wie die Kindheit einen Menschen prägt, kann auch die eigene Generation oder, in noch weiterem Sinne betrachtet, das eigene Zeitalter ein Leben maßgeblich beeinflussen.
In Europa war das 19. Jahrhundert eine Epoche, in der eine optimistische Zukunftsoffenheit einem bewussten Rückblick auf die Vergangenheit gegenüberstand. Der Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft brachte viele technische Errungenschaften und Neuheiten mit sich: Massenproduktion, Telegrafie, internationaler Handel und neue Transportmittel wie die Eisenbahn. Durch diesen Fortschritt entstand ein völlig neues Begreifen von Raum und Zeit. Scheinbar gab es keine unüberwindbaren Grenzen mehr, die Welt war so intensiv vernetzt wie niemals zuvor. Das führte in der Folge nicht nur zu einer neuen Form von Freiheit, sondern auch zu neuen gesellschaftlichen Zwängen. So war das Leben mithilfe der standardisierten Zeitmessung fortan streng getaktet; Pünktlichkeit wurde zu einer Selbstverständlichkeit.
Mit dem Fortschritt gingen zugleich manche traditionellen Werte und Glaubenssysteme verloren – das tief menschliche Bedürfnis nach Stabilität und Kontinuität musste in anderer Weise gestillt werden. Etwa durch die Beschäftigung mit der Menschheitsgeschichte – ausgerechnet in diesen Zeiten des Wandels liegen die wahren Anfänge der Archäologie.
Heinrich Schliemann war in vielerlei Hinsicht ein »Kind seiner Zeit«, und so war es mir ein Anliegen, in diesem Buch seine Lebensereignisse wie auch seine Taten in den größeren Zusammenhang des Zeitgeschehens einzubetten.
Dank seines Ehrgeizes und seines Talents schaffte er den Weg aus seiner Armut heraus aus eigener Kraft, begann bereits in seinen frühen Zwanzigern eine erfolgreiche Kaufmannskarriere und war mit vierzig Jahren schließlich Millionär. In seinem Beruf halfen ihm nicht nur Glück, sondern auch eine große Portion Mut, neue Wege zu gehen, sowie ein bemerkenswertes Gespür dafür, welche Geschäfte mit welcher Ware Gewinn in der Zukunft bringen könnten. Doch als er reich genug war, um sich zur Ruhe setzen zu können, tat er dies keinesfalls. Er beendete die Kaufmannstätigkeit und suchte nun nach einer Aufgabe, die ihn geistig erfüllen würde – die aber zugleich noch eine viel größere Bedeutung haben sollte. Schliemann wollte sich einen gebührenden Platz in der Gesellschaft verschaffen. Schließlich entschied er sich für die Beschäftigung mit der Vergangenheit. Archäologie wurde seine Passion.
Von Heinrich Schliemann durchgeführte und geplante Grabungen
Je länger ich mich mit seinem Leben beschäftigte, desto kürzer schien mir manches Mal der zeitliche Abstand, der zwischen unserer Gegenwart und Heinrich Schliemanns Epoche liegt. Seine Getriebenheit, der Druck, den er sich selbst auferlegte, und das Gefühl, ständig gegen die Zeit zu arbeiten – kommt uns das nicht bekannt vor? Nicht ohne Grund wird von manch einem behauptet, die Industrielle Revolution sei in ihrem Einfluss auf die Menschheit mit der Neolithischen Revolution vergleichbar. Im 19. Jahrhundert liegen gewissermaßen die Wurzeln der Lebensart, die bis heute den Rhythmus unserer Gesellschaft maßgeblich bestimmt.
Heinrich Schliemann hat uns einen enormen Fundus an Dokumenten hinterlassen, darüber hinaus sind viele weitere Quellen wie etwa Zeitungsartikel überliefert. Die Forschung verfügt mittlerweile über ein recht differenziertes Bild von seinem Leben. Dennoch beruhen nach wie vor die meisten unserer Informationen auf Aussagen aus seinen Selbstzeugnissen – und da Schliemann sich und seinen Werdegang gerne inszenierte, ist es in manch einem Fall nach wie vor schwierig, Realität von Fantasie zu trennen. Weil er nicht immer bei der Wahrheit geblieben ist, polarisiert seine Person bis heute. In seinem Leben schien sich eben alles um den Mythos zu drehen. Das ging so weit, dass er letztendlich sogar einen Mythos um sich selbst erschuf. Auch das ist eine Seite Heinrich Schliemanns, die ihn bis heute so faszinierend macht.
Viele Personen haben mich beim Entstehen dieses Buches begleitet. Mein ganz besonderer Dank gilt dabei Tina Niethammer – für ihre großartige Unterstützung und ihre unermüdliche Geduld.
Metamorphose
Es ist der 28. November 1841, als die Dorothea zu ihrer Jungfernfahrt vom Hamburger Hafen ablegt. Über der Stadt liegt die friedliche Stille und Finsternis des frühen Wintermorgens. Eigentlich hätte das Segelschiff zu diesem Zeitpunkt längst auf dem Atlantik in Richtung Venezuela fahren sollen, doch wegen des fehlenden Windes hatte sich die Abfahrt um mehrere Tage verzögert. Nun ist es so weit: Zur Freude des Kapitäns bläht bereits in der Nacht zuvor eine kräftige Brise die Segel der Brigg auf, sodass die Reise endlich beginnen kann. Als die Leinen losgemacht werden und die Dorothea sich zügig von der Hafenkante entfernt, hat sie dreizehn Besatzungsmitglieder sowie drei Passagiere an Bord. Zu Letzteren gehört ein junger Mann. Dass er in weniger als zwei Monaten bereits seinen zwanzigsten Geburtstag feiern würde, vermutet man auf den ersten Blick nicht – zu klein scheint er und von zu schmächtiger, fast kindhafter Statur. Seine Haut ist von einer kränklichen Blässe gezeichnet, als wäre auf sie viele Wochen lang kein Sonnenlicht mehr gefallen. Der junge Mann heißt Heinrich Schliemann, und mit der Dorothea will er in eine unbekannte Zukunft fernab der Heimat aufbrechen, von der er sich Abenteuer und Glück erhofft.
Das Gepäck des jungen Mannes ist übersichtlich. Es besteht aus nicht viel mehr als einer Seegrasmatratze, zwei Wolldecken und – das wohl Kostbarste – mehreren Empfehlungsschreiben, die ihm helfen sollen, in Südamerika eine Beschäftigung zu finden.
Bereits am zweiten Tag – die Brigg hat über die Elbe mittlerweile das offene Meer erreicht und fährt auf der Höhe von Helgoland – zieht ein Sturm auf. Das Wanken des Schiffes wird in den kommenden Stunden immer stärker und das dumpfe Aufschlagen der Wellen an den Schiffswänden immer durchdringender. Schliemann ist nicht der Einzige, der unter Seekrankheit leidet und seinen Schlafplatz am liebsten gar nicht mehr verlassen würde. Am zehnten Tag hat sich der Sturm zu einem Orkan entwickelt, dessen Kräfte eine gefährliche Dynamik im Meer erzeugen. Die Wellen reißen die Dorothea mal hoch in den Himmel, dann wieder tief in den Abgrund, wo das Wasser sie von allen Seiten endgültig zu verschlingen droht. Um Mitternacht ruft der Kapitän alle an Deck; dort müssen Schliemann und seine Mitreisenden von nun an ausharren. Irgendwann glaubt Schliemann, möglichst weit oben in den Masten am sichersten zu sein. Als er eben im Begriff ist, hinaufzuklettern, kann das Schiff dem Sturm nicht mehr standhalten – mit einem ohrenbetäubenden Krachen zerbricht es und sinkt. Schliemann verliert den Halt und fällt tief ins eisige Wasser. Mit den letzten Kräften schwimmt er zurück an die Oberfläche. Neben ihm schaukelt eine leere Tonne, die er nach mehreren Anläufen endlich zu fassen kriegt. Seine Hände klammern sich an dem nassen, rutschigen Holz fest. Von der Kälte völlig verkrampft lassen sie auch dann nicht die Tonne los, als ihn die Erschöpfung immer wieder besinnungslos werden lässt. Stundenlang treibt er auf dem Meer, bis er schließlich auf einer Sandbank liegen bleibt. Als Schliemann wieder zu sich kommt, glaubt er, entfernte Stimmen zu hören. Zaghaft öffnet er seine vom Salzwasser brennenden Augen und entdeckt tatsächlich Menschen, von hier aus gesehen kaum größer als Ameisen, die an einem Strand stehen und in seine Richtung zu gestikulieren scheinen. Die Bewohner der holländischen Insel Texel schicken ein Boot mit mehreren Männern hinaus zur Sandbank. Schliemann ist gerettet.
*
Der Schiffbruch und das wundersame Überleben eines äußerlich so unscheinbaren Passagiers – diese Erzählung soll der Auftakt zu Heinrich Schliemanns Lebensbeschreibung sein. Schliemanns Weg wirkt auf der einen Seite eigentümlich, denn bis zu seinem Lebensende fällte er viele Entscheidungen, die teils bizarr anmuten, und ertrug auch viele Schicksalsschläge, von denen manche uns unvorstellbar erscheinen. Auf der anderen Seite treffen wir in Schliemanns Leben ständig auf Bedingungen, Situationen und Wendepunkte, die wir in vielen Biografien seiner Zeitgenossen in ganz ähnlicher Form wiederentdecken und die somit – im großen Kontext betrachtet – an ihrer ursprünglichen Außergewöhnlichkeit deutlich verlieren.
Nur wenige Wochen nach dem traumatischen Ereignis auf See schreibt Schliemann einen vierundsechzigseitigen Brief an seine Schwestern, in dem er schildert, was ihm alles widerfahren ist, seit er seine Heimat Mecklenburg verlassen hat. Natürlich berichtet er ihnen auch von dem Schiffsunglück, alles der »reinsten Wahrheit gemäß«. Sein glückliches Überleben lässt ihn darauf schließen,