gläubiger Christen zum kirchlichen Lehramt, denn das „Gewissen vieler Christen harmoniert keineswegs einfachhin mit den Aussagen des kirchlichen Lehramts; es erscheint im Gegenteil weithin als die eigentliche Legitimationsinstanz für den Dissens.“65
Dass einer klaren Gewissensweisung immer zu folgen ist, ist auch für Ratzinger unbestritten. „Aber ob das Gewissensurteil oder was man für ein solches ansieht, auch immer recht habe, ob es unfehlbar sei, ist eine andere Frage.“66 Denn eine solche Auffassung würde die Existenz einer vom rein Subjektiven unabhängigen moralischen Wahrheit der Wirklichkeit abstreiten, moralische Wahrheit ins rein Subjektive verlegen und sie somit auf bloße Wahrhaftigkeit reduzieren.67 Dieses Abschneiden des subjektiven Denkens von einer objektiven moralischen Wahrheit führt nun aber nach Überzeugung Ratzingers zu verheerenden Konsequenzen für das moralische Empfinden des Menschen. Denn von dieser Überzeugung her wäre ja z.B. die Ansicht vertretbar, „dass Hitler und seine Mittäter, zutiefst von ihrer Sache überzeugt, gar nicht anderes handeln durften und daher – bei aller objektiven Schrecklichkeit ihres Tuns – subjektiv moralisch gehandelt hätten.“68
Aus diesen Überlegungen folgt für Ratzinger eindeutig die Unzulänglichkeit eines solchen rein subjektiv verstandenen Gewissensbegriffs. Gewissen muss seiner Auffassung nach dagegen sehr wohl etwas mit einer moralischen Wahrheit zu tun haben, die vom rein subjektiven Empfinden unabhängig ist. Denn nur dann kann ja überhaupt die Rede davon sein, dass das Handeln eines Menschen durch sein Gewissen infrage gestellt wird.69
Bleibt diese kritische Aufgabe des Gewissens unerfüllt, kann das nach Ratzinger zu einer inneren Abkapselung und somit zu einer Beeinträchtigung der Beziehungsfähigkeit des Menschen führen, wie er am neutestamentlichen Vergleich des büßenden Zöllners mit dem selbstgerechten Pharisäer deutlich macht: „Der Pharisäer weiß nicht mehr, dass auch er Schuld hat. Er ist mit seinem Gewissen völlig im Reinen. Aber dieses Schweigen des Gewissens macht ihn undurchdringlich für Gott und die Menschen, während der Schrei des Gewissens, der den Zöllner umtreibt, ihn der Wahrheit und der Liebe fähig macht.“70 Ein Mensch, der sich seiner selbst völlig sicher ist und sich von nichts mehr infrage stellen lässt, ist nicht mehr imstande, sich auf die Beziehung zu anderen Menschen geschweige denn zu Gott einzulassen und somit zur Liebe unfähig. Ohne Wahrheit ist Liebe für Ratzinger folglich nicht möglich.71
So geht es für Ratzinger nicht an, das Gewissen des Menschen einfach mit dessen subjektiver Gewissheit gleichzusetzen. Denn ein solches Selbstbewusstsein des Menschen kann sich ja auch einfach nach den gerade in seinem Umfeld angesagten Meinungsbildern richten, ohne diese kritisch zu hinterfragen. Deshalb wirkt die Reduktion des Gewissens auf die menschliche Subjektivität auch nicht als Befreiung des Menschen, sondern im Gegenteil als seine Versklavung, denn sie führt in die totale Abhängigkeit von den herrschenden Meinungen: „Wer das Gewissen mit oberflächlicher Überzeugtheit gleichsetzt, identifiziert es mit einer schein-rationalen Sicherheit, die aus Selbstgerechtigkeit, Konformismus und Trägheit gewoben ist. … Die Reduktion des Gewissens auf subjektive Gewissheit bedeutet zugleich den Entzug der Wahrheit.“72 Ein solches Gewissensverständnis, das den Relativismus gewissermaßen kanonisiert, ist in Ratzingers Augen in der Gegenwart vorherrschend.73
2.2.2. Gewissen als Organ der moralischen Vernunft
Gewissen hat für Ratzinger also im Gegensatz zum beschriebenen subjektivistischen Verständnis etwas mit objektiver Wahrheitserkenntnis zu tun. Seine Auffassung, dass der Mensch fähig ist, eine objektive moralische Wahrheit in der Wirklichkeit mittels seiner Vernunft zu erkennen, ist seiner Meinung nach auch genau der Standpunkt, den schon Sokrates und Platon gegen die Sophisten bezogen haben. In diesem antiken Streit sieht Ratzinger die Parallele zum heutigen Disput um die Wahrheitsfähigkeit des Menschen, „in dem der Urentscheid zwischen zwei Grundhaltungen durchgeprobt worden ist: dem Vertrauen auf die Wahrheitsfähigkeit des Menschen einerseits und einer Weltsicht andererseits, in der nur der Mensch sich selbst seine Maßstäbe schafft.“74
Auch im Römerbrief des Paulus findet sich ein Plädoyer für die Wahrheitsfähigkeit des Menschen, wenn Paulus sagt, „dass die Heiden sehr wohl auch ohne Gesetz wussten, was Gott von ihnen erwartet (Röm 2,1–16).“75 In Röm 2,14f schreibt Paulus: „Wenn Heiden, die das Gesetz nicht haben, von Natur aus das tun, was im Gesetz gefordert ist, so sind sie, die das Gesetz nicht haben, sich selbst Gesetz. Sie zeigen damit, dass ihnen die Forderung des Gesetzes ins Herz geschrieben ist“. Ratzinger folgert daraus: „Es gibt die gar nicht abzuweisende Gegenwart der Wahrheit im Menschen – jener einen Wahrheit des Schöpfers, die in der heilsgeschichtlichen Offenbarung auch schriftlich geworden ist. Der Mensch kann die Wahrheit Gottes auf dem Grund seines Geschöpfseins sehen.“76
An dieser Stelle muss natürlich auffallen, dass gerade die von Paulus behauptete natürliche moralische Erkenntnis aus Röm 2,14 von Ratzinger selbst im Zuge seiner Auseinandersetzung mit dem Naturrechtsgedanken kritisiert worden war. Grund dafür war der stark stoisch geprägte biologische Einschlag des paulinischen Naturbegriffs, der sich nach Ratzinger besonders in Röm 1,26 und 1 Kor 11,14f zeigt.77 Wenn Röm 2,14f nun trotzdem zum Zentrum der Argumentation Ratzingers wird, macht das deutlich, dass der Gedanke einer Ausrichtung der moralischen Vernunft des Menschen an einer übergeschichtlichen moralischen Wahrheit stärker in den Mittelpunkt von Ratzingers Denkens gerückt ist als zu Anfang seiner Schaffenszeit.78
Des Weiteren muss hier der Bezug zum Schöpfungsgedanken unterstrichen werden: Moralische Wahrheit hat für Ratzinger offensichtlich etwas mit der im Menschen anwesenden Schöpfungsordnung Gottes zu tun. „Im Gewissen, im stillen Mitwissen des Menschen mit dem innersten Grund der Schöpfung, ist der Schöpfer als Schöpfer dem Menschen gegenwärtig.“79 Dazu passt auch Ratzingers Bezug zum Gewissensbegriff John Henry Newmans, den er als „die Aufhebung der bloßen Subjektivität in der Berührung zwischen der Innerlichkeit des Menschen und der Wahrheit von Gott her“80 beschreibt.
Ratzinger sieht also im Gewissen den inneren Ort der Begegnung des Menschen mit der Wahrheit des Schöpfers, die er dort ganz unabhängig vom Glauben an die Offenbarung einsehen kann. „Gewissen heißt, ganz einfach gesagt, den Menschen, sich selbst und den anderen, als Schöpfung anerkennen und in ihm den Schöpfer respektieren.“81 Das Gewissen bringt dem Menschen seine „seinshafte Verwiesenheit auf Gott“82 zu Bewusstsein. „Unser ganzes eigenes Sein sagt uns doch, dass wir uns weder selbst gemacht haben noch selbst machen können. Dass wir voneinander und letzten Endes alle miteinander von dem abhängig sind, was nicht in unseren Händen steht.“83 Ratzinger beschreibt das Bewusstsein dieser Abhängigkeit des Menschen von seinem Schöpfer als Erfahrung, „die zur metaphysischen Urerfahrung eines jeden Menschen gehört“84.
Diesen auf die moralische Schöpfungsordnung bezogenen Charakter des Gewissens beschreibt Ratzinger nun mit dem platonischen Begriff der ‚Anamnesis‘. Platon versteht unter diesem Begriff die Erinnerung der Seele an ihre unmittelbare Schau der Ideen vor ihrem Eintreten in den Körper.85 Ratzinger findet auch in Röm 2,14f das Motiv der Erinnerung und kann so den philosophischen Begriff der Anamnesis auf den paulinischen Gedanken des den Heiden ins Herz geschriebenen moralischen Gesetzes beziehen. „Die … ontologische Schicht des Phänomens Gewissen besteht darin, dass uns so etwas wie eine Urerinnerung an das Gute und an das Wahre (beides ist identisch) eingefügt ist; dass es eine innere Seinstendenz des gottebenbildlich geschaffenen Menschen auf das Gottgemäße hin gibt.“86 Ratzinger beschreibt diese „Anamnese des Ursprungs, die sich aus der gottgemäßen Konstitution unseres Seins ergibt“87, nicht etwa als ein inhaltliches Wissen von bestimmten Normen, sondern vielmehr als einen ‚inneren Sinn‘, „eine Fähigkeit des Wiedererkennens, sodass der davon angesprochene und inwendig nicht verborgene Mensch das Echo darauf in sich erkennt. Er sieht: Das ist es, worauf mein Wesen hinweist und hin will.“88 Der Mensch erinnert sich also gewissermaßen an einen ihm als Geschöpf vom Schöpfer eingeprägten Begriff des moralisch Richtigen. Er findet auf dem Grund seines Seins seine ursprüngliche, verschüttete Natur, die schöpferische Vernunft seines Seins.
Bei aller Bezogenheit