Martin Schaub

Das Rütli - ein Denkmal für eine Nation?


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der mittelalterlichen Gründungsgeschichte hatte bereits im 18. Jahrhundert eingesetzt, verdeutlicht und präzisiert durch den Luzerner Historiker Eutych Kopp in dessen nach 1830 erschienenen Publikationen, die jedoch auf wenig Echo stiessen. Erst Otto Marchis «Schweizer Geschichte für Ketzer» von 1969 stiess Tell vom Sockel und kritisierte die idealisierte Demokratievorstellungen zum Rütlischwur, ohne dessen Historizität anzuzweifeln.[147] Ähnlich gewichtete auch Max Frisch seine Kritik in «Wilhelm Tell für die Schule», wo er den Nationalmythos ebenfalls von Tell aus dekonstruierte.[148] In der Wendezeit um 1990 sah sich die wohlstandsverwöhnte und deshalb auf Kontinuität bedachte Schweiz mit aussen- und innenpolitischen Altlasten des beendeten Kalten Kriegs konfrontiert.[149] Die Feierlichkeiten zum 700-Jahr-Jubiläum, eröffnet auf dem Rütli, fielen in diesem Kontext zweispältig aus. Gegen Ende des Jahrhunderts schliesslich prägten rechtsextreme Gruppierungen die Bundesfeier auf dem Rütli und prägten dessen kollektive Wahrnehmung stark.

      Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass Ende des 15. Jahrhunderts die Überlieferung der Gründungs- und Befreiungssage einsetzte und im darauffolgenden Jahrhundert ihre kanonische Ausgestaltung erhielt. Von Beginn an fundierte die Gründungsgeschichte – der Ort hingegen kaum – die innenpolitische Legitimation und das Selbstverständnis bei gleichzeitiger aussenpolitischer Abgrenzung. Im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert führten aufklärerischer Patriotismus und nationalromantische Strömungen zu einer ideellen Aufladung des Rütli, auf das sich gleichermassen progressive und konservative Kräfte bezogen. Auch deshalb griff der neue, liberal geformte Bundesstaat von 1848 auf die mittelalterliche Gründungs- und Heldengeschichte zurück, ein Rückgriff, der als Legitimationsanspruch und Versöhnungsgeste dienen konnte. Eine weitere mythische Aufladung der Landschaft rund um den Vierwaldstättersee hatte bereits Schillers Theaterstück «Wilhelm Tell» besorgt, eine Wirkung, die durch die politische und touristische Entwicklung verstärkt und in mehreren Denkmälern objektiviert wurde. 1891 schliesslich erklärte der bürgerliche Bundesrat den 1. August 1291 zum Gründungsdatum der Schweiz, ein Datum, das sich rasch mit dem Schwur resp. dessen angeblichen Ort verband. In der Zwischenkriegszeit verstärkte sich die Bedeutung des Gründungsmythos, denn zentrale Ideen der von bürgerlicher Seite getragenen «Geistigen Landesverteidigung» bezogen sich auf die mittelalterliche Befreiungstradition, die aufgrund der äusseren Bedrohung als Unabhängigkeitstradition gedeutet wurde und im Rütli-Rapport ihren symbolträchtigen Ausdruck fand. Dessen Wirksamkeit entfaltete sich nach dem Zweiten Weltkrieg und stand emblematisch für die kollektive Überzeugung, dass die Schweiz dank ihrer militärischen Stärke vom Krieg verschont geblieben war – ein Mythos, den Historiker seit den 1960er dekonstruierten und der durch das Ende des Kalten Kriegs erst recht in Frage gestellt wurde. Seit Ende des Jahrhunderts prägten rechtsextreme Gruppierungen die Bundesfeier auf dem Rütli und damit wesentlich dessen kollektive Wahrnehmung.

      1.9 Forschungsstand IV: Das Rütli als Besuchsziel und als Ort von Gedenkfeiern

      Auf den individuellen und kollektiven Gebrauch des Denkmals Rütli zielt eine der zentralen Fragestellungen des Projekts. Dazu liegen nämlich bisher nur eher allgemein gehaltene Aussagen vor. Kreis widmet dem alltäglichen, individuellen Gebrauch des Rütlis sowie der Bewilligungspraxis der SGG für Gruppenbesuche ein Kapitel und stellt chronologisch die Nutzungen des Orts in Form von Feier- und Festanlässen vor.[150] Ebenso fächert er eine breite geschichtskulturelle Palette von Rütli-Bildern auf.[151] Die vorangegangene Literatur enthält in der Regel nur punktuelle Hinweise zum individuellen Besuch, unter anderem auch zu der offenbar sehr hohen Zahl von Besuchern.[152]

      Der kollektive Besuch erweist sich gerade beim Rütli als besonders intensiv. Um diese zahlreichen Gedenkfeiern und -jubiläen zu kontextualisieren, sei deshalb in einem ersten Schritt ein chronologischer Blick auf schweizerische Gedenkfeiern geworfen, denen beim Aufbau eines modernen Nationalbewusstseins eine wichtige Rolle zukam.[153] Der zweite Schritt skizziert die Entstehungsumstände der rütlispezifischen Feiern – eine detailliertere Analyse dieser Umstände und der weiteren Entwicklung ist Gegenstand des Kapitels 4.3.

      Im Fall der Schweiz gehen den Gedenkfeiern die alteidgenössischen Schlachtjahrzeiten voran.[154] Diese kirchlichen Gedenktage für die in Schlachten gefallenen Vorfahren setzten im Spätmittelalter ein und wurden mit lokaler Ausstrahlung teilweise bis in das 20. Jahrhundert begangen. Im Gegensatz zu den Schlachtenjahrzeiten bildeten die Gedenkfeiern von Anfang an nationale Anlässe, deren Teilnehmer den siegreichen Taten der Vorfahren gedachten, die von staatlicher Seite verantwortet wurden und formal dennoch sakral ausgestaltet waren. Diese Feiern kamen vor allem zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf, befördert durch die jungen liberalen Bewegungen, welche darauf abzielten, das nationale Bewusstsein zu fördern. Gleichzeitig können diese jährlich und auch «dezenar» durchgeführten Feiern erstanden werden als stabilisierendes Gegengewicht zum raschen und verunsichernden gesellschaftlichen Wandel des 19. Jahrhunderts. So setzten beispielsweise die Zentenarfeiern der Schlacht am Morgarten 1815 ein, jene in Laupen 1839, in St. Jakob bei Basel 1844, wo bereits seit 1822 ein jährliches St.-Jakobs-Fest stattfand. 1851 kam der neue Typus der Bundesbeitrittsfeier hinzu, als der Kanton Zürich das 500-Jahr-Jubiläum beging und so eine Tradition begründete, die schliesslich in die erste grosse Bundesfeier von 1891 mündete. Formal erweiterten die Gedenkfeiern die sakralen Elemente der traditionellen Schlachtjahrzeiten um weitere, zivile Komponenten: Festspiele, die das vergangene Geschehen theatralisierten, Festschriften, die das Geschehen zurückblickend schriftlich fassten, Denkmäler, die das erzählte Geschehen räumlich verorteten und auch Festschiessen, welche die partizipative Wiederherstellung von Vergangenem zeitgemäss und stark formalisiert ermöglichten. Auch die Schweiz geriet so in die «grosse Euphorie des Festwesens»[155] der bürgerlichen Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein.[156] Am Ende des Jahrhunderts beklagten Zeitgenossen die rasant angewachsene Zahl solcher patriotischen und kulturellen Feiern – die SGG setzte gar einen Ausschuss ein mit dem Auftrag, nach Mitteln und Wegen zu suchen, um diesem Übel entgegenzutreten.[157]

      Auf dem Rütli besteht eine besonders reichhaltige, aber relativ spät einsetzende Tradition von Gedenkfeiern. Dazu zählen nicht nur grosse Zentenar-Jubiläen, sondern auch die jährlich wiederkehrenden Feiern, die sich alle auf das mythische Gründungsdatum von 1291 beziehen. Überdies sind auch für das zweite Referenzereignis des Rütlis, den Rütli-Rapport von 1940, Gedenkfeiern entstanden. Die mit dem Gründungsmythos verbundenen Jubiläumsfeiern fanden jeweils mit grossem Aufwand statt. Die erste, die vor allem auch terminlich explizit auf die Gründung Bezug nahm, war jene von 1808, die an mehreren Orten begangen wurde, jedoch nicht auf dem Rütli.[158] Die Feier zum 100. Geburtstag von Schiller, der den Mythos in eine poetische Form gegossen habe, so die Einschätzung der Initiatoren der Veranstaltung, steht deshalb am Anfang der Jubiläumsreihe.[159] Denn die Veranstalter wollten mit dem Anlass zwar Schiller als Schriftsteller würdigen, aber vor allem auch des «552. Geburstags des Schweizerbundes» und des historischen und vor allem symbolischen Gehalts des Rütlis gedenken. Das nächste resp. erste explizite Gründungsjubiläum fand schliesslich 1891 statt, als 1291 zum offizielle Datum der Bundesgründung bestimmt wurde.[160] Dass diese Feier überhaupt stattfinden konnte, war keineswegs selbstverständlich. Nach dem Sonderbundskrieg 1847 war die liberale Bundesstaatsgründung des darauffolgenden Jahres nicht «darstellbar», da dies einer Provokation der unterlegenen, katholischen Kantone gleichgekommen wäre.[161] Trotzdem hielten die Innerschweizer Kantone am traditionellen Gründungjahr 1307 fest und organisierten deshalb 1907 eine 600-Jahr-Feier. Die wohl grösste Feier fand mitten im Zweiten Weltkrieg statt und ist im Kontext der «Geistigen Landesverteidigung» zu sehen. Die jüngste Zentenarfeier schliesslich beging die Schweiz 1991. Militärische Kreise organisierten erstmals 1960 einen grossen Anlass, um an den Rütli-Rapport zu erinnern. Damit initiierten sie eine Tradition, die bis in die jüngste Zeit fortdauert und gleichzeitig eine auffällige Unregelmässigkeit bei Rhythmus und Terminierung aufweist.

      Neben den Jubiläen zählen auch jährlich wiederkehrende Feste zu den Gedenkfeiern.[162] Die Idee, auf dem Rütli regelmässig eine offizielle Feier einzurichten, um an das Referenzereignis von 1291 oder 1307 zu erinnern, wurde erstmals Ende des 18. Jahrhunderts formuliert, ohne dass sie umgesetzt worden wäre.[163] Auch die grosse Jubiläumsfeier von 1891 hätte dazu führen können,