Martin Schaub

Das Rütli - ein Denkmal für eine Nation?


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für eine empirische Untersuchung. Denn im Gegensatz zu Denkmälern, die an stark frequentierten Orten im urbanen Raum stehen, kommen die Besucherinnen und Besucher hier nicht zufällig vorbei, sondern suchen den Ort in der Regel absichtlich auf. Drittens fehlt zwar ein Denkmalkörper im engeren Sinne, also ein Objekt auf beschriftetem Sockel, dafür ist das Rütli als Landschaftsdenkmal begehbar, ja erlebbar. Es zeichnet sich durch eine abwechslungsreiche symbolische Gestaltung aus, die sich an mehreren Punkten auf dem Gelände verdichtet und deshalb den idealen Rahmen bietet, um die Benutzung eines Gedenkorts zu erforschen.

      Besucherforschung im Denkmalbereich ist immer noch verhältnismässig selten. Zu Wissensbeständen, Motiven oder Erwartungen von Besucherinnen und Besuchern ist nur wenig bekannt – deshalb dominieren normativ und politisch geprägte Vorstellungen zur Wahrnehmung eines Denkmals sowie zu dessen geschichtskulturellem Stellenwert. Gerade aus geschichtsdidaktischer Sicht bieten sich deshalb empirische Gebrauchsanalysen von Denkmälern an, die zu den ausserschulischen Lernorten resp. Orten des informellen Geschichtserlebens und -lernens zu zählen sind. Zur individuellen historischen Konstruktion tragen, wie neuere Forschungen zeigen, sowohl tendenziell wissenschaftlich basiertes historisches Wissen als auch sogenannte subjektive Theorien oder Alltagswissen bei.[4] Während Ersteres idealerweise in formalisierten Settings, beispielsweise im Geschichtsunterricht, vermittelt wird, werden Alltagstheorien in der Regel ausserhalb erworben.[5] Für die Analyse solchen Geschichtserlebens an einem Denkmal hat Manfred Hettling Ende der 1990er-Jahre ein theoretisches, kulturanthropologisch ausgerichtetes Konzept vorgelegt, das bisher kaum rezipiert worden ist. Er fokussiert dabei auf den sogenannten «Erlebnisraum», der aus einem Denkmal, aus dem damit verbundenen politischen Mythos und seinem Gebrauch in Form des Festes oder des Rituals besteht – ein Rahmen, der Gestaltung, Wirkung und Gebrauch eines Denkmals zu untersuchen erlaubt.

      Die im Schnittfeld von Geschichtsdidaktik und Kulturanthropologie liegende Fragestellung verlangt nach einer entsprechenden Methodenauswahl, inspiriert von der vielfältigen kulturanthropologischen Forschung und ihren Mixed-Methods-Ansätzen. Dazu gehört die quellenkritische Auswertung von heterogenen und teilweise seriellen Archivmaterialien, wie Reiseführer, Fernseh- und Zeitungsbeiträge oder die bisher kaum ausgewerteten Gästebücher des Rütlihauses, deren früheste Exemplare aus der Mitte des 19. Jahrhunderts stammen und als Serie lückenlos erhalten sind. Bildinterpretatorische und sozialwissenschaftliche Analysen basieren ihrerseits unter anderem auf Kurzinterviews, die der Verfasser auf der Rütliwiese führte, auf Kurzfragebogen, die ebenfalls in situ zum Einsatz kamen, oder Postkarten und privaten Bildserien von Flickr, einer populären Online-Fotocommunity. Letztlich zielt das Projekt darauf ab, empirisch gestützte Erkenntnisse zu generieren, auf deren Grundlage sich in einem nächsten Schritt die bisher fehlende Besucherführung adressatengerecht erarbeiten liesse, die dem Landschaftsdenkmal als einem Ort der Information, des Andenkens, der Reflexion und der Auseinandersetzung entspräche.

1 Theoretische Rahmung, Forschungsstand und Fragestellungen

      Bilder und Vorstellungen der eigenen Gesellschaft formen und verändern sich durch das Zusammenspiel von Gedächtnis, Identität und sozialer Wirklichkeit.[6] Gerade bei Denkmalanalysen spielen diese Dimensionen eine wichtige Rolle: Nicht nur das Denkmal als solches bildet den Untersuchungsgegenstand, sondern vielmehr der Umgang der Besuchenden damit und ihr Wissen darüber. Als theoretischer Rahmen für solche Analysen bietet sich die zentrale Kategorie des «Erlebnisraums» an, den Hettling vorschlägt in Anlehnung an Wilhelm Diltheys Erlebnisbegriff und an die kulturanthropologischen Ritualtheorien von Mary Douglas und Victor Turner. Demnach beinhaltet menschliches Verhalten stets eine soziale und eine symbolische Dimension. Der sozialgeschichtlichen resp. soziodemografischen Perspektive steht die Frage nach symbolischen Zeichen und Strukturen gegenüber. Hettling plädiert dafür, dass gerade die Letzteren bei der Analyse menschlicher Handlungen mitberücksichtigt würden, sei es in Form symbolischer Visualisierungen (zum Beispiel Fahnen, Rituale) oder in Form diskursiven Gedenkens (zum Beispiel Reden); denn solche Symbolsysteme bildeten wichtige Orientierungs- und Ausdrucksschemata innerhalb einer Gesellschaft. Dies führt zu der für den «Erlebnisraum» konstitutiven Trias von Denkmal, Mythos und Fest, die Hettling deduktiv am Beispiel eines konkreten Denkmals entwickelt.[7] In diesem Raum kann ein Mensch gedeutete Vergangenheit selbst erfahren, Vergangenheit nachspielen oder nachgespielt sehen: Das erzeugt Emotionen und ermöglicht Erinnerung resp. Gedenken, in Kurzform: Ohne Emotion keine Tradition. Um ein solches «Erlebnis» im historischen Längsschnitt zu analysieren, schlägt Hettling dementsprechend drei untereinander verbundene, kulturanthropologisch fundierte Analysedimensionen vor: a) das Ritual, also die symbolische Praxis und ihre Akteure, die dramatische Inszenierung, die verbal, begrifflich oder auch handelnd erfolgen kann, b) politische Emotionen, evoziert durch Sentimentalisierung oder Poesie mit dem Ziel affektueller Bindungen zum Staat, und c) die individuelle historische Erinnerung resp. das historische Gedenken von Akteuren und deren Weitergabe von Wissen, befördert durch den emotionalen Gehalt.[8] Dieses Erlebnis ist überdies, wie erwähnt, an einen bestimmten Raum gebunden, der nicht original sein, aber über die Aura der Authentizität – verstärkt etwa durch die Präsenz eines Denkmals – verfügen muss.

      Die Überprüfung resp. Fruchtbarmachung von Hettlings Konzept ist bis heute weitgehend ein wissenschaftliches Desiderat geblieben. Einzig Demantowsky hat es aufgenommen und für die Geschichtsdidaktik anschlussfähig gemacht, indem er das «Erlebnis» mit dem lernpsychologischen Begriff des kognitiven Bruchs in Verbindung bringt.[9] Diese für das geschichtsdidaktische Konzept des historischen Lernorts grundlegende Wendung setzt er jedoch nicht um, wenn er Hettlings Trias von Mythos, Denkmal und Ritus – also Hettlings Fest – exemplarisch am österreichischen Kleinwetzerdorfer Heldenberg durchspielt. Inwiefern dieser historische Lernort Lernen bewirken kann, bleibt offen – eine Lücke, die auch die vorliegende Arbeit kaum zu füllen vermag.

      Um ein empirisch operationalisierbares Analysegerüst für die vorliegende Untersuchung zu entwickeln, gilt es, Hettlings fundierende Trias und seine drei vorgeschlagenen Dimensionen Mythos, Denkmal und Ritual durch weitere Theoriebezüge zu differenzieren und zu konkretisieren.

      1.2 Theoretische Rahmung II: Gebrauchsgeschichte und Mythen

      Im Kontext des 700-Jahr-Jubiläums der Eidgenossenschaft von 1991 beschäftigte sich die Schweizer Geschichtswissenschaft intensiv mit Repräsentationsformen der Nation. Daraus entstand eine ganze Reihe von Studien, welche Ideologien und Leitbilder sowie deren visuelle und textuelle Repräsentation beschreiben und analysieren. Diese sind für das vorliegende Projekt von besonderem Interesse.[10] Als bedeutsam hervorzuheben sind zwei Beiträge. Guy P. Marchal und Aram Mattioli unterstreichen, dass einerseits die für die Selbstdarstellung und -vergewisserung inszenierten Bilder der Vergangenheit häufig nicht identisch seien mit der geschichtswissenschaftlich fundierten Darstellung; andererseits erwiesen sich die Repräsentationen stets als orts- und zeitgebunden.[11] Marchal richtete sein Augenmerk in einem weiteren Schritt auf die beobachtbaren Mechanismen, wie Wissen und Vorstellungen über die Nation und ihre Geschichte verwendet werden.[12] Mit dem Begriff der Gebrauchsgeschichte rückte er statt der «Geschichte», der Inhalte, nunmehr deren «Gebrauch», also deren Produktions- und Verwendungs-, ja Instrumentalisierungsprozesse in den Vordergrund. Er definiert seinen Leitbegriff als Geschichte, «die der nationalen Identität dient, sei es als Nationalgeschichtsschreibung, die dem Staat eine zielgerichtete Entwicklungsgeschichte hin zum aktuellen Zustand verpasst, um diesen historisch zu begründen; sei es in Form allgemeiner historischer Vorstellungen und im Bewusstsein lebendiger Geschichtsbilder, die das Selbstwertgefühl, das Bewusstsein einer nationalen Identität stützen und fördern».[13] Gebrauchsgeschichte hat also dienenden Charakter, sie wird zur Identitätskonstruktion eingesetzt, sei es in Form ganzer nationaler Epen, sei es als identitätsstiftende Geschichtsbilder. Gebrauchsgeschichte wird von mannigfachen Akteuren verwendet, verändert, instrumentalisiert und ist daher einer permanenten Umformung unterworfen. Um die Wirkungsweise der Gebrauchsgeschichte zu verdeutlichen, führt Marchal den Begriff der Geschichtsbilder ein, geschichtliche Vorstellungen, die er auch als «imaginaire historique» bezeichnet.[14] Er versteht