Hans-Joachim Höhn

Der fremde Gott


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(z. B. „Gott befindet sich in einem Paralleluniversum“) oder als expressive Ausdrucksformen subjektiver Emotionen aufgefasst werden können (z. B. „Ich habe das Gefühl, dass Gott die Welt erschaffen hat“) bzw. als Hypothesen auftreten, die bestimmte Wirklichkeitsannahmen fingieren (z. B. „Christen tun so, als ob Jesus von Nazareth Gott als Vater habe“).31 Wenn nun ebenso gezeigt werden kann, dass keine andere Sprachform zur Verfügung steht, um das zu artikulieren, was Christen „eigentlich“ meinen, dann deutet dies weniger auf ein Versagen der Sprache und der Möglichkeit vernünftiger Rede hin. Vielmehr scheint darin deutlich zu werden, dass Christen – entgegen ihrer Behauptung – eigentlich nichts Vernünftiges zu sagen haben.

      Gegen diese Schlussfolgerung wird in Religionskreisen zunehmend auf ein vielfaches „Vernunftversagen“ in der Moderne verwiesen und bestritten, dass alles, was zu sagen ist, in der Sprache der neuzeitlichen Vernunft formuliert werden muss. Deren Sprache und Sache gelten als kompromittiert und konterkariert durch das Widervernünftige, an dem die Religion teilhaben würde, sollte sie sich die Sache und Sprache der Vernunft zu eigen machen. In der Tat haben sich die von der Moderne ausgelösten Rationalisierungsprozesse längst als höchst ambivalent herausgestellt. Die Dialektik der Aufklärung hat die Gleichsetzung von Autonomie und Fortschritt als voreilig erwiesen. Es sind die Siege der aufgeklärten Moderne, die ihre Krisen hervorrufen.32 Ihre ökologischen Krisen und ökonomischen Pathologien lassen danach fragen, ob sie bei ihren Fortschrittsprojekten nicht ihr Autonomie- und Säkularitätsideal überdehnt hat. Der Kern dieses Ideals besteht in der Vorgabe, nur mit jenen Ressourcen auszukommen, welche die säkulare Vernunft mit ihren eigenen Mitteln erschließen und sichern kann. Hat sich die Moderne mit diesem Ideal nicht übernommen? Wird nicht jetzt sichtbar, dass sie auf Kräfte angewiesen ist, die „jenseits“ des Säkularen zu entdecken sind? Drängt sich nicht neu die Notwendigkeit auf, sich für das „Andere“ der Vernunft zu interessieren?

      Das Projekt einer Weltbeherrschung als uneingeschränkter Ausführung menschlicher Autonomie bleibt zweifellos so lange unerfüllbar, wie jene Bedingungen menschlichen Daseins ausgeblendet bleiben, welche diesseits und jenseits der Vernunft zu orten sind. Hier gilt der Grundsatz: Es geht zwar niemals ohne Vernunft, aber auch nicht mit der Vernunft allein („sola ratione numquam sola“). Nicht nur Grenzen des Wachstums, sondern auch Grenzen der Vernunft sind unbestreitbar. Sie werden dort sichtbar, wo sich die Autonomie- und Fortschrittsversprechen der Moderne als unerfüllbar erweisen. In einer Zeit gewachsener Sensibilität für ihre ökologischen und ökonomischen „Entgleisungen“ braucht es nicht zu verwundern, wenn es eine neue Offenheit für jenes Krisen- und Lebenswissen gibt, das die Religion repräsentiert. In ihm spricht sich aus, was der Mensch nicht hinter sich lassen darf, wenn er vorankommen will. Abgewirtschaftet haben jene Größen und Kräfte, die nur ein für Mensch und Natur ruinöses, zweckrationales und instrumentelles, auf ein Unterwerfen der Wirklichkeit abgerichtetes „Herrschaftswissen“ verwalten. Hoch im Kurs stehen Traditionen, die ein „Verständigungswissen“ offerieren, das den Menschen wieder in Einklang mit sich und seiner Welt bringen kann.

      Die damit einhergehende – vielfach eher behauptete oder beschworene als empirisch belegte – Renaissance der Religion, De-Säkularisierung der Kultur und Re-Spiritualisierung von Lebensdeutungen33 hat jedoch wenig Nachfrage für die Rede von Gott ausgelöst.34 Der „postsäkulare“ Trend zur Religion hat die Gottesfrage weitgehend ausgelassen. Und wo sie dennoch publizistisch aufgegriffen wurde, hat die einschlägige Literatur zwar dafür gesorgt, dass die Rede von Gott wieder im Kommen ist,35 ohne jedoch ein Kommen Gottes ansagen zu können. Bei aller Notwendigkeit, sich für das (religiöse) „Andere“ der Vernunft zu interessieren, besteht offensichtlich kein Anlass, mit dieser Notwendigkeit die Frage nach Gott zu assoziieren.36 Trotz aller Dialektik von Säkularisierungsprozessen bleibt ein Hauptsatz der neuzeitlichen Religionskritik in Geltung: Für das Reden von Gott besteht keine innerweltliche Notwendigkeit.

      1.2. Bestreitungen:

      Für und wider die Notwendigkeit Gottes

      Wenn Gott im Horizont der Welt nicht mehr nötig ist – was ist dann mit ihm? Ein nicht mehr notwendiger Gott ist kein richtiger Gott mehr – ein Gott, der kein richtiger Gott ist, ist auch nicht wirklich Gott. Was weder richtig noch wirklich ist, ist so gut wie nichts. Und ein Gott, der so gut wie nichts ist, ist so gut wie tot. Folgt man dieser Ableitung, dann kommt damit auch die Theologie an ihr Ende. Ist damit aber alles gesagt, was am Ende der Moderne von Gott gesagt werden kann? Wenn sich die Theologie dieser resignativen Schlussfolgerung nicht anschließen und ihre Frage nach Gott nicht aufgeben will, kommt sie gleichwohl an dem Befund der innerweltlichen Nicht-Notwendigkeit Gottes nicht vorbei. Die Frage nach Gott kann nur im Kontext einer Gott los gewordenen Welt redlich gestellt werden. Außerhalb der religionskritischen Plausibilitäten der Moderne kann sie diese Frage nicht überzeugend angehen.

      Die „Gottlosigkeit“ der Moderne und ihr Streben nach Autonomie bedingen einander. Erst in der Verarbeitung dieser Interdependenz ist es möglich, das christliche Reden von Gott wieder denkbar und verantwortbar zu machen. Die Verarbeitung des neuzeitlichen Atheismus und die Formulierung eines christlichen Gottesbegriffs sind somit als zwei zusammengehörende Aufgaben zu begreifen – und zwar (auch) aus explizit theologischen Gründen. Denn Gott kann nicht als Gott gedacht werden, ohne dass zugleich die Welt und ihre geschichtliche „Verfassung“ bedacht wird. Die Verfassung der Welt betrifft aber nicht nur den Gedanken, sondern auch die Wirklichkeit Gottes. Gottes eigene Wirklichkeit wird thematisch, wenn die Realität der Welt – seiner Schöpfung – und ihre geschichtliche Signatur begriffen werden. Deren Eigenart besteht aber nun darin, die Welt ohne Gott zu denken. Gott kann daher auch theologisch nicht ohne eine Welt gedacht werden, die ohne Gott gedacht werden will. Aber welche Theologie ist dazu imstande? Auf keinen Fall jene Theologie, welche die Kraft und Herrlichkeit Gottes behauptet, die liebevolle Nähe Gottes beschwört und sich selbst nicht einzugestehen wagt, dass keine Erfahrung eine solche Rede heute noch stützen kann. Selbst die Frommsten unserer Tage räumen ein, wenn man ihnen erlaubt, ehrlich zu sein, was ihre Glaubensnot ausmacht: dass sie ihren Gottesglauben nur noch als Kontrasthandlung zum Erlebnis seiner Folgenlosigkeit leben können, dass sie Gott bei seinem Wort genommen haben, um am Ende zu erleben, dass er es an ihnen nicht erfüllt hat.

      „Wir haben gebetet, und Gott hat nicht geantwortet. Wir haben geschrien, und Er ist stumm geblieben. … Wir hätten Ihm beweisen können, dass unsere Ansprüche bescheiden, daß sie erfüllbar sind, wo Er doch der Allmächtige ist; wir konnten Ihm darlegen, dass die Erfüllung dieser Bitten im eigensten Interesse seiner Ehre in der Welt und seines Reiches ist – wie sollte sonst noch einer glauben können, daß Er der Gott der Gerechtigkeit und der Vater der Erbarmung und der Gott allen Trostes ist, daß Er überhaupt ist? (…) Wir haben gebetet. Aber wir wurden nicht erhört. Wir haben gerufen, aber alles blieb so stumm, daß wir uns schließlich lächerlich mit unserem Geschrei vorgekommen wären, wenn es eben nicht von der Not und der Verzweiflung erpreßt gewesen wäre.“37

      Die Erfahrung einer Glaubensnacht bezeugen auch die Tagebücher und Briefe von Mutter Teresa von Kalkutta (1910–1997).38 Ihre Zeugnisse des Erlebens einer inneren Leere, eines Gottvermissens, eines Gottesverlustes stehen im scharfen Kontrast zu dem in der Öffentlichkeit verbreiteten Bild einer von Gottes Nähe buchstäblich „erfüllten“ Heiligen. Ihr war es möglich, in der Weise der Sehnsucht nach Gott an ihrem Glauben festzuhalten. Doch nicht allen Christen ist dies vergönnt. Viele religiöse Biographien der letzten Jahrzehnte erzählen von einem allmählichen Abgleiten – zunächst als Distanzierung von religiösen Institutionen, dann aber auch als Abwendung von jeglicher geformter Frömmigkeit.39 Die religiöse Grunderfahrung vieler Zeitgenossen ist, keine Erfahrung des Unbedingten, der Transzendenz mehr zu machen. Sie erleben an sich das Schwinden religiöser Gewissheiten – an ihre Stelle tritt nichts Neues und nichts Anderes, sondern buchstäblich: Nichts.

      „Ich befinde mich mitten im Prozeß einer Ablösung, die an mir geschieht, ohne dass ich es will. Ich gleite und gleite immer weiter fort, irgendwohin ins Leere, wo niemand mehr ist, auch kein Echo, wenn ich versuche zu rufen. Kaum sind noch die Gestade sichtbar, von denen ich kam; und die Worte, die Namen, die ich einmal hatte, um das Heilige