Martin Schaub

Das Rütli - ein Denkmal für eine Nation?


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und Frauen) resp. Reduktion historischer Sachverhalte auf grosse Personen, monokausale Erklärungen, linear-eindimensionales Denken, die Personifizierung abstrakter Kategorien, die Stereotypisierung sozialer Ordnungsschemata, ein dominierender Gegenwartsbezug, der sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft prägt, sowie die Verkürzung der Vergangenheit auf ein allgemeines «früher». Solche Merkmale impliziter Theorien dürften auch in den geschichtlichen Vorstellungen nachweisbar sein, wie sie im vorliegenden Projekt erhoben werden. Im Fall des Rütlis beziehen sich diese Vorstellungen auf die mit dem Ort zusammenhängenden Mythen. Für die Analyse zu berücksichtigen ist daher der Umstand, dass sich die Merkmale mythischer Narrative und subjektiver Theorien teilweise überschneiden, wie beispielsweise der generalisierende Vergangenheitsbezug oder die stereotypisierenden, sozialen Konstellationen.[37]

      Dass geschichtskulturelle Institutionen, Professionen, Medien und Publika das individuelle Geschichtsbewusstsein beeinflussen durch spezifische Basisnarrative, scheint offensichtlich, gerade auch im Bereich der nationalen historischen Sinnbildung, in dem das vorliegende Rütli-Projekt zu verorten ist. Demantowsky sieht in den Basisnarrativen erzählerische, nicht einem konkreten Autor zuordenbare Grundmuster geschichtskulturellen Zeitgeistes, der sich wahrscheinlich besonders gut anhand schulischer Geschichtslehrwerke analysieren lasse.[38] Davon unterscheidet er Meisterzählungen, die sich durch «wirkmächtige, aber gleichwohl auktoriale Erzählmuster» auszeichneten.[39] Beide gelte es, «in ihrer jeweiligen Genese, Morphologie, Funktionalisierung und Wechselwirkung» zu analysieren. Was Demantowsky mit diesen Analysekategorien andeutet, verdeutlicht und präzisiert Béatrice Ziegler, indem sie den Umgang mit Geschichte grundsätzlich als machtdurchdrungenen Prozess versteht, der interessengebundene Deutungen hervorbringt.[40] An die Stelle des Zeitgeistes setzt sie wirkungsmächtige Akteure, allen voran den Nationalstaat und seine Repräsentierenden, die Narrative zu prägen und durchzusetzen vermögen. Dies trifft besonders auf individuelle Vorstellungen zu, ja sogar auf persönliche Erinnerungen. Denn sogar solche Erinnerungen zeugten, so Ziegler, nicht von der vermeintlich selbst erfahrenen Vergangenheit, sondern vielmehr von deren Wirkung und der Verarbeitung, unter den Bedingungen der gesellschaftlich vermittelten kommunikativen Situation und den gesellschaftlich mächtigen Diskursen. Dazu trete die ebenfalls sozial bedingte und gerichtete Aufforderung an Individuen, sich zu erinnern – eine Aufforderung, die formal und inhaltlich wirke, das heisst Regeln des Erzählens und Grenzen des Aussprechbaren miteinschliesse. Dieses zwar sozial geprägte, aber dennoch individuelle Erinnern unterscheidet Ziegler vom Gedenken, das sie als kollektiven, machtbestimmten Umgang mit Vergangenheit bezeichnet.

      Diese begriffliche Unterscheidung ist von zentraler Bedeutung – wie die gesellschaftlich mächtigen Diskurse die individuellen Erinnerungen und Vorstellungen prägen, bleibt empirisch schwierig zu fassen. So ist die Wirksamkeit schulischer oder medialer Wissensvermittlung, die auf Derivaten wissenschaftlicher Erkenntnis basiert, mehrfach in Frage gestellt worden.[41] Empirische Nachweise, wie implizite Theorien entstehen resp. wie sie durch geschichtskulturelle Akteure, Institutionen oder Medien geschaffen und beeinflusst werden, stehen noch aus. Diese Lücke zu füllen, kann nicht das Erkenntnisziel des vorliegenden Projekts sein, der Nachweis solcher Abhängigkeiten wäre viel zu komplex und konzeptionell-methodisch kaum zu bewältigen. Vielmehr geht das vorliegende Projekt von Schönemanns Kategorisierung von individueller und kollektiver Vorstellung aus und fächert beide Kategorien möglichst breit auf. Auf diese Weise lassen sich zwar keine Interdependenzen nachweisen, jedoch parallele und konstrastierende Eigenschaften und Tendenzen sichtbar machen.

      1.4 Theoretische Rahmung IV: Denkmäler und ihr Gebrauch

      Denkmäler als Untersuchungsobjekte haben in der Geschichtswissenschaft – im Gegensatz zur Kunstgeschichte[42] – eine eher junge Tradition.[43] Erst Nipperdeys klassischer Aufsatz zu den deutschen Nationaldenkmälern als Ausprägung des Nationalbewusstseins eröffnete die Reihe ideengeschichtlicher Arbeiten zu diesen geschichtskulturellen Objektivation. Gut ein Jahrzehnt später richtete Koselleck sein Interesse auf Kriegerdenkmäler, die er als identitätsstiftend für die Überlebenden interpretierte.[44] Einen eigentlichen Meilenstein setzte sodann Pierre Nora, als er 1986 sein monumentales Werk «Les Lieux de mémoire» herausgab. Darin bezieht er sich explizit auf das Konzept der «mémoire collective» des französischen Soziologen Maurice Halbwachs, das die individuell abrufbaren und zugleich innerhalb einer Gesellschaft geteilten Erinnerungen und Erinnerungsorte beschreibt.[45] Als Erinnerungsort kann nicht nur ein geografischer Ort, sondern ebenso ein Kunstwerk, ein Ereignis, ja eine mythische Gestalt oder sogar eine Idee dienen, denen als historisch-soziale Bezugspunkte identitätsstiftende Funktionen zukommen. Vor dem Hintergrund der kulturgeschichtlichen Wende ab den 1990er-Jahren setzte eine intensive Forschungstätigkeit ein, die auf Entstehungsgeschichte, Sinnstiftungs- und Deutungsmuster, Symbole und Rituale fokussierte. Dazu lässt sich das mehrbändige Werk zu den deutschen Erinnerungsorten zählen, das François und Schulze in Noras Tradition herausgaben.[46] Für die Schweizer Denkmallandschaft liegen die beiden handbuchartigen Denkmaltopographien von Georg Kreis vor. Diese Gesamtdarstellungen verzeichnen und typologisieren die verschiedenen Ausprägungen der «lieux de mémoire».[47] Als «lieu de mémoire» können in der Regel auch – geschichtsdidaktisch gewendet – ausserschulische historische Lernorte angesprochen werden. Demantowsky definiert sie als Raum, der «geschichtsbezogene Erlebnisse einerseits ermöglichen, dessen Potential darüber hinaus aber andererseits auch tatsächlich abgerufen bzw. realisiert» wird.[48] In seiner vorgeschlagenen Typologie unterscheidet er unter anderem authentische von konstruierten Lernorten, je nachdem ob ein Ort mit einem Gründungsmythos verbunden ist oder durch den Ort erst gestiftet werden soll.[49] Zu ersteren zählen in der Regel «historic sites», Orte also, die mit nationalgeschichtlich bedeutsamen Ereignissen oder Persönlichkeiten verbunden sind; als Untergruppe dazu können Gedenkstätten für Opfer politischer Gewaltherrschaft gesehen werden. Dabei komme ihnen, wie Bert Pampel ausführt, nicht nur die Aufgabe zu, Geschichtswissen zu vermitteln, sondern auch nationale Identität zu stiften und staatsbürgerliches Bewusstsein zu fördern.[50]

      Damit eng verbunden, oft sogar identisch, sowohl begrifflich als auch inhaltlich, ist das Denkmal, dessen Objektcharakter sich von der allgemeineren Kategorie der historischen Stätten unterscheidet. Damit ist weniger die Begriffsdefinition im weiteren Sinne gemeint, welche die schützenswerten, alten Baudenkmäler bezeichnet, die sich zu verdichteten und idealisierten Vergangenheitsrepräsentaten entwickeln.[51] Vielmehr trifft hier die enger gefasste, als klassisch geltende kunstgeschichtliche Definition von Hans Ernst Mittig zu. Demnach wird das Denkmal als «ein in der Öffentlichkeit errichtetes und für die Dauer bestimmtes materielles, vor allem plastisches, möglicherweise mit Inschriften ausgestattetes (Kunst-)Werk verstanden, das an Personen oder Ereignisse erinnern und aus dieser Erinnerung einen Anspruch seiner Urheber, eine Lehre oder einen Appell an die Gesellschaft ableiten und historisch begründen soll».[52] Zum einen umfasst diese Definition die Wirkung, die das Denkmal durch seine Prägnanz auf die Betrachtenden haben soll, eine Wirkung, die auf einer «Idee der Autorität», ja der Herrschaft basiere.[53] Zum anderen weist sie bereits auf die geschichtsdidaktischen Funktionen eines Denkmals hin, die im von Jeismann dargestellten «Zusammenhang von Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftsperspektive»[54] verknüpft werden und darin stark an Marchals Gebrauchsgeschichte erinnern. Diese nicht zuletzt geschichtsdidaktisch eminenten Funktionen greift nicht nur Winfried Speitkamp auf, dessen kulturwissenschaftliches Analyseraster für Denkmäler als Gegenstandstheorie in Kapitel 3.9.1 aufgenommen wird, sondern auch Brückner, indem er verschiedene Trägerschaften von Denkmälern und Formen des Gedenkens aufzeigt.[55] Mit seinem «Erlebnisraum»-Konzept, das diesem Projekt zugrunde liegt, stellte Hettling 1997 ein Modell zur Verfügung, mit dem sich die Funktionsfähigkeit von Denkmälern untersuchen lässt – ein Zugang, der sich von den zahlreichen geschichtsdidaktischen Beiträgen zu Denkmälern als ausserschulischen Lernorten unterscheiden, die in ihrer Stossrichtung tendenziell in der kunstgeschichtlich-deskriptiven Tradition stehen.[56]

      1.5 Theoretische Rahmung V: Ritual

      Die Definitionen von Ritualen sind heterogen. Das liegt daran, dass der Begriff des Rituals von einer