Martin Schaub

Das Rütli - ein Denkmal für eine Nation?


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haben sollen. Umgekehrt stellen diese Medien auch ein Geschichtsbild dar, das für die jeweilige Entstehungszeit der Werke repräsentativ sein dürfte.

      Dabei spannt Furrer ein Analysedreieck auf, indem er die Erkenntnisse aus dem schweizerischen Nationalisierungsprozess kombiniert mit den didaktischen Konzepten der Schulbücher und deren Inhaltsanalyse. Für Letztere verwendet er zwei Ansätze. Zum einen erstellt er Bildkategorien – das Bild verstanden als sprachliches Bild – und untersucht deren Bedeutung und Funktion für Geschichtsbilder.[190] Zum anderen analysiert er diachron die Darstellung der Nationalgeschichte, geht dabei deskriptiv-hermeneutisch vor und ordnet seine Untersuchung nach gewichtigen Merkmalen dieser Geschichtsbilder. Seine Materialgrundlage bilden Schweizer Schulbücher, die seit den 1940er-Jahren auf Primar- sowie auf den Sekundarstufen I und II Verwendung fanden und im Untersuchungskorpus ungefähr gleich stark vertreten sind; zusätzlich zog er noch ältere Werke der Zwischenkriegszeit bei, um Kontinuitäten aufzuzeigen.[191] Wenig überraschend konstatiert er die ähnlichen zeitlichen Abschnitte, wie sie Barbara Helbling für die Lesebücher eruiert hat.[192] Er fasst die Publikationen der Nachkriegszeit aufgrund der inhaltlich-konzeptionellen Verwandtschaft mit jenen der Zwischenkriegszeit zusammen. Dieser Generation folgen die neuen Schulbücher der 1970er-Jahre, deren Grundkonzept in vielen der nach 2000 verwendeten Geschichtsbüchern erkennbar ist. Die Schulbuch-Generation der 1990er-Jahre schliesslich bringt zwar neue Elemente, war aber zum Zeitpunkt von Furrers Untersuchung noch nicht sehr zahlreich. Diese Abfolge von Konzeptionsgenerationen verdeckt in gewissem Sinn den Umstand, dass Schweizer Geschichtslehrmittel sehr lange im Gebrauch waren und über Jahrzehnte in fast unveränderter Auflage erschienen.

      2.1.4 Schulische Lesebücher

      Ebenso wenig wie aus den Geschichtslehrmitteln lassen sich auch aus den obligatorischen Lesebüchern der Schweizer Volksschule Rückschlüsse auf das individuelle Geschichtsbewusstsein ziehen. Vielmehr stellen sie geschichtskulturelle Medien dar, die kollektive Vorstellungen abbilden. Für die kollektive Gebrauchsanalyse dieses Projekts sind sie deshalb, genauso wie die Geschichtslehrmittel, von grosser Bedeutung. Glücklicherweise liegt eine Arbeit vor, die zeigt, inwiefern und vor allem in welcher Form nationale Identität in diesen Lesebüchern ihren Ausdruck fand. Helbling hat dazu 200 Bücher der Schweizer Volksschule für die Mittelstufe, das heisst für das 4. bis 6. Schuljahr der Primarstufe, untersucht und dabei Bestände aus der deutsch- und französischsprachigen Schweiz miteinbezogen.[193] Für die italienischsprachige Schweiz liegt eine analoge Untersuchung von Doris Senn vor, die in vergleichbare Ergebnisse mündet wie jene von Helbling.[194] Gemäss Helbling wirkten in den von den kantonalen Erziehungsdirektionen ernannten Lesebuchkommissionen vor allem Lehrpersonen mit, aber auch Schulinspektoren, Literaten und Journalisten zeichneten als Herausgeber für die Auswahl der Texte verantwortlich. Die Lesebücher, die Anthologiecharakter aufweisen, enthalten Beiträge verschiedener Themenkreise, Autoren und Sprachniveaus, die der jeweilige Herausgeber übernahm und dabei oft auch frei anpasste und veränderte. Das Hauptkriterium für die Auswahl aus diesen drei Bereichen war die Verwendbarkeit im Unterricht; die inhaltliche Konzeption der Lesebücher variierte kantonal stark. Waren in den Lesebüchern katholischer Kantone kirchengeschichtliche Texte zu finden, enthielten andere Sachtexte, zum Beispiel aus der Geografie oder Geschichte. Entsprechend den Lehrplänen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts stand vor allem in der 6. Klasse Geografie und Geschichte der Schweiz im Fokus. Texte, die mit nationaler Identität in Verbindung gebracht werden können, finden sich sowohl im literarischen als auch realkundlichen Teil der Lesebücher. Die Untersuchung von Helbling ist methodisch quellenkritisch-hermeneutisch ausgerichtet. Quantitativ-repräsentative Aussagen sind deshalb nur sehr begrenzt möglich.

      2.1.5 Reiseführer und andere touristische Medien

      Als Analogon zum Medium des Lehrmittels steht im ausserschulischen Kontext, im Freizeitbereich, die Quellengattung der Reiseführer.[195] Auf ihrer Basis planen Touristen ihre Routen, lassen ihren Blick leiten und entwickeln Vorstellungen über bevorstehende Ziele und historische Informationen.[196] Zugleich sind Reiseführer auch geschichtskultureller Ausdruck von zeitgenössisch verankerten Geschichts- und Wertvorstellungen, und zwar derjenigen der Reiseführer-Autoren und deren Verlage. Für das Rütli resp. die Innerschweiz, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend touristisch erschlossen und bereist wurde, setzt die lange Reihe von Reiseführern 1844 ein, als Karl Baedeker die erste Ausgabe seines Führers zur Schweiz veröffentlichte.[197] Die Ausgabe von 1844 bildet gleichzeitig den ersten Eintrag in einer Liste von 84 Reiseführern, deren serielle Analyse Einblicke in die visuelle und textliche (Re-)Präsentation des Denkmals gibt.[198] Die Auswahl der Reiseführer entspricht dem in der Zentralbibliothek Zürich greifbaren Bestand an Schweiz- und Innerschweiz-Führern in verschiedenen Sprachen. Dieser Bestand erstreckt sich über die ganze Untersuchungszeit des Projekts, also von 1844 bis 2013. Ab der Jahrtausendwende um 1900 liegt mindestens alle fünf Jahre – mit Ausnahme des Ersten und Zweiten Weltkriegs – eine Publikation vor, sodass sich der Datenbestand regelmässig und dicht über den Zeitraum verteilt. Fast die Hälfte der Führer stammt aus dem Verlagshaus Baedeker, ein knappes Viertel ist in englischer Sprache verfasst, weniger als ein Zehntel in Französisch sowie drei Exemplare in italienischer Sprache.

      Die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring erbrachte in einem ersten Schritt induktiv, aus den Rütli-Einträgen der Führer gewonnene Kategorien.[199] Diese wurden nach Hettlings Dimensionen von Denkmal, Mythos und Fest geordnet. Im zweiten Schritt wurde die diachrone Entwicklung der drei genannten Dimensionen summarisch untersucht.

      Diese diachrone Reiseführer-Analyse ergänzte die Auswertung weiterer, aktueller touristischer Medien. Die Materialgrundlage dazu bildeten Prospekte, die im Jahr 2013 in den Tourismusbüros in Brunnen und Altdorf, auf den Schiffen der Schifffahrtsgesellschaft des Vierwaldstättersees und den Stationen der Treib-Seelisberg-Bahn erhältlich waren. Aufgrund der sehr ähnlich gehaltenen Präsentationen auf den entsprechenden Internetsites konzentrierte sich die Analyse online verfügbarer Informationen – exemplarisch für die touristische Darstellung im Internet – auf diejenige der nationalen Tourismus-Agentur.[200] Systematisch nicht ganz korrekt wird hier der Wikipedia-Eintrag zum Rütli zu dieser textlichen Kategorie gezählt. Diese Zuordnung liesse sich allenfalls dadurch rechtfertigen, dass Wikipedia-Einträge im Sinn einer Reisevorbereitung konsultiert werden. Die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring[201] erstreckte sich auch auf diese Quellen, ergänzt durch eine Bildanalyse, die im nächsten Abschnitt beschrieben wird.

      2.1.6 Bezeichnungen von Transportmitteln, Strassen und Plätzen

      Die geschichtskulturelle Dynamik des Gedenkens lässt sich auch in dessen Präsenz in Form von Bezeichnungen im öffentlichen Raum ablesen.[202] Dabei dienen beispielsweise Strassennamen als Lesezeichen, die jedoch aufgrund ihrer Kürze lediglich auf das kollektive Gedächtnis verweisen, welches sowohl Referenzereignis als auch dessen symbolische Deutung speichert. Für Deutschland liegen Arbeiten vor, die aus mentalitäts- und politikgeschichtlicher Sicht die in den Bezeichnungen enthaltenen Erinnerungslandschaften aufzeigen.[203]

      Diese geschichtskulturellen Lesezeichen unterliegen indessen der Entscheidungsbefugnis politischer Machträger. Am Beispiel Zürichs seien in aller Kürze die für Strassenbezeichnungen zuständigen Instanzen und die erkennbaren Tendenzen bei der Namensvergabe skizziert.[204] Ein seit 1875 und bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus dem Polizeivorstand und einer Fachkommission zusammengesetztes Gremium machte entweder selbst Namensvorschläge für Strassen oder nahm Anregungen von privater Seite auf. In dieser Fachkommission sassen neben dem Stadtbaumeister führende Geschichts- und Kunstgeschichtsprofessoren. Leitlinien für mögliche Bezeichnungen konnten besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts räumlicher resp. ortsspezifischer Bezug oder thematisch definierte Benennungsmuster für ganze Quartiere sein. Um die Jahrhundertwende, bedingt durch die grosse Eingemeindung von 1893, kamen vermehrt historische Persönlichkeiten, Helden der Nationalgeschichte und Personen von lokaler Bedeutung zum Zug. Seit 1907 schliesslich amtet die aus leitenden Beamten verschiedener Ämter zusammengesetzte Strassenbennungskommission, welche die Strassennamen nach vergleichbaren Kriterien vergibt.