möglichst genau an die nachfolgende Generation weiter.117 Für Ratzinger bedeutet das: „Es gibt nicht bloß das Werden, in dem sich alles ständig verändert, sondern es gibt das Beständige, die immerwährenden Projekte, die immerwährenden Ideen, die die Wirklichkeit durchleuchten und ihre ständigen Leitprinzipien sind.“118 Im Begriff des ‚Projekts‘ findet Ratzinger dabei offensichtlich den bleibenden Willen einer schöpferischen Vernunft ausgedrückt, wenn er sagt: „Nur der Schöpfergeist war stark genug und groß und kühn genug, dieses Projekt zu ersinnen.“119
Nun stellt sich natürlich die Frage, wie trotz der beschriebenen Konservativität der Natur überhaupt Entwicklung stattfinden kann. Monod antwortet darauf mit dem Verweis auf Übertragungsfehler des Erbgutes bei der Fortpflanzung der Organismen. „Solche Fehler können sich summieren, und aus der Summierung von Fehlern kann Neues entstehen“120: „Ist der Einzelne und als solcher wesentlich unvorhersehbare Vorfall aber einmal in die DNS-Struktur eingetragen, dann wird er mechanisch getreu verdoppelt und übersetzt; er wird zugleich vervielfältigt und auf Millionen oder Milliarden Exemplare übertragen. Der Herrschaft des bloßen Zufalls entzogen, tritt er unter die Herrschaft der Notwendigkeit, der unerschütterlichen Gewissheit.“121
Bis zu diesem Punkt bezeichnet Ratzinger die Beobachtungen Monods als rein empirisch und geht sie mit. Doch nun folgt ein für ihn „verblüffender Schluss: Auf diese Weise, durch die Summierung von Übertragungsfehlern, ist die ganze Welt des Lebendigen, so ist der Mensch entstanden. Wir sind ein Produkt zufällig sich häufender Fehler.“122 Diesen Schritt, der den Menschen auf ein bloßes Zufallsprodukt reduziert, kann Ratzinger nicht mitgehen. Die lebendigen Geschöpfe sind für ihn nicht „Produkt von äußeren Zufällen, was immer ihre Faktoren sind.“123 Denn Monod in diesem Punkt zu folgen, hieße, anzunehmen, „das ganze Konzert der Natur … steige aus Irrtümern und Misstönen auf, lauter Misstöne, die sich wunderlicherweise zu einem Konzert dann zusammenfügen.“124 Laut Ratzinger hat Monod damit selbst die Absurdität seiner Aussagen eingeräumt. Denn wie kann aus lauter Misstönen ein Konzert entstehen?
Monods Fehler liegt für Ratzinger darin, dass er den Gedanken einer schöpferischen Vernunft von vornherein als unwissenschaftlich ausklammert und deshalb zu einer widersprüchlichen Aussage gelangt: „Ich denke, hier erweist sich dann doch eine bestimmte Definition von wissenschaftlicher Methode als unvernünftig und damit auch unwissenschaftlich, denn Wissenschaft hat wohl mit Vernunft zu tun.“125 Monods Theorie kann also nach Meinung Ratzingers aufgrund fehlender innerer Logik nicht vor der menschlichen Vernunft standhalten, da sie nur die naturwissenschaftliche Vernunft zu Wort kommen und darüber hinaus keine andere Form der Vernunft gelten lässt.
Aufgrund dieser Engführung des Vernunftbegriffs ist Monod wie andere Evolutionstheoretiker Ratzinger zufolge gezwungen, Wissenslücken in der Theorie durch „mythologische Versatzstücke“126 zu überbrücken, „deren Scheinrationalität niemanden im Ernst beeindrucken kann“127. Ratzinger verweist an dieser Stelle auf Formulierungen in Monods Zufall und Notwendigkeit, bei deren Lektüre es seines Erachtens schwerfällt, „etwas anders als Selbstironie des Forschers zu sehen, der von der Absurdität seiner Konstruktion überzeugt ist, sie aber aufgrund seines methodischen Entscheids … aufrechterhalten muss.“128
Eine sich absolut setzende Evolutionstheorie ist für Ratzinger also höchst unvernünftig, weil sie von der für sie notwendigen Annahme der schöpferischen Vernunft abstrahiert, deren Ergänzung sie seiner Ansicht nach bedarf, um die Entstehung der Arten in wirklich umfassender Weise zu erklären. Denn die „großen Projekte des Lebendigen“ sind für ihn eben nicht „Produkte einer Selektion, der man Gottesprädikate beilegt, die, an dieser Stelle unlogisch und unwissenschaftlich, ein moderner Mythos sind.“129 Sie verweisen vielmehr „auf einen, der Projekte hat, verweisen auf schöpferische Vernunft.“130
Erwähnt werden muss an dieser Stelle auch Ratzingers Beobachtung eines impliziten Verweises auf den subjektiven Charakter der Wirklichkeit in der Rede der Naturwissenschaftler: „Auch die verbissensten Neodarwinisten, die jeden finalen, zielgerichteten Faktor aus der Entwicklung ausschalten wollen, um ja nicht in den Verdacht der Metaphysik oder gar des Gottesglaubens zu geraten, reden mit der größten Selbstverständlichkeit immerfort von dem, was ‚die Natur‘ tut, um jeweils die besten Durchsetzungschancen wahrzunehmen.“131 Die Natur wird für Ratzinger hier mit Gottesprädikaten bedacht und ganz ähnlich der alttestamentlichen Figur der Weisheit als „bewusst und äußerst vernünftig handelnde Größe“132 verstanden. ‚Die Natur‘ oder ‚die Evolution‘ gibt es aber als Subjekt gar nicht, sondern es handelt sich nach Ratzinger dabei um einen sprachlichen Behelf zur Zusammenfassung einer Reihe von Vorgängen innerhalb der Natur. Es scheint ihm aber „offenkundig, dass dieser – vielleicht unverzichtbare – sprachliche Behelf gewichtige Fragen in sich enthält.“133
An anderer Stelle geht Ratzinger weiter, wenn er fragt, „ob irgendetwas an dieser ganzen Theorie noch heil bliebe, wenn man diese Fiktion strikt verbieten und auf ihre konsequente Ausschaltung dringen würde. In der Tat würde kein logischer Zusammenhang mehr bestehen bleiben.“134 Der Gedanke des subjektiven Charakters der Wirklichkeit und damit der Schöpfungsgedanke ist nach Ansicht Ratzingers in der Sprache der Naturwissenschaft also schon implizit enthalten und zeigt sich auch auf diese Weise als die notwendige Voraussetzung der naturwissenschaftlichen Vernunft.
1.4.5. Der Primat der Vernunft
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Evolutionstheorie nach Ratzinger dann unvollständig und unlogisch bleibt, wenn sie „ihre eigenen Lücken überspielt und die über die methodischen Möglichkeiten der Naturwissenschaft hinausreichenden Fragen nicht sehen will.“135 Sie muss anerkennen, dass diese Fragen, die innerhalb ihrer selbst aufgeworfen werden, nicht innerhalb ihrer selbst zu lösen sind. Sie verweisen vielmehr auf eine Rationalität der Natur, die sich nach Ratzinger zum einen in der Lesbarkeit der Materie zeigt, zum anderen im Entwicklungsprozess als Ganzem, der „trotz seiner Irrungen und Wirrungen durch den schmalen Korridor hindurch“136 für ihn etwas Rationales darstellt.
Es geht Ratzinger also im Kern um die Einbettung der Evolutionstheorie in ein rationales Ganzes. Das scheinbar Unvernünftige wird vom Vernünftigen umgriffen und so als im Prinzip vernünftig erkannt. „Letzten Endes geht es um eine Alternative, die sich bloß naturwissenschaftlich und im Grunde auch philosophisch nicht mehr auflösen lässt. Es geht um die Frage, ob die Vernunft bzw. das Vernünftige am Anfang aller Dinge und auf ihrem Grunde steht oder nicht. Es geht um die Frage, ob das Wirkliche aufgrund von Zufall und Notwendigkeit … also aus dem Vernunftlosen entstanden ist, ob also die Vernunft ein zufälliges Nebenprodukt des Unvernünftigen und im Ozean des Unvernünftigen letztlich auch bedeutungslos ist oder ob wahr bleibt, was die Grundüberzeugung des christlichen Glaubens und seiner Philosophie bildet: In principio erat verbum – am Anfang aller Dinge steht die schöpferische Kraft der Vernunft.“137 Dies ist die Kernfrage, die den Vernunftbegriff Ratzingers charakterisiert und auf die man in dieser Arbeit in verschiedenen Variationen immer wieder stoßen wird: Gibt es ein vernünftiges Prinzip, das die Wirklichkeit strukturiert und auf das wir uns als Menschen mittels unserer Vernunft beziehen können, oder ist die Wirklichkeit im Ganzen unvernünftig und unsere eigene Vernunft nur ein Zufall der Evolution?
In Bezug auf die naturwissenschaftliche Vernunft lässt sich die Frage, wie schon gesehen, so ausdrücken: Ist die Evolutionstheorie die alles bestimmende Theorie der Wirklichkeit oder muss sie sich in eine ihr übergeordnete, rationale Struktur einordnen lassen? Es wurde deutlich, wie Ratzinger auf der Basis der naturwissenschaftlichen Vernunft für die letztere Alternative argumentiert: Naturwissenschaftliche Vernunft wird seiner Überzeugung nach erst durch den Bezug auf eine ihr vorgegebene vernünftige Struktur der Wirklichkeit möglich. Durch ihre Arbeit bringt die Naturwissenschaft diese vernünftige Struktur der Wirklichkeit mehr und mehr zum Vorschein. Außerdem lässt sich auch die Evolutionstheorie laut Ratzinger nur unter der Voraussetzung dieser Annahme einer ihr übergeordneten Vernunft erklären.
Der Primat der Vernunft vor dem Unvernünftigen ist somit für