Martin Schaub

Das Rütli - ein Denkmal für eine Nation?


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Nationalfeiertag wollten, führte 1899 dazu, dass der Bundesrat den Kantonen ein allgemeines Glockenläuten zum Gedenken an den 1. August empfahl, und setzte damit den Anfangspunkt des 1. Augusts als Feiertag.[164] Zwei Gründe dürften danach zur Etablierung dieses Festes beigetragen haben. Erstens erschien es, aus bürgerlicher Sicht, als einigendes Element über religiöse, kulturelle und politische Grenzen hinweg – in Abgrenzung zum 1. Mai, der klassenspezifisch definiert war.[165] Zweitens eigneten sich die Feiern als Attraktion für die Touristen – weshalb in den Bergen traditionelle Höhenfeuer allmählich auf diesen Tag gelegt wurden.

      Auf dem Rütli signalisierte der Pächter Ulrich im Jahr 1900 den nunmehr offiziellen Nationalfeiertag, indem er am Rütlihaus die Schweizerflagge hisste.[166] Frühste Belege für eine zumindest halboffizielle Bundesfeier auf dem Rütli stammen aus der Zeit des Ersten Weltkriegs, als die Offiziersgesellschaft erste Feiern organisierte, bestimmt für Soldaten und in einfachem Rahmen gehalten.[167] Nach Kriegsende scheint diese Tradition in militärischen Kreisen nicht ganz erloschen zu sein, berichteten doch die Schaffhauser Nachrichten von einer Infanterie-Rekrutenschule in Luzern, die mit einer schlichten Feier am 1. August 1924 auf dem Rütli der Gründung des ersten Schweizerbundes gedenken wollte.[168] Nach der Anzahl der Einträge in den Gästebüchern des Rütlihauses zu urteilen – in den Zwischenkriegsjahren verzeichnen die Bücher am 1. August wenige bis sogar gar keine Einträge – fanden tatsächlich keine grösseren, weder offizielle noch inoffizielle Feiern statt. Diese Beobachtung wird durch die Ausnahme bestätigt, die für 1928 dokumentiert ist, als nämlich eine Musikformation von Auslandschweizern, die aus San Francisco angereist war, auf der Wiese aufspielte.[169] Eine regelmässige Feier scheint also unrealisiert geblieben zu sein, und dies, obwohl gemäss dem Rütlipächter der Wunsch danach vielfach artikuliert worden war.[170] Erst 1937 führte schliesslich der konservative Schweizerische Vaterländische Verband erstmals eine Bundesfeier auf der Rütliwiese durch, eine einsetzende Tradition, welche die SGG zehn Jahre später übernahm und weiterführte.

      Ebenfalls als Gedenkfeier können die beiden Rütlischiessen verstanden werden. Ihre Entstehung und Entwicklung hat Wiget 2012 in einer fundiert recherchierten und reich bebilderten Monographie dargestellt. Die Entstehung des älteren der beiden Rütlischiessen, des 300-m-Schiessens, ist im Kontext des neu entstandenen schweizerischen Bundesstaates von 1848 zu sehen. Denn bereits zuvor, aber dann erst recht nach 1848 kam den grossen gesamtschweizerischen Schützen-, Turner- und Sängerfesten eine wichtige Funktion bei der nationalen Identitätsstifung zu – ein liberales Anliegen, das aber gleichzeitig im Fall der Schützen in konservativem Gewand eines Bürgersoldaten erschien und so dessen versöhnliche Akzeptanz in beiden politischen Lagern zu sichern vermochte.[171]

      Seine Entstehung führen die Rütlischützen auf das Jahr 1859 zurück.[172] Zu diesem Zeitpunkt fand zwar gar keines statt, aber die Luzerner Feldschützen hatten einen Antrag aus den eigenen Reihen diskutiert, der in Anlehnung an die Schillerfeier im selben Jahr ein Schiessen auf dem Rütli vorschlug zusammen mit den Innerschweizer Schützen. Bereits an dieser Stelle zeigt sich die erinnerungspolitische Funktion, die dem Schiessen beigemessen wurde. Das erste tatsächlich durchgeführte Schiessen mit Luzerner und Schwyzer Schützen fand ein Jahr später statt, und zwar am Mittwoch vor Martini, dem Tag des Rütlischwurs, gemäss Johannes von Müllers Schweizer Geschichte. 1862 beschlossen die Luzerner Schützen im Rahmen ihrer ersten Rütli-Schützengemeinde, ein jährliches Schiessen durchzuführen.[173] Nach dem Rückzug der Luzerner als alleiniger Organisatoren gründeten die Innerschweizer Schützen 1875, nun gemeinsam mit den Luzernern, den «Rütli-Schützen-Verein», der das jährliche Rütlischiessen fortan verantwortete.[174] Nach einer Anfangsphase richtete jeweils eine der Innerschweizer Sektionen im Turnus das Schiessen aus.[175] Erst 1993 schliesslich erhielt das Schiessen einen übergeordneten rechtlichen und organisatorischen Rahmen, als nämlich die SGG mit den Rütlischützen einen Vertrag abschloss, der Rechte und Pflichten der Schützen erstmals schriftlich fasste.[176]

      Pistolenschiessen auf kürzere Distanz fanden auf dem Rütli bereits im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts statt, ohne dass sich eine Tradition etablieren konnte, zumal die Rütlikommission nach erneuten Vorstössen ein zweites institutionalisiertes Schiessen auf dem Rütli ablehnte.[177] Es war dann 1936, als die Altdorfer Pistolenschützen das alljährliche Innerschweizer Freundschaftsschiessen auf dem Rütli durchführten aus vaterländischen Gründen – in der Hoffnung, damit den Startschuss für ein Rütlischiessen legen zu können, was auch gelang. Denn zum Abschluss des ersten durchgeführten Schiessens 1936 beschloss die Schützen-Landsgemeinde, das Schiessen von nun an jedes Jahr jeweils am zweiten oder dritten Sonntag im Oktober auszutragen. Als organisierende Rütli-Stammsektionen wurden eine Urner Sektion, eine Schwyzer, zwei Nidwaldner und eine Obwaldner bezeichnet sowie Zofingen als ständige Gastsektion. 1939 erhob die Rütlikommission auch das Pistolenschiessen zur ständigen Institution, die bis heute lebendig ist.

      Damit lässt sich für Gedenkfeiern auf dem Rütli festhalten, dass sie im nationalen Vergleich relativ spät einsetzten; anderen mittelalterlichen Referenzereignissen wurde seit Beginn des 19. Jahrhunderts gedacht. Die erste grosse Feier, jene von 1891, markierte offiziell das festgelegte Gründungsdatum von 1291, ein Jubiläum, das 1941 und 1991 erneut begangen wurde. Als erstes jährliches Gedenken des Gründungsjahres auf dem Rütli kann das 300-m-Rütlischiessen gelten, getragen von Innerschweizer Schützenvereinen. Das 50-m-Schiessen seinerseits entstand in den innenpolitisch bewegten, von der «Geistigen Landesverteidigung» geprägten 1930er-Jahren. Ebenfalls 1938 organisierte der konservative Schweizerische Vaterländische Verband auf dem Rütli erstmals eine Bundesfeier, deren jährliche Durchführung zehn Jahre später an die SGG überging. Zum Andenken an den Rütli-Rapport begingen militärische Kreise erstmals 1960 eine Feier, der weitere folgten.

      1.10 Fragestellungen

      Als theoretischer Kern dient dem vorliegenden Projekt Hettlings «Erlebnisraum», ergänzt durch die in diesem Kapitel beigezogenen theoretischen Erweiterungen. Darstellung 3 visualisiert dieses Gerüst und verortet darin gleichzeitig die konzeptionelle Zweiteilung der Untersuchung. Im Zentrum – grau hinterlegt – befinden sich die drei Komponenten von Hettlings «Erlebnisraum» mit den von ihm vorgeschlagenen kulturanthropologischen Operationalisierungsdimensionen. Dazu zählen das historische Gedenken, das Ritual resp. die symbolische Praxis, die politischen Emotionen sowie der authentifizierende Ort. Wie beziehen sich nun die Komponenten auf die Dimensionen? Korrespondiert das Denkmal mit dem authentifizierenden Ort, der sich mithilfe der Denkmaldefinitionen von Mittig und Nora begrifflich fassen lässt, kann die Komponente des Fests analysiert werden in Form der symbolischen Praxis, gestützt auf die Ritualtheorie von Stollberg-Rilinger. Der Mythos wiederum verbindet sich mit dem historischen Gedenken, dessen Strukturen mit geschichtsdidaktischen Geschichtsbewusstseins-Konzepten zu fassen ist. Die politischen Emotionen schliesslich werden als Teilaspekte sowohl der symbolischen Praxis als auch des historischen Gedenkens verstanden, weshalb sie in der Darstellung als Unterkategorie aufgeführt sind.

      Hettlings «Erlebnisraum» zusammen mit dem erweiterten Theoriegerüst finden in der übergeordneten Dimension von Marchals Gebrauchsgeschichte einen passenden Rahmen, der seinerseits in der geschichtsdidaktischen Zentralkategorie der Geschichtskultur aufgeht. Letztere definiert Schönemann als kollektive Aussenseite des Geschichtsbewusstseins, das sich vom individuellen unterscheidet, eine Differenzierung, welche Darstellung 3 nur ansatzweise wiederzugeben vermag. Denn das historische Gedenken weist hier diese beiden Perspektiven zwar aus, das individuelle und das kollektive Geschichtsbewusstsein sind jedoch auf unterschiedlichen Hierarchieebenen visualisiert. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass alle vier Operationalisierungsdimensionen nach Hettling sowohl aus individueller als auch aus kollektiver Perspektive gesehen werden müssen, zwei Perspektiven, die zwar in einem wirkungsrelevanten Zusammenhang stehen, der sich indes empirisch kaum ausdifferenzieren lässt.[178] So kann etwa der authentifizierende Ort aus der spezifischen Sicht eines Besuchers beschrieben werden oder anhand gesellschaftlich relevanter Abbildungen. Da das Denkmal als authentifizierender Ort den Rahmen des Erlebnisraums bildet, kommt seiner Gestaltung und Wirkungsabsicht besondere Bedeutung zu. Diesem ersten erkenntnisleitenden Bereich (Gegenstandsanalyse) steht der Umgang mit dem Denkmal gegenüber, dem zweiten erkenntnisleitenden Bereich, in der Darstellung 3 als Gebrauchsanalyse bezeichnet, dem