4.1.3 und 4.1.4 folgt, also im Analyseteil des vorliegenden Projekts, hat seine Gründe darin, dass die Ergebnisse Furrers mit eigenen Recherchen ergänzt werden und die rütlispezifische Diskussion seiner Resultate direkter in das Zwischenfazit der kollektiven Gebrauchsanalyse einfliessen kann.
Zu individuellen, rütlibezogenen Vorstellungen wiederum sind ebenfalls einige empirische Untersuchungen greifbar. Die frühesten Daten liefern die regelmässig durchgeführten Rekrutenbefragungen, die mit der Einführung öffentlicher Bildungssysteme in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einhergingen.[86] 1874 beschloss der Bundesrat, die Prüfungen jeweils bundesweit durchzuführen und die Resultate, unter anderem zur Vaterlandskunde, zu publizieren – ein Vorgehen, das bis 1915 stattfand.[87] Die in den kantonalen Staatsarchiven aufbewahrten Unterlagen konnten im Rahmen dieses Projektes jedoch nicht aufgearbeitet werden.[88] Einzig die zusammenfassenden Berichte der Bundesbehörden enthalten allgemeine Hinweise zum jeweils erhobenen Zustand geschichtlichen Wissens. Demnach lag das Bildungsniveau in protestantischen Kantonen im Vergleich zu den katholischen wesentlich höher. In Bezug auf die abgefragte Vaterlandskunde holten letztere jedoch – aufgrund spezifischer Schulungsmassnahmen – bis zum Ersten Weltkrieg auf.[89] Im Zuge der «Geistigen Landesverteidigung» nahmen die Behörden die Rekrutenprüfungen wieder auf. Von diesen Erhebungen sind nun rütlispezifische Daten greifbar. So gaben in den Rekrutenbefragungen von 1953 87 Prozent, 1965 84 Prozent der Teilnehmer das Jahr 1291 als Gründungsjahr der Eidgenossenschaft an.[90] Von denjenigen, die Inhalte aus dem Bundesbrief anführen konnten (gut 40 Prozent), zitierte die Hälfte ganz oder auszugsweise den Rütlischwur aus Schillers «Wilhelm Tell».[91] Sowohl diese eindeutigen Werte als auch die weiter oben angeführten Erkenntnisse von Kübler und Furrer spiegeln sich teilweise wider in den Resultaten der repräsentativen Umfrage einer Schweizer Zeitschrift aus dem Jahr 2004, dem Jubiläumsjahr von Schillers «Tell». Sie ergab, dass 75 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer noch immer der Ansicht sind, die heutige Schweiz sei vor 700 Jahren auf dem Rütli entstanden; 51 Prozent glauben, dass Tell die Schweiz tatsächlich von Habsburger Vögten befreit habe.[92] Eng mit dem Festhalten an der mittelalterlichen Geschichte verbunden ist die grosse Emotionalität, mit der einige Personen reagieren, wenn diesbezügliche und als gültig empfundene Vorstellungen in Frage gestellt werden.[93]
Der mit dem Rütli-Rapport eng verbundene General Guisan erfreute sich gemäss der Rekrutenbefragung von 1972 grösserer Bekanntheit, denn nur gerade knapp drei Prozent der Befragten hatten seinen Namen noch nie gehört.[94] In einem gewissen Gegensatz dazu steht das Resultat einer Umfrage, die eine Schweizer Zeitung 2008 durchführte.[95] Bei der Frage nach den «bedeutendsten Schweizern» lag Guisan erst an 16. Stelle.
Weitet sich der Untersuchungshorizont vom Gründungs- und Unabhängigkeitsmythos hin zum nationalen Selbstbild, rückt die Studie von Meier-Dallbach, Rosenmund und Ritschard aus dem Jahr 1979 in den Vordergrund. Eine grössere Sammlung von Pressetexten des Zeitraums von 1920 bis 1977 bildet die geschichtskulturelle Datengrundlage, um die Dynamik des Selbstbildes der Schweiz zu erforschen. Dabei unterscheiden sie ein Vorkriegs- von einem Nachkriegsgedächtnis. Ersteres operiere grundsätzlich bedeutend mehr mit Symbolvorräten, die essenzialistische Umweltdarstellungen ermöglichten und dadurch sakrale, metaphysische oder räumlich-identive Konnotationen aufwiesen, beispielsweise Vaterland oder Heimat. In den Nachkriegsgedächtnissen hingegen sinke die Bedeutung dieser Symbole markant und würde ersetzt durch analytischere, neutralere, womit der Abstraktionsgrad der Symbole in den Nachkriegsgedächtnissen zunehme. Fokussiert auf politische und nationale Identitätssysmbole stellen sie fest, dass diese im deutschschweizerischen Vorkriegsgedächtnis präsenter seien als im gleichzeitigen französischsprachigen und im deutschweizerischen des Nachkriegsgedächtnisses. Die Autoren sehen die Begründung dafür in der direkteren und stärkeren Exposition gegenüber Deutschland, einer Exposition, die eine stärkere Abgrenzung erforderlich gemacht habe.
Insgesamt also kanonisiert sich die Meistererzählung des Gründungsmythos Ende des 19. Jahrhunderts und hielt sich bis in die 1970er-Jahre stabil, um danach zwar dekonstruiert, jedoch nicht durch eine andere, wirksame Erzählung ersetzt zu werden. Die 1291-Gründung wird auch heute noch von einer grossen Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer für authentisch resp. historisch gehalten, Tell dagegen geniesst weniger Glaubwürdigkeit, Guisan weniger Bekanntheit. Im Hinblick auf das nationale Selbstbild wird eine Vielzahl sakraler und räumlicher Symbole nach dem Zweiten Weltkrieg abgelöst durch abstraktere Zeichen, denen zudem weniger Bedeutung zukam.
1.8.1 Literatur
Die aktuelle Forschungslage zu Geschichte und Mythos des Rütlis präsentiert sich als recht günstig. Aus der lokal verwurzelten Historiografie-Tradition heraus entstanden 1998 die Texte für das Rütli-Memo, die 1998 eingeweihte Ausstellung in situ.[96] Josef Wiget, der ehemalige Staatsarchivar von Schwyz, stellte darin, wie schon in seiner Rütli-Broschüre von 1986, den quellenmässig belegbaren Ereignissen die Mythengeschichte an die Seite. Letztere entfaltet er, indem er den langfristig wirkenden Gebrauchscharakter des Mythos betont, dessen Einzigartigkeit hinterfragt und die oft angeführte Zielorientiertheit des Ursprungs und der nachfolgenden Entwicklung in Frage stellt. Die Urner Kantonsgeschichte von Hans Stadler-Planzer enthält ebenfalls ein Kapitel zur «Befreiungsgeschichte», die neben dem Rütli vor allem auf die Tellgeschichte fokussiert.[97] Mit dem gleichen Kanton verbunden war auch die Kunsthistorikerin Helmi Gasser, die bereits 1986 die bau- und kunstgeschichtlich bis heute massgebliche Beschreibung des Erinnerungsortes vorlegte.[98]
Die Aufführung von Schillers «Wilhelm Tell» auf der Rütliwiese im Jahr 2004 aktivierte die Rütli-Forschung gleich zweifach. Denn in diesem Zusammenhang veröffentlichten Kreis und Barbara Piatti ihre Monographien.[99] Während Piatti die Entstehung und Wirkungsgeschichte von Schillers Theaterstück «Wilhelm Tell» nachzeichnet, unternimmt es Kreis – mit wesentlichen Beiträgen von Wiget –, Entstehung, Tradierung und Weiterentwicklung von Denkmal und Mythos auszuleuchten und dabei die politische Inanspruchnahme und Instrumentalisierung aufzuzeigen. Seine Arbeit stellt er explizit in die Reihe der kulturgeschichtlichen Studien der «Lieux-de-mémoire»-Forschung.[100] Kreis interpretiert diese Orte eher als Produkte intuitiven Ursprungs denn als Resultate bewusst gemeinschaftsbildender Absichten – ganz im Sinne der «imagologischen Bastelei» nach Marchal.[101] Kreis wie Marchal distanzieren sich von der dominierenden Definitionsmacht des geschichtswissenschaftlichen Diskurses, wo normativ-hermeneutisch Denkmäler registriert und analysiert werden – und man dabei Gefahr läuft, die national-patriotischen Ideen des 19. Jahrhunderts weiterzuführen anstatt nach alltagsgeschichtlichen Realitäten zu fragen.[102]
Letzteres unternimmt Kreis in der Folge und beschreibt aus mentalitäts- und kulturgeschichtlicher Perspektive den Gebrauch und die Bedeutung des Rütlis von den Anfängen bis in die Gegenwart. Dazu wertet er archivalisches Text- und Bildmaterials aus. Sowohl die konstruierten Bilder, die in das kollektive Bildgedächtnis aufgenommen wurden, als auch den alltäglichen, kollektiven Gebrauch teilt er in drei Dimensionen ein, in eine politische, sakrale und militärische.[103] Kreis legt anhand einer Sammlung von bildlichen Darstellungen dar, dass das Schwören – die metaphysische Verankerung des Staates – und das Rütli zu einer so starken Einheit verschmolzen, dass sich der Rütlischwur vom restlichen Teil der Gründungs- und Befreiungsgeschichte abtrennte und zu einer selbstständigen Bildchiffre geworden ist.[104] Dieses Bild stellt den ursprünglichen Kristallisationspunkt und Referenzpunkt der darauffolgenden Schweizer Geschichte dar.
2009 legte Roger Sablonier eine quellenkritische Interpretation des Bundesbriefs vor, indem er den Bundesbrief (und damit den vermeintlichen Rütlischwur) im Innerschweizer kultur- und sozialgeschichtlichen Kontext des 12. und 13. Jahrhunderts verortet.[105] Mit mediävistischer Sorgfalt differenziert er die in den 70er-Jahren von Marchi[106] eingeleitete Dekonstruktion des Mythos und weist den Bundesbrief als im 13. Jahrhundert gängigen Versuch aus, den Landfrieden zu sichern – konspirative, adelsfeindliche oder staatsbildende Facetten lassen sich darin nicht finden.
Historiografisch dicht bearbeitet ist auch Guisans Rütli-Rapport von 1940. Auf die kritische Würdigung Guisans