letzten zehn Jahren über 1000 „fresh expressions of church“ gegründet, vielfältige und kreative Gemeindeformen jenseits der bewährten Ortsgemeinde. Die beiden Erzbischöfe, Bischöfe und Kirchenleitung unterstützen dies intensiv. „Fresh expressions“ sind für die englischen Kirchen inmitten von finanziellen Abbrüchen und Mitgliederschwund ein unübersehbares Hoffnungszeichen. Ob Café-Gemeinden, „Überraschungskirche“ für junge Familien, Gemeinden für jungen Erwachsene oder diakonische Gemeindeformen in sozialen Brennpunkten – für bisher wenig erreichte Zielgruppen wird Kirche durch solche frischen Formen wieder relevant. Sie verstehen sich als Ergänzung zu vorhandenen Ortsgemeinden und wollen die bisherige Form von Kirche bereichern, nicht ersetzen. Für diese Zusammenarbeit von bewährten und neuen gemeindlichen Formen mit einer gemeinsamen missionarischen Ausrichtung – treffend mit „mission-shaped church“2 beschrieben – haben die Anglikaner den Begriff der „mixed economy“ geprägt. Die jeweiligen Stärken sind offensichtlich. Ortsgemeinden haben eine geografische Nähe mit gewachsenen volkskirchlichen Chancen und Kontaktbrücken. „Fresh expressions“, deren Sozialformen weniger vorgegeben und durch ihre jeweiligen Trägerkreise geformt werden, haben ihre Stärken eher in kirchenfernen Milieus und setzen auf Beziehungsnetzwerke und ganzheitlich gelebte Gemeinschaft. Ihr Ansatz lässt sich so zusammenfassen: Früher haben wir Menschen zu unseren Veranstaltungen in die Kirche eingeladen (Komm-Struktur). Danach sind wir zu den Menschen gegangen, um sie an ihren Lebensorten zu uns einzuladen (Geh-Struktur). Nun bleiben wir bei den Menschen, um mit ihnen in ihren Lebenswelten neue gemeindliche Formen zu entwickeln.3
Während der intensiven Reflexionsphasen auf drei ökumenischen Studienreisen nach London zwischen 2009 und 2011 und auf flankierenden Studientagen entwickelte sich nicht nur ein wachsendes ökumenisches Netzwerk in Landeskirche und Bistum, sondern auch eine vertrauensvolle Weggemeinschaft untereinander. Das Lernen am dritten Ort ermöglichte uns, jenseits von konfessioneller Trennschärfe gemeinsame Entdeckungen zu teilen und die Konsequenzen unserer Erfahrungen für unsere jeweilige Kirchenlandschaft zu bedenken.4 Unser Miteinander entwickelte sich zu einem lebendigen Kommentar der ersten vier Artikel der Charta Oecumenica5: Gemeinsam im Glauben zur Einheit der Kirche berufen, gehen wir aufeinander zu und handeln gemeinsam mit dem Ziel, das Evangelium zu verkünden.
Als im Frühjahr 2011 in Filderstadt bei Stuttgart der Kongress Gemeinde 2.0 mit dem Transfer von anglikanischen Erfahrungen in süddeutsche kirchliche Kontexte nach extrem kurzer Werbephase über 800 Menschen anlockte,6 lag der Gedanke auf der Hand: Wir möchten den uns herausfordernden Horizont einer Kirchenentwicklung in ökumenischer Weite noch weiteren Menschen mit Leidenschaft für ihre Kirche im norddeutschen Raum bzw. darüber hinaus zugänglich machen. Neben den inspirierenden fresh expressions of church in England wollen wir auch andere weltkirchliche Impulse (u. a. aus dem Bistum Poitiers7, den Philippinen sowie den USA8) und vor allem die Dynamik der vielen kleinen Aufbrüche in unseren Kirchen wahrnehmen.
Das „energetische“ Anliegen – der Horizont des Aufbruchs
Zwei Hypothesen lagen der inhaltlichen Kongressplanung zugrunde:
1. Wenn die Kirche in Zukunft nah bei den Menschen bleiben bzw. überhaupt wieder in die lebensweltliche Nähe der Menschen rücken möchte, gelingt dies nur über Netzwerke von unterschiedlichen kirchlichen Orten mit gemeinsamer, missionarischer Ausstrahlungskraft und neuen pastoralen Strukturen. Basis für diesen Ansatz bildet die gemeinsame Berufung aus der Taufe. Die unterschiedliche Differenzlogik der Konfessionen, die zwischen Laien und Klerus, Geistlichen und „Nicht-Theologen“, Ehrenamtlichen und beruflich Tätigen unterscheidet, entfaltet die verschiedenen Charismen, die mit der einen Taufe gegeben sind. Kirche baut sich von den Getauften her auf, lokal, an unterschiedlichen Orten, in verschiedenen Formen. Für diese ekklesiologische Wende muss ein bislang dominierendes Kirchenbild, das sich auf die Ortsgemeinde als die Sozialform und den Priester bzw. Pastor als die religiöse Repräsentanz von Kirche konzentriert, verflüssigt und das allgemeine Priestertum der Getauften als Ausgangspunkt von kirchlicher Entwicklung entdeckt werden. Die Frage nach einer neuen Kultur des Kircheseins, nicht nach der Struktur, wird zur Schlüsselfrage der Zukunft. Diese Frage lässt sich nicht an den konkreten Menschen als den Subjekten von Kirche vorbei beantworten – und auch nicht vorbei an jener ebenso unberechenbaren wie notwendigen Inspiration des Geistes Gottes. Wie Kirche zu gestalten ist, wird zur Frage aller, nicht nur von Expertinnen und Experten. Rückblickend formuliert eine Teilnehmerin: „Dieser Kongress hat mich beflügelt. Viele Ideen habe ich mitgenommen und einiges von dem, was uns Hauptamtliche erzählen, kann ich jetzt besser verstehen und einordnen. Vorher hatte ich oft das Gefühl, dass wir Ehrenamtlichen als Lückenbüßer, die nichts kosten, verheizt werden sollen. Nun sehe ich, dass wir gestalten können und sollen und dass wir ernst genommen werden. Hoffentlich bewahrheitet sich das auch bei uns.“
2. Der Wandel der Kirchenbilder und die Entdeckung der eigenen Berufung aus der Taufe heraus kann gewollt, aber nicht gemacht werden. Als geistlicher wie als Bildungsprozess ist er unverfügbar. Dazu braucht es einen Mentalitätswechsel, der weder angeordnet noch geplant werden kann. Es gibt jedoch ästhetische wie inhaltliche Faktoren, die eine disponierende Wirkung für diese an sich unverfügbaren Prozesse haben. Überzeugende und inspirierende kirchliche Beispiele können deutlich machen, dass Kirche noch ganz anders aussehen kann, als ich sie bisher erlebt habe. Menschen mit Passion können mir den Weg zu den Quellen weisen, die das eigene kirchliche Engagement nähren. Visionäre und prophetische Blicke können mir die Gegenwart neu deuten und Horizonte öffnen, die ich bislang nicht wahrgenommen habe – und all dies in ökumenischer Weite. Vervielfä ltigung der Wahrnehmungsperspektiven aber eröffnet die Erfahrung von Freiheit und den Zuwachs von Handlungsmöglichkeiten. Wo hier noch Begeisterung einzieht, kann ich mich neu auf den Weg machen – vom Gipfel eines Kongresserlebnisses hinab in die Niederungen meines kirchlichen Alltages, der für mich neu zum Land der Verheißung geworden ist.
Für das Konzept des Kongresses bedeutete dieser primär „energetische“ Ansatz: Wir verteilen keine fertigen Rezepte, sondern erzählen Geschichten. Wir bieten primär Anschauungsbeispiele von Lebensorten und -formen des Glaubens und weniger programmatische Soll-Abstraktionen. Wir versuchen den verhängnisvollen Konjunktiv zu vermeiden, der vielstimmig tönt, wie Kirche zu sein hätte, was sie alles noch machen müsse etc., um dann doch nur das Überforderungsgefühl zu steigern. Wir orientieren uns in der Dramaturgie des Kongresses nicht am Proporz im Blick auf die veranstaltenden Kirchen, sondern am Interesse der Teilnehmenden. Wir nehmen in den Blick, was sich in den unterschiedlichen Erfahrungen, Initiativen und Aufbrüchen als gemeinsames Bild für eine Kirche der Zukunft abzeichnet. Wir schaffen Raum für Partizipation und informelle Begegnungen, wir vernetzen – bereits im Vorfeld – über Social Media und natürlich auch auf dem Kongress. Ein Sechstel der Angebote im Bereich der Workshops und im Networkingbereich konnten wir über ein offenes Mitwirkungsportal auf der Web-site generieren. Wir bieten eine „mixed economy“ an Frömmigkeits- und Milieustilen. Und wir feiern in den liturgischen Teilen, die sich durch die Plenarveranstaltungen ziehen, dass die Geschichte der einen, allgemeinen Kirche mit einem verheißungsvollen Indikativ beginnt – „Ihr seid das Licht der Welt“ (Mt 5,13). Damit wurden die liturgischen Teile nicht zum frommen Sahnehäubchen, sondern zum selbstverständlichen Ausdruck des geteilten Lebens während der Kongresstage. Treffend formulierte es ein Teilnehmer: „Der spirituellste Raum war die ‚selbstverständliche‘ Ökumene, die über dem ganzen Kongress schwebte.“
Inspiration und Interaktion – die Struktur des Kongresses 9
Die Struktur des Kongresses bestand aus den vierstündigen Vorkonferenzen am 14. 2. und den beiden Kongresstagen am 15. und 16. 2. 2013. Die Vorkonferenzen griffen unterschiedliche Themen auf und vertieften sie mit Impulsen, Praxisbeispielen und interaktiven Formen sowie Beratungsangeboten. Hier trafen sich Experten, Expertinnen und Interessierte für ein Themenfeld. Die Themenpalette reichte von ökumenischen Werkstätten zu lokaler Kirchen- und Gemeindeentwicklung, zu Glaubenskursen und Fundraising über „Mission-shaped church“ mit englischen Gästen, kreativen Gemeindeformen