weisen: Wenn für religiöse Erfahrungen eine Wahrnehmung dessen charakteristisch ist, „was uns unbedingt angeht“ (P. Tillich), wird dabei nicht „etwas Unbedingtes“ erfahren (nach Art eines sachhaften oder personalen Gegenübers), sondern die spezifische Form bzw. das besondere Format eines Angegangenseins, d. h., es wird Unbedingtheit erfahren. Die Erfahrung solcher Unbedingtheit wäre somit ihrer Ereignishaftigkeit nach subjektimmanent, ihrem Modus und ihrer Struktur nach transzendierte sie die Bedingtheit des Subjekts und hätte in diesem Sinne eine Außenreferenz. Allerdings wäre erneut und eigens zu klären, worin der („onto-logische“?) Wirklichkeitsstatus dieses „Außenbezuges“ besteht.
Dabei wäre zu überlegen, ob etwa der „ontologische Gottesbeweis“ ANSELMS VON CANTERBURY (1033–1109) hierfür eine Vorlage liefern könnte. Anselm ist überzeugt, dass es (mindestens) einen Denkakt gibt, dessen Inhalt als unabhängig vom Denkvollzug gedacht werden muss; mehr noch: Der Vollzug dieses Denkens wird vom Inhalt dieses Aktes erst in Gang gesetzt. Dieser Inhalt besagt zudem, dass er nicht bloß als Gegenstand des Denkens gedacht werden kann. Denn dieser Inhalt lautet: „das worüber hinaus Größeres nicht gedacht werden kann“ (id quo maius cogitari non potest), d. h., er nötigt das ihn denkende Subjekt, jede Bewusstseinsimmanenz zu transzendieren und etwas Unüberbietbares zu denken. Das Denken bzw. der Denkakt ist zwar ein bewusstseinsimmanentes Geschehen, der Inhalt dieses Denkaktes aber bezieht sich auf etwas, das nicht bewusstseinsimmanent sein kann. Der Gedanke von etwas Unüberbietbarem muss mehr als bloß ein Gedanke (bzw. etwas Gedachtes) sein, weil Gedanken überbietbar sind. Etwas Unüberbietbares hat man erst dann gedacht, wenn man seine Existenz annimmt und wenn man sein Nicht-Sein nicht denken kann. Die Außenreferenz dieses Denkens transzendiert darum auch jeden Bereich, innerhalb dessen etwas kontingent Wirkliches – und mag es noch so großartig sein – als Außenreferenz (z. B. sinnlicher Wahrnehmungen) vorkommen kann. Denn auch zu ihm ist sie als ein „quo maius“ zu denken. Das Kontingente mag real sein, aber es ist nicht notwendigerweise real (dies macht ja gerade seine Kontingenz aus). Daher ist das Unüberbietbare „jenseits“ alles Kontingenten zu denken und wenn es denk- und seinsmöglich ist, dann muss es eo ipso „immer schon“ sein.18
Dass diese Überlegungen heute nur noch im Konjunktiv formuliert werden können, verweist auf einen für die Theologie einst unstrittigen Sachverhalt, der in den Gottesbeweisen affirmativ artikuliert wurde und gegenwärtig nur noch in Frageform begegnet: Gibt es einen kritischen Maßstab, mit dem die Theologie den Gottesglauben hinsichtlich seiner „Gegenstandsfähigkeit“ verifizieren kann, so dass er sich nicht in bloß individuellen Gewissheiten und reiner Bewusstseinsimmanenz erschöpft? Lässt sich tatsächlich der Nachweis führen, dass Mensch und Welt in ihrer Kontingenz („Geschöpflichkeit“) auf eine sie bedingende und ermöglichende Größe verweisen, auf die sie „real“ bezogen und von der sie zugleich „real“ unterschieden sind? Bilanziert man die neuzeitliche Erkenntnis- und Metaphysikkritik,19 dann sind der Theologie nahezu alle Kriterien und Möglichkeiten abhandengekommen, diese Fragen anzugehen. Jeder der einst für unausweichlich und unbestreitbar gehaltenen Erfahrungs- und Denkansätze muss hinsichtlich seiner anscheinend ebenso unbestreitbaren Deutungen (inklusive ihrer Prämissen und Schlussfolgerungen) mit Vorbehalten versehen werden.
• Woher wissen wir, dass unser Denken nicht nur für den Bereich der innerweltlichen Erscheinungen erkenntnisfähig ist, sondern auch für deren Möglichkeitsbedingungen, die in der „Transzendenz“ angesiedelt sind?
• Woher wissen wir, dass das Dasein der Welt nicht doch einer Kette von Zufällen entspringt? Gibt es nicht genügend Anzeichen für die Absurdität unseres Daseins, für das Fehlen einer in die Natur eingelassenen „Grundordnung“ der Werte und Normen?
• Woher wissen wir, dass unsere Sprache die Wirklichkeit so erfasst, wie sie „wirklich“ ist? Ist nicht alles Denken ein Konstruieren? Trifft nicht auch der Gedanke des Notwendigen und Unabdingbaren nur etwas Gedachtes? Ist das Wort „Gott“ nicht bloß eine „Kopfgeburt“?
Wenn alle diese Denkvoraussetzungen des Wortes „Gott“ in die Krise geraten sind, muss dies Folgen haben für den Denkinhalt des Wortes „Gott“.20 Die christliche Rede von Gott hat aus ebendiesem Grund heute erhebliche Probleme, sich verständlich zu machen. Es sind bereits die Verstehensvoraussetzungen dieser Rede und nicht erst ihr Inhalt, welche die Gottesrede prekär erscheinen lassen.21 Die christliche Botschaft ist gerade deswegen für viele Zeitgenossen zu einer unassimilierbaren Fremdsprache geworden. Weggefallen, zerbrochen sind jene Plausibilitätsstrukturen und sozio-kulturellen Selbstverständlichkeiten, deren das Evangelium offensichtlich bedarf, um Gott zur Sprache bringen zu können. Die christliche Rede von Gott ist zu einem Text ohne Kontext geworden.
Je schneller sich die Moderne modernisiert, umso mehr wird Gott für sie ein Fremder. Aus den wissenschaftlichen Plausibilitäten wurde er vertrieben und für Moralbegründungen entbehrlich; ausgeschieden ist er aus dem Kalkül der Ökonomie und sperrig geworden beim Ausfüllen metaphysischer Reflexionslücken.22 Das philosophische Reden von Gott hat sich schon lange verfangen in den Schleppnetzen der Religionskritik. Und auch die Logik der Theologie schafft es immer weniger, den Gottesgedanken zusammenzudenken mit den Katastrophen der Geschichte. Das Bild eines allmächtigen und guten Gottes will nicht passen zu einer Welt, die seine Schöpfung sein soll und dennoch von einer Blutspur unschuldigen Leidens gezeichnet ist.23 Am Ende der Moderne steht der Gottesglaube ohne feste Plausibilitäten da. Es gibt offenkundig keinen allgemeinen Erfahrungs- oder Denkhorizont mehr, innerhalb dessen der moderne Mensch genötigt wäre, von Gott zu reden. Man kann über die Entstehung der Welt, über die Bedingungen der Erkenntnis und über die Gründe der Moral reflektieren, ohne dass sich dabei der Gedanke an Gott nahelegt.24 Selbst in religiösen Fragen ist er heute entbehrlich. Wer Interesse an Spiritualität anmeldet, muss dies nicht mit einem Interesse am Theismus verknüpfen. Man kann auch ohne Gott religiös sein.
Die kulturellen Plausibilitäten der Moderne stehen ohnehin im Zeichen der Verpflichtung, sich in Fragen der Wirklichkeitserkenntnis und der Lebensgestaltung nur den Imperativen der (autonomen) Vernunft zu unterstellen. Wenn die Welt sich von selbst versteht, bedarf es keiner anderen Größe mehr, die ein Weltverständnis ermöglichen könnte. Die Moderne weist den Menschen in die Welt zurück, nicht über sie hinaus. Sie ist abweisend gegenüber allem, was unsere Welt auf eine die Welt transzendierende Weise angeht. Schon gar nicht zwingt etwas in der Welt dazu, über oder von Gott zu reden.
Was aber bleibt von den traditionellen Gottesbeschreibungen übrig, wenn das Wort „Gott“ nicht mehr für den transzendenten Grund des Seins oder für den Maßstab für die Bestimmung moralischer Maßstäbe steht? Gehören sie ins Archiv, ins Antiquariat der religiösen Sprache? Was soll man tun, wenn diese Hauptwörter der Theologie nichts mehr benennen und darum nichts mehr bedeuten? Nach einem ebenso als Kritik (an überkommenen theologischen Redeformen) wie als Aufruf (zu einer Erweiterung der theologischen Grammatik) interpretierbaren Wunsch Kurt Martis bleibt die Möglichkeit übrig, „daß Gott ein Tätigkeitswort werde“. In den überflüssig gewordenen Substantiven sollen Verben entdeckt werden, die Gott als Ereignis einer bestimmten Praxis buchstabieren. Wer „verbalisieren“ will, um was es im Glauben geht, darf keinen Nominalstil pflegen. Damit ist mehr gemeint, als dass sich die Bedeutung des Wortes „Gott“ aus seinem praktischen Gebrauch ergibt. Im Zentrum steht die Überzeugung, dass dieses Wort etwas zu tun und nicht bloß zu denken gibt: Man kann nicht an Gott glauben und untätig bleiben. Die Praxis des Evangeliums ist der Weg, sich die Wahrheit des Gottesgedankens „einzuhandeln“. In einer Zeit, da der Gottesgedanke für etwas steht, das undenkbar geworden ist, scheint ein möglicher Ausweg darin zu bestehen, seine Plausibilität über eine spezifische Praxis zu erweisen. Danach hat sich auch die Sprachform des Glaubens und der Theologie zu richten. Auch hier regiert der Primat der Praxis. Praxisrelevante Aussagen sind in der Regel normative oder präskriptive Aussagen, d. h. Sätze über das, was zu tun ist. Hier heißt es „Gesagt – getan“. Wer davon überzeugt ist, muss die Gottesrede in der Tat „entsubstantivieren“ und Verben verwenden.
Aber auch dieser Ansatz wirft Fragen auf, die sich auf dem Wege der Praxis allein nicht beantworten lassen. Wie lässt sich denken, dass im Tun des Menschen Gott selbst am Werk ist? Ist nicht bei allem, das in der Welt getan wird, erwiesen, dass es