Leoni Hellmayr

Der Mann, der Troja erfand


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ein kleines Zimmer im fünften Stock eines Hauses gemietet. Und dank der Empfehlung Wendts hat Schliemann auch Arbeit gefunden, und zwar im Handelskontor Hoyack & Co. Als er seinen neuen Arbeitgebern während des Vorstellungsgesprächs ein Schriftstück innerhalb von fünfzehn Minuten in vier verschiedene Sprachen übersetzt, blicken sie sich überrascht an. Schliemann wird eingestellt.

      Das Kontor liegt an der Keizersgracht, einer der Hauptgrachten, die den mittelalterlichen Stadtkern umschließen. In Hoyacks Haus laufen die Patrone und ihre rund zwanzig Mitarbeiter auf Marmorböden und -stufen. Das Hausinnere wird von Gaslampen hell erleuchtet –allein im großen Kontorsaal zählt Schliemann achtundvierzig davon. Einunddreißig Schiffe gehören zum Inventar; gehandelt wird unter anderem mit Getreide und Kolonialwaren. Während Schliemann noch vor einem Jahr auf den Regalen eines kleinen Krämerladens Staub wischte, macht er nun Botendienste für eines der größten Handelshäuser Amsterdams. Zugleich empfindet er seine Arbeitszeiten als deutlich entspannter. Vormittags beginnt das Geschäft nicht vor zehn Uhr. Nachmittags gegen drei Uhr bricht Schliemann zur Börse auf. Nach einer halbstündigen Pause arbeitet er nochmals bis acht Uhr im Kontor. Am Feierabend verabschiedet sich Schliemann vor der prächtigen Eingangstür des Kontors von seinen Kollegen, die sich in unterschiedliche Richtungen zerstreuen. Er will noch etwas frische Luft schnappen, bevor er nach Hause geht, und unternimmt einen Spaziergang. Überall beleuchten Gaslaternen den Weg durch die Gassen, spiegeln sich in den sanften Wellen des pechschwarzen Wassers der Kanäle und Grachten wider. Bei Nacht, in künstliches Licht getaucht und in friedlicher Stille, findet Schliemann Amsterdam noch viel eleganter und herrlicher – so stellt er sich eine Stadt von Welt vor.

      Die vielen neuen Eindrücke auf seiner abenteuerlichen Reise und von seinem neuen Zuhause schwirren in seinem Kopf. Er möchte jemandem davon erzählen, am liebsten seinen Schwestern Wilhelmine und Doris. Als er alle Ereignisse der letzten Wochen endlich schriftlich festgehalten hat, von denen die Schwestern seiner Meinung nach wissen sollten – angefangen von den besonderen Begegnungen kurz vor der Abreise, seinem erstaunlichen Überleben des Schiffsbruchs bis hin zu seiner glücklichen Ankunft in Amsterdam, einer Stadt, von deren Pracht sich seine Schwestern in der Provinz ja keine Vorstellung machen können –, will er den Brief unterschreiben. Da hält er inne und überlegt eine Weile, wie sich der schicksalhafte Beginn seines neuen Lebens am besten vermitteln ließe. Schließlich setzt er den Stift auf das Papier und unterschreibt mit: Henry Schliemann. So wird es fortan unter all seinen Briefen stehen.

      Die Abendspaziergänge bleiben Schliemanns einziges Freizeitvergnügen. Sein Verdienst reicht nicht aus, um die Schaubühnen oder eines der zahlreichen Kaffeehäuser zu besuchen, wo er vielleicht auch einem seiner Kollegen begegnen würde. Und es gibt noch einen weiteren Grund, weshalb er nach einem solchen Ausflug lieber rasch wieder in seine Dachkammer zurückkehrt. Dort angekommen, legt er seinen Rock beiseite, um zwei wollene Unterjacken anzuziehen und ein Katzenfell um seinen Bauch zu wickeln. Eine Heizung fehlt im Zimmer, und den Ofen aus Gusseisen, den er sich vom Schmied gegen eine monatliche Gebühr geliehen hat, wirft er im ersten Winter nur selten an – zu teuer sind die Steinkohlen. Er sitzt an einem kleinen Tisch und schlägt mit kalten Fingerspitzen das siebte Kapitel des Buches Ivanhoe auf. Dann fängt Schliemann, dessen Gesicht nur bis zur roten Nasenspitze aus seinem Wollschal ragt, mit lauter durchdringender Stimme an, den ersten Satz zu lesen: »The – con-dit-ion – of – the – Eng-lish – na-tion – was – at – this – time – suf-fi-cient-ly mi-se-ra-ble.« Jedes Wort, jede einzelne Silbe betont er in einer unbeirrt steten Geschwindigkeit. So fährt er lange Zeit fort, und die englischen Wörter durchschneiden im Stakkato wie Peitschenhiebe mechanisch die nächtliche Stille. Sie dringen durch die dünnen Wände bis hinunter zu den Bewohnern im dritten Stockwerk. Als irgendwann ein kräftiges Klopfen unter den Dielen seines Zimmers ertönt, blickt Schliemann auf die Uhr: Eine Stunde ist vorbei, seit er begonnen hat. Somit kann er die Sprachübung für heute guten Gewissens beenden und seine Nachbarn für den Rest der Nacht verschonen. Er legt das Buch beiseite und greift zu Stift und Papier. Nachdem er seine Hände kurz geknetet hat, um sie besser zu durchbluten, fängt er schweigend an, seine Gedanken auf Englisch niederzuschreiben. Es ist weit nach Mitternacht, als er sich zu Bett legt.

      Englisch ist fortan seine neue, treue Begleitung: wenn er auf dem Weg zum Kontor ist, wenn er auf dem Weg nach Hause ist, wenn er in der Warteschlange vor dem Postamt steht, wenn er nachts nicht einschlafen kann. Er übt das Sprechen, er lernt seine selbst geschriebenen Sätze, aber auch ganze Romane auswendig, mal im Lauten, mal im Leisen. Er überwindet seine Abneigung gegen Gottesdienste und besucht regelmäßig eine englische Kirche, um während der Predigten sein Gehör für die Sprache zu trainieren. Als er ein halbes Jahr in Amsterdam lebt, sind seine Englischkenntnisse für seine Ansprüche bereits ausreichend. Schliemann räumt die alten Lernmaterialien beiseite, um Platz für neue Bücher zu schaffen. Inzwischen ist es Sommer geworden, und in seiner Kammer direkt unter dem Dach steigen die Temperaturen tagsüber in unerträgliche Höhen. Während er über den Büchern brütet, bilden sich auf seiner Stirn kleine Schweißperlen. Aber weder die Winterkälte noch die Sommerhitze halten ihn davon ab, seine Lektionen durchzuziehen. Statt mit Englisch quält Schliemann seine Nachbarn nun Abend für Abend mit den ersten stockenden Übungen im Französischen. Weitere Monate vergehen, und bald kann er sich neben Englisch und Französisch auch auf Holländisch, Spanisch und Portugiesisch unterhalten. Seine selbst erfundene Methode, bestehend aus lautem Lesen, Auswendiglernen und Korrigieren durch Lehrer, hat er in der Zwischenzeit so perfektioniert, dass ihm das Erlernen einer Sprache innerhalb von sechs Wochen gelingt. Sie erfordert viel Zeit und harte Disziplin, aber eines hat Schliemann seit seiner Abkehr von der Heimat begriffen: Die Ziele, die er sich gesteckt hat, wird er nie auf bequemen Wegen erreichen.

      *

      Es ist das späte Frühjahr 1844. Seit rund zwei Jahren lebt Schliemann in Amsterdam und wurde erst kürzlich im Handelshaus B.H. Schröder & Co. eingestellt. Schliemann geht gerne zu seinem neuen Arbeitsplatz. Statt unterfordernder Botengänge zum Postamt übernimmt er verantwortungsvolle Tätigkeiten als Korrespondent und Buchhalter des Kontors, mit einem deutlich besseren Gehalt. Herrn Schröder konnte er vor allem durch seine vielfältigen Sprachkenntnisse überzeugen. Schliemann spürt, dass dieser seine Talente schätzt und ihm etwas zutraut. Gleichzeitig schaut der Patron seinem neuesten Angestellten genau auf die Finger. Aber Schliemann kümmert das nicht weiter, im Gegenteil. Endlich wird er von jemandem gesehen.

      Während seine Karriere bereits erfreuliche Fortschritte zeigt, verändert Schliemann an seinem Privatleben so gut wie gar nichts. Er unternimmt nicht viel mehr als seine Abendspaziergänge, lebt weiterhin in dem kleinen Dachzimmer, das zu jeglicher Jahreszeit die denkbar ungünstigste Temperatur hat. Und er ernährt sich noch immer von Schwarzbrot und Roggenmehlbrei. Das Geld, das er zusammenspart, sendet er seiner Familie nach Mecklenburg. Die einzigen Gäste, die er empfängt, sind seine Sprachlehrer. Aber selbst die kommen seit längerer Zeit nicht mehr vorbei. Denn für die neueste Sprache, die Schliemann unbedingt beherrschen will, findet er niemanden. Genau darin liegt der Reiz für ihn: Könnte er Russisch sprechen, wäre er damit wohl der Erste in Amsterdam.

      Allein schon die Suche nach geeignetem Lernmaterial gestaltet sich schwierig. Von dem Moment an, als er sein neues Projekt vor Augen hat, nutzt Schliemann jede freie Minute, um in Antiquariaten nach russischen Büchern Ausschau zu halten. Es dauert Wochen, bis er das Nötigste erstanden hat: ein Lexikon, eine Grammatik und eine Übersetzung der Abenteuer des Telemach.

      Die Suche nach einem Lehrer gibt Schliemann schließlich auf und beginnt mit dem allabendlichen Auswendiglernen und Schreiben. Doch er muss sich bald eingestehen, dass das laute Sprechen und das darauf folgende Schweigen der Zimmerwände einfach nicht befriedigend sind, genauso wenig wie das aggressive Klopfen unter den Dielen, das irgendwann folgt. Schliemann braucht einen willigen Zuhörer. Schließlich bezahlt er einen Mann, einen Juden aus armen Verhältnissen. Für vier Gulden pro Woche muss dieser sich jeden Abend einen russischen Monolog anhören, von dem er kein Wort versteht. Nach etwa zwei Stunden verabschiedet Schliemann mit heiserer Stimme seinen Gast, der etwas benommen auf den Treppenstufen wankt und mit einem leichten Dröhnen in den Ohren in die Nacht verschwindet. Sechs Wochen später entlässt er den Juden von seinen Pflichtbesuchen. Schliemann beherrscht nun genügend Russisch, um Geschäftsbriefe in dieser Sprache zu schreiben und mit russischen Kaufleuten Gespräche zu führen.

      Im