Fortkommen schenken würde …«
Schliemann hat noch mehrmals in seinem Leben den Schiffbruch beschrieben, auch in seiner Selbstbiografie, die rund vierzig Jahre nach dem Ereignis erschien. Während sich hier wie auch bereits in dem Brief an seine Schwestern zeigt, mit welchem Talent er es schaffte, seine Darstellungen präzise, lebendig und eindrucksvoll zugleich zu schildern, nimmt er es mit den Details nicht ganz so genau, ob nun bei solch banalen Angaben wie der Anzahl der an Bord anwesenden Menschen oder der Art des Rettungsmittels. Je nachdem, in welchem Dokument man liest, wird aus der Tonne ein Boot und aus den drei Überlebenden werden vierzehn. Oder es kommen über die Jahrzehnte hinweg dramatische Zugaben hinzu, so zum Beispiel der kleine Koffer Schliemanns, der als einzige Habseligkeit der gesamten Schiffsfracht auf dem Meere schwimmend gefunden wurde und die so wichtigen Empfehlungsschreiben mit sich trug. Schliemann erkannte offenbar sehr früh die Kraft eines Mythos und dessen Tragweite. Die Legende aus seinen jungen Jahren weist auf die Anfänge einer widersinnigen Eigenheit Schliemanns, einer Art von Paradoxie. Denn während er im Laufe des Lebens seine Bestimmung darin fand, die Realität eines der weltbekanntesten Mythen aufzuspüren, ließ er zugleich sein eigenes Leben immer mehr hinter einer selbst geschaffenen Legende verschwinden. Denn wohl nichts wünschte sich Schliemann so sehr, wie seinem Leben von Kindheit an einen Sinn zu verleihen.
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Am Strand von Texel wartet die kleine Menschengruppe neugierig auf das Boot, das mittlerweile den Gestrandeten von der Sandbank aufgelesen hat und sich auf dem Rückweg befindet. Schliemann verliert zwischendurch erneut das Bewusstsein. Weder bekommt er mit, wie die Strandgänger ihn weg von der Küste in ein nahe gelegenes Haus tragen, noch, wie sie ihn dort behutsam auf eine Sitzbank legen. Erst, als ihn der Wirt des Hauses ein wenig aus der Liegeposition aufrichtet und ihm heißen Kaffee einflößt, gibt Schliemann zum Schrecken aller Anwesenden einen plötzlichen, markerschütternden Schrei von sich. Mit aufgerissenen Augen tastet er vorsichtig seine Zähne ab. Zwei Vorderzähne sind abgebrochen. Stöhnend vor Schmerz betrachtet er nun seinen ganzen Körper. Er ist übersät von Prellungen und Schnitten, die Füße sind dick angeschwollen. Als sich Schliemann von diesem ernüchternden Anblick wieder erschöpft zurücklehnt, fängt der Wirt an, die Wunden zu versorgen. Schliemann tut in diesem Augenblick sogar das Denken weh, trotzdem reicht seine geistige Verfassung aus, um eines ganz sicher zu wissen: Die Reise ist nicht abgebrochen, nur unterbrochen. Lediglich das ursprünglich angestrebte Ziel sollte er noch einmal überdenken.
Einige Tage später ist Schliemann wieder so weit zu Kräften gekommen, um Texel verlassen zu können. Der Wirt hat ihn nicht nur gesund gepflegt und mit Essen aufgepäppelt, sondern ihm auch einen weiteren wertvollen Dienst erwiesen: Schliemann durfte ihm einen Brief an den Schiffsmakler Wendt aus Hamburg diktieren, der ihn überhaupt erst auf die Reise nach Südamerika gebracht hatte. In mehr als dürftiger Kleidung, mit wenigen Almosen in der Tasche und allein in der Hoffnung, von seinem einstigen Gönner bald zu hören und erneut Unterstützung zu erfahren, geht Schliemann an Bord eines Schiffes, das am 20. Dezember in Amsterdam anlegt.
Schliemann nimmt sich, als er das Festland betritt, für seinen ersten Eindruck von der Stadt kaum Zeit; zu eilig hat er es, vom Hafen wegzukommen. Mehrere Stiefelputzer, die die Passagiere des Schiffes in Empfang nehmen, lassen Schliemanns Schritte noch schneller werden: In der zerrissenen Jacke und den alten Klumpschuhen, die der Wirt ihm überlassen hatte, halten sie den heruntergekommenen Mann für einen Konkurrenten und pöbeln ihn von der Seite an. Auch wenn Schliemann ihre Sprache nicht versteht, kann er sich zusammenreimen, dass sie ihn alles andere als willkommen heißen. Eines seiner ersten Ziele ist ein imposantes Haus an der Amstel, in dem Herr Quack, der Konsul von Mecklenburg, lebt. Von diesem erhält er als Starthilfe zehn Gulden, die zusammen mit den Almosen von Texel zur Bezahlung seines ersten Quartiers, für ein paar gebrauchte Kleider und einige Mahlzeiten ausreichen. Die Folgen des Schiffbruchs, der kaum zwei Wochen zurückliegt, sitzen Schliemann tief in den Knochen. Von den wenigen Bewegungen am Tag fällt er am Abend völlig erschlagen ins Bett. Trotzdem findet er keinen tiefen Schlaf. Immer wieder wacht er auf, weiß vor lauter Verwirrung nicht mehr, wo er sich befindet. Fieber kommt hinzu, so stark, dass er wieder das Bewusstsein verliert. Eines Morgens wird er von dem Geruch ungewaschener Kleidung und quälenden Jammerlauten geweckt – die Wirtsleute haben ihn in ein Armenkrankenhaus bringen lassen, und nun liegt er hier, mit dröhnendem Kopf und starken Zahnschmerzen, in einem Zimmer voller kranker Menschen, deren Sprache er nicht spricht, deren Schreie er aber auch ohne Kommunikation versteht. Das also ist Schliemanns erstes Weihnachtsfest fern von Mecklenburg.
Im Pfarrhaus von Ankershagen verbrachte Heinrich Schliemann seine Kindheit.
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»Heimat, ursprünglich der Ort, an welchem man sein Haus (Heim) hat, an
welchem man wohnt, entspricht also genau dem lateinischen domicilium.«
(Brockhaus, 1902)
Es ist sicherlich kein Zufall, dass ein Begriff erstmals richtig wahrgenommen wurde, als dieser seine jahrhundertealte Selbstverständlichkeit zu verlieren begann. So ist es mit allen Dingen, die den Raum eines Individuums füllen, ob materiell oder immateriell: die innige Beziehung zu einem Menschen, das schützende Dach, die tägliche warme Mahlzeit.
Als im 19. Jahrhundert Massen von Menschen – innerhalb von hundert Jahren werden es mehr als achtzig Millionen gewesen sein – begannen, freiwillig in die Ferne abzuwandern, fragte man sich also, was es eigentlich genau war, das sie für ihre Entscheidung zu opfern bereit waren. Sie ließen ihre Heimat zurück, den Ort, in den sie hineingeboren wurden, wo sie die ersten Kontakte zu anderen Menschen erfuhren, wo sie ihre Kindheit oder zumindest einen Teil davon verbracht hatten. Und die Erfahrungen der Kindheit, das wissen wir heute, können Identität, Charakter, Weltauffassungen entscheidend prägen.
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Mit gerade einmal neunzehn Jahren fasste Schliemann den Entschluss, seine Heimat zu verlassen. Die Geschichten von den Schicksalen anderer Auswanderer dürften bei den Mecklenburgern bereits bekannt gewesen sein. Weil die Segelschiffe, eigentlich Frachtfahrzeuge, nicht für den Transport von Menschen konzipiert worden waren, lebten die Passagiere wochenlang dicht gedrängt in den stickigen, dunklen Zwischendecks. Sie mussten desaströse hygienische Zustände ertragen und genügend eigene Lebensmittel dabeihaben. Zu wenig Verpflegung wurde vor allem dann gefährlich, wenn die Überfahrt länger dauerte als erwartet. Eine Überseefahrt nach Amerika zu überleben, war alles andere als wahrscheinlich.
Schliemann wird das gewusst haben, als er in Hamburg von einem Schiffsmakler mit dem Angebot konfrontiert wurde, ihm bei einer Arbeitsstelle in Venezuela behilflich sein zu können. Trotzdem sagte er ohne Zögern zu. Statt sich die Gefahren auf offener See vorzustellen, spielten sich in seinem Kopf Schiffs- und Reisefantasien ab, wie er später seinen Schwestern schrieb. Anscheinend träumte er schon seit Jahren davon, woanders ein Leben zu beginnen. Die Abenteuerlust, vielleicht zu diesem Zeitpunkt noch aus einem jugendlichen Leichtsinn heraus geboren, war aber längst nicht der einzige Grund hierfür. Der Blick in Schliemanns Vergangenheit zeigt, dass er nicht viel zu verlieren hatte und deshalb die Flucht nach vorne wagte.
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»In diesem Dorfe verbrachte ich die acht folgenden Jahre meines Lebens,
und die in meiner Natur begründete Neigung für alles Geheimnisvolle
und Wunderbare wurde durch die Wunder, welche jener Ort enthielt,
zu einer wahren Leidenschaft entflammt.«
(Schliemann, Aus dem Vorwort von Ilios)
Der Weg zu jenem wundersamen, kleinen Dorf namens Ankershagen führt vorbei an sanft geschwungenen Hügeln, Seen und Wiesen, auf denen Kraniche und Störche rasten, vorbei an endlosen Rapsfeldern, die je nach Jahreszeit die einfache Landschaft in sattes Gelb tauchen. Das Erste, worauf der Blick des Besuchers nach dem Ortseingang fällt, ist eine breite Feldsteinkirche, rund achthundert Jahre alt. In einer etwas größeren Siedlung oder umgeben von einer anderen Landschaft würde sie möglicherweise wenig auffallen. Doch dieses Dorf und die weite, stille Umgebung verleihen ihr einen sonderbaren, markanten Charakter. Als würde sie bereits einen Hinweis darauf