Organ und nicht ein Orakel. Auch sie bedarf der Übung und der Gemeinschaft.“126 Diese Geschichtsbezogenheit menschlicher Vernunft im Denken Ratzingers wird im Folgenden behandelt. Dabei wird deutlich, dass bei allem Gewicht, das er auf den Bezug der Vernunft zu einer übergeschichtlichen Wahrheit legt, die Geschichte und die Tradition bei Ratzinger nach wie vor eine große Rolle spielen.
2.3 Traditionen: Die moralische Vernunft in der Geschichte
2.3.1. Der Mensch als geschichtliches Wesen
Menschsein ist für Ratzinger untrennbar mit Geschichtlichkeit verbunden. Diese gründet seiner Ansicht nach in erster Linie in der leiblichen Verfasstheit des Menschen. Denn „wenn der reine Geist streng für sich seiend gedacht werden kann, so besagt Leibhaftigkeit das Abstammen voneinander: Die Menschen leben in einem sehr wirklichen und zugleich in einem sehr vielschichtigen Sinn einer vom andern.“127
Diese durch seine Leiblichkeit bedingte Bindung des Menschen an Geschichte und Gemeinschaft wirkt sich nun ebenfalls auf seinen Geist aus. Denn sie bedeutet für den Menschen, welcher selbst „Geist nur im Leib und als Leib ist, dass auch der Geist – einfach der eine, ganze Mensch – zutiefst von seinem Zugehören zum Ganzen der Menschheit … gezeichnet ist.“128 So sind in jedem Menschen nach Ratzinger „die Vergangenheit und Zukunft der Menschheit mit anwesend“129, denn er ist in ihre geschichtliche Mitte hineingeboren und sein Denken ist mit dem Denken der gemeinsamen Menschheitsgeschichte untrennbar verwoben.
Ratzinger macht diese Untrennbarkeit am Beispiel der Sprache deutlich: Als Mensch bin ich in meinem geistigen Leben vollkommen auf sie angewiesen, mein „Menschsein realisiert sich im Wort, in der Sprache, die meine Gedanken prägt und mich einstiftet in die mitmenschliche Gemeinschaft, die mein eigenes Menschsein prägt.“130 Dabei ist die Sprache aber alles andere als eine private und neue Erfindung des jeweiligen Menschen: „Sie kommt von weit her, die ganze Geschichte hat an ihr gewoben und tritt durch sie in uns ein als die unumgängliche Voraussetzung unserer Gegenwart, ja, als ein beständiger Teil davon.“131 Die Sprache schaffe ich als Mensch nicht selbst; sie wird mir geschichtlich vermittelt und verbindet mich deshalb mit der gemeinsamen Geschichte der Menschheit. Deshalb ist sie für Ratzinger „Ausdruck der Kontinuität des menschlichen Geistes in der geschichtlichen Entfaltung seines Wesens.“132
Der einzelne Mensch kann nun nicht einfach unabhängig von dieser geschichtlichen Geistesentwicklung