vermieden von nun an den Gottesdienst von Ernst Schliemann, und die Kirchengemeinde schickte eine Abordnung nach Waren, um sich über das Fehlverhalten ihres Pastors zu beschweren. Die Dorfbewohner wollten in erster Linie den Pastor treffen, aber mindestens so schwer trafen sie seine Kinder. Heinrichs Freunde tauchten nicht mehr bei ihm auf – ihre Eltern verbaten ihnen den Kontakt zu ihm. Auch Minna durfte nicht mehr mit Heinrich spielen; fortan musste er seine Streifzüge zu den geheimnisvollen Orten allein unternehmen. Solche Ausflüge machte er aber ohnehin kaum noch. Zu sehr spürte er die Blicke und das demonstrative Schweigen, wenn er im Dorf unterwegs war.
Als Großherzog Friedrich Franz I. persönlich eine Ermittlung gegen Ernst Schliemann einleitete, um den Vorwürfen zu dessen angeblich unmoralischem Verhalten und den übrigen Verfehlungen auf den Grund zu gehen, sah Heinrichs Vater den Zeitpunkt gekommen, seine Kinder von Ankershagen wegzuschicken. Nicht einmal ein Jahr nach dem Tod der Mutter brach die Familie auseinander und zerstreute sich in unterschiedliche Richtungen. Heinrichs Geschwister wurden bei verschiedenen Verwandten untergebracht. Er selbst zog bei der Familie seines Onkels in Kalkhorst ein und wurde in den folgenden eineinhalb Jahren von einem Privatlehrer auf den höheren Bildungsweg vorbereitet.
Im Herbst 1833 war es dann soweit: Der elfjährige Heinrich kam auf das Gymnasium Carolinum in Neustrelitz. Doch die Folgen des Skandals in Ankershagen wirkten immer noch nach. Heinrichs Vater war mittlerweile suspendiert worden und konnte das Schulgeld bald nicht mehr bezahlen. Heinrich musste nach drei Monaten das Gymnasium verlassen und auf die kostengünstigere Realschule wechseln. Die Enttäuschung über diesen aufgezwungenen Rückschritt bleibt ein Thema in Heinrichs Leben. Einen Versuch, dieses ungewollte Ereignis zu kompensieren, es metaphorisch in den Griff zu kriegen, könnte man aus seiner Selbstbiografie herauslesen, die er Jahrzehnte später niederschrieb. Dort formuliert Heinrich das Verlassen des Gymnasiums als eine Entscheidung, die er selbstständig getroffen hätte, um die wenigen Mittel des Vaters nicht überzustrapazieren.
Mit vierzehn Jahren begann Heinrich direkt nach dem Abschluss der Realschule eine Kaufmannslehre in einem Krämerladen in Fürstenberg. Die folgenden fünf Jahre arbeitete er von morgens um fünf Uhr bis nachts um elf Uhr. Er verkaufte Heringe, Butter, Kaffee, Talglichter und vieles mehr, mahlte zwischendurch Kartoffeln für die Brennerei oder fegte den Laden. Zur Weiterbildung blieb ihm keine Zeit, im Gegenteil: Das Wenige, was er zuvor gelernt hatte, vergaß er während der Lehrjahre ganz. Außerdem wohnte Heinrich zum ersten Mal weit entfernt von Familie und Verwandten. Zwar fand er in seinem Lehrherrn Hans Theodor Hückstädt einen aufgeklärten und verständnisvollen Mann, mit dem er noch viele Jahrzehnte brieflichen Kontakt pflegte. Dennoch behielt er seine Zeit in Fürstenberg in schlechter Erinnerung und stellte sie stets als einen der Tiefpunkte seines Lebens dar.
Nach fünf zähen Jahren voller anstrengender und eintöniger Arbeit folgte ein Jahr, das von wichtigen Entscheidungen und Begegnungen geradezu überhäuft war und letztendlich in dem Schiffsunglück vor Holland gipfeln sollte. Heinrichs Leben schien Fahrt aufzunehmen. Nachdem sein Arbeitsverhältnis in Fürstenberg beendet war, wollte er zunächst nach New York auswandern, landete dann aber in Rostock, von wo es ihn bald nach Hamburg zog. Nach vielen Jahren ohne Familie und Verwandtschaft traf er innerhalb weniger Monate wieder auf seinen Vater und dessen neue Ehefrau, sah seine beiden jüngsten Geschwister Louise und Paul und lernte zugleich seine neuen Halbgeschwister kennen, Karl und Ernst. Er ging nach Neubukow zum Grab seines älteren Bruders, der zwei Monate nach Heinrichs Geburt gestorben war. In Wismar traf er einen Teil seiner Verwandtschaft. Von dort gelangte er schließlich nach Hamburg.
Nach der Zeitreise durch die mecklenburgische Provinz lernte Heinrich zum ersten Mal in seinem Leben eine Stadt kennen, deren Anblick allein ihn so sprachlos machte, dass er in seiner Unterkunft eine Stunde lang nackt am Fenster stand, ohne es zu bemerken. Auf dem Weg durch die Stadt sog Heinrich das Treiben mit all seinen Sinnen auf: diese vielen Menschen, egal, wohin er blickte; wie sie liefen und rannten, wie sie Heinrich wegdrängten oder ihn vor sich herschoben. Das Dauerrauschen aus dem Geschrei der Händler, die ihre Ware feilboten, aus dem Dröhnen der vorbeifahrenden Pferdekutschen, die den zähen braunen Matsch auf den Straßen hochspritzen ließen, und aus dem mechanischen Klang der Glocken, die von den Kirchturmuhren hoch über den Gebäuden bis hinunter in die Straßenschluchten drangen.
In Hamburg kam es zu einer weiteren prägenden Begegnung. Heinrich suchte Sophie Schwarz auf, deren Affäre mit seinem Vater den Skandal in Ankershagen vor nunmehr zehn Jahren ausgelöst hatte. Sie arbeitete mittlerweile als Zimmermädchen in einem Hotel. Zwar war sie anders gekleidet, aber an ihrem plumpen Gesicht erkannte Heinrich sie trotzdem sofort. Obwohl er sie eigentlich verabscheute, berichtete Heinrich seinen Schwestern später in einem Brief von dem, was Sophie aus ihrer eigenen Perspektive über die schlimmen Ereignisse von damals zu sagen hatte. Ganz besonders ausführlich schilderte er dabei die Vorwürfe, die sie seinem Vater machte, die verlogenen Liebesversprechen eines geachteten Mannes, der das Wort des Höchsten verkündet. Er hatte sie in ihrer armseligen Lage als Dienstmagd ohne große Zukunftsaussichten geblendet. Heinrich brauchte nicht weniger als zehn Briefblätter, um die Anklage Sophies niederzuschreiben. Keine einzige ihrer Aussagen über Ernst Schliemann schien Heinrich seinen Schwestern vorenthalten zu wollen. Seine anfängliche Abscheu gegenüber Sophie schien einem anderen Gefühl gewichen zu sein – vielleicht dem Gefühl eines Leidensgenossen.
Arbeitslos, schwach auf der Lunge und mit Schmerzen in der Brust wurde die Situation in der großen fremden Stadt für Heinrich langsam brenzlig. Um seinen Körper zu kräftigen, ging er regelmäßig in eisig kaltem Wasser baden. Um seine finanziellen Engpässe überbrücken zu können, schrieb er einen Brief an seinen Onkel in Vipperow und bat ihn darum, ihm zehn Reichstaler zu leihen. Dieser schickte ihm zusammen mit dem Geld einen Brief, dessen Inhalt Heinrich tief verletzte. Der Stolz des Neunzehnjährigen muss bereits zu diesem Zeitpunkt groß gewesen sein. Er schwor sich daraufhin, nie wieder um die Hilfe eines Verwandten zu bitten, egal, wie schwer seine Not auch sein möge.
Heinrich war schon einige Zeit in Hamburg, doch es hatten sich bislang keine beruflichen Perspektiven für ihn ergeben. Da lernte er auf der Börse einen Schiffsmakler kennen, der ihn auf eine Idee brachte. Auf die Idee eines Neuanfangs in der Ferne.
*
Als Schliemann am ersten Weihnachtstag 1841 im Amsterdamer Armenkrankenhaus liegt, ist der Enthusiasmus, mit dem er nur wenige Wochen zuvor seine Reise angetreten hatte, auf ein Quäntchen zusammengeschrumpft. Schuld daran hat sein trostloses Umfeld: ein einziges Zimmer gefüllt mit mehr als hundert wimmernden Patienten, von denen jeden Tag drei bis vier als Leichen hinausgeschafft werden. Vor allem aber die unerträglichen Schmerzen in seinem Mund quälen ihn permanent. Einen Abend zuvor, kurz bevor das gedämpfte Glockenläuten der Christmette bis in die Räume des Krankenhauses vorgedrungen war, hatte ein Arzt ihm die Wurzeln seiner abgebrochenen Vorderzähne entfernt. Dieses Jahr, das so vielversprechend begonnen hatte, könnte eigentlich kaum schlimmer enden, stellt Schliemann mit geschwollenem Gaumen fest.
In dem Augenblick, als er sich endlich aus der stundenlangen Rückenlage befreit und in eine einigermaßen bequeme Seitenposition geschoben hat, um trotz der Pein etwas Schlaf zu finden, hört er, wie die Tür geöffnet wird und Schritte durch das Zimmer hallen. Direkt vor seinem Bett werden sie langsamer und klingen ab. Schliemann blickt nach oben und erkennt nach einigen Sekunden Herrn Quack wieder, den Konsul von Mecklenburg, den er am Tag seiner Ankunft in Amsterdam aufgesucht hatte. Nachdem er ihn mit einem Nicken begrüßt hat – auf das Reden verzichtet er lieber –, überreicht der Konsul ihm einen Brief. Es ist eine Antwort vom Schiffsmakler Wendt, den Schliemann von der Insel Texel aus um Hilfe gebeten hatte. Schliemann überfliegt hastig die Zeilen. Danach braucht er einige Augenblicke, um sein Glück zu begreifen. Wendt wird ihm nicht nur Geld senden, sondern will ihn darüber hinaus auch bei der Suche nach Arbeit unterstützen. Die Nachricht wirkt auf Schliemann wie Medizin. Bereits am nächsten Morgen verlässt er das Krankenhaus – allein die Pflaster im Gesicht erinnern ihn noch einige Zeit an das scheußlichste Weihnachtsfest seines Lebens.
Zwei Monate nach seiner Ankunft hat sich Schliemann in Amsterdam sein neues Leben eingerichtet. Die Stadt ist nicht sehr groß und wirtschaftlich längst nicht mehr so bedeutend wie Hamburg, aber sie gefällt ihm trotzdem, zumindest als eine Zwischenstation. Sein Plan steht bereits fest: Für einige Jahre will er hierbleiben, danach wird er sein Glück