die umfangreiche Guisan-Biografie von Gautschi aus dem Jahr 1989, die dem Rapport ein längeres Kapitel widmet.[107] Spätestens der Bergier-Bericht von 2002 dekonstruierte den Réduit-Mythos, weil er das komplexe Beziehungsgeflecht von Wirtschaft und Politik zwischen der Schweiz und den Achsenmächten aufzeigte.[108] In jüngster Zeit erschienen zwei weitere, kürzere Biografien, denen eine grundsätzlich apologetische Haltung eigen ist. Das gilt sowohl für die auf das 75-Jahr-Jubiläum des Rapports hin erschienene Publikation der emeritierten Rechtsprofessorin und Altnationalrätin Suzette Sandoz und des Historikers Pierre Streit als auch für den Beitrag von Markus Somm.[109] Dieser zeichnet zwar ein durchaus kritisches Bild des Generals, verklärt aber dessen Rolle sowie die Wirkung des Rapports, ohne sie wirklich zu untersuchen.
1.8.2 Das erzählte Rütli im Überblick
Es liegt nicht im Fokus dieser Arbeit, eine monografische Geschichte des Rütlis von den Ursprüngen bis zur Einrichtung des Denkmals ab 1860 darzustellen. Dennoch gibt dieses Kapitel einen orientierenden Überblick über die wesentlichen Stationen des Rütlis vor allem als ideellem Ort.[110] Ein erster Schwerpunkt liegt dabei auf dem Zeitraum, welcher der Einrichtung des Rütlis als Denkmal vorangeht. Ein zweiter kontextualisiert die Entstehung des Denkmals, gefolgt von einem dritten, der das Referenzereignis der zweiten mythischen Bedeutung des Rütlis, des Rütli-Rapports, darstellt. Eine weitergehende geschichtliche Kontextualisierung der Gestaltung und des Gebrauchs des Denkmals erfolgt situativ im Verlauf der Untersuchung.
Für die konkrete rechts- und baugeschichtliche Entwicklung des Grundstücks, die urkundlich im 14. Jahrhundert einsetzt, sei auf Kapitel 3 verwiesen. Der mythengeschichtliche Strang seinerseits beginnt im 15. Jahrhundert mit dem viel zitierten Eintrag im «Weissen Buch von Sarnen», verfasst um 1470/72. Hier wird das Rütli erstmals als Ort geheimer Zusammenkünfte Innerschweizer Verbündeter bezeichnet; die Schwurhandlung ist Teil der gesamten Gründungssage, deren wesentliche Elemente die Unterdrückung der Bauern, die Verschwörung, die Tell-Geschichte und der Burgenbruch bilden. Nachfolgende Chroniken nehmen den gründungsgeschichtlichen Kanon auf, variieren aber die zeitliche Einordnung. Dass die Historiografen gerade im 15. Jahrhundert begannen, die weit zurückliegenden Ereignisse zu erzählen, dürfte dem Bedürfnis nach Legitimation gegen aussen geschuldet sein. Impliziter Adressat war das Haus Habsburg, von dessen Zugriff sich die Innerschweizer mittels öffentlicher Bündnisse, die es auch andernorts gab, im Wesentlichen befreit hatten. Die Gründungssage kann so von Anfang an als «imagologische Bastelei» im Sinne von Marchals Gebrauchsgeschichte verstanden werden.[111] Besonders im Kanton Uri erfuhr sie im 16. Jahrhundert eine Blütezeit.[112] Einen kanonischen Meilenstein der Erzählung schuf der Glarner Magistrat und Chronist Ägidius Tschudi in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Tschudi war kein gutgläubiger Erzähler von Mythen, sondern dank seiner methodischen Qualifikation und der umfassenden Archivforschungen ein ernstzunehmender Historiker. Eine einschlägige Quelle zur Gründungszeit hingegen fand er nicht und kompensierte diese Lücke durch zwar gelehrte, aber beleglose Konstruktionen, indem er beispielsweise den Rütlischwur auf Mittwoch vor Martini datierte, also auf den 7. November 1307.[113] Auch Tschudi widerspiegelt Strömungen seiner Zeit insofern, als seine Erzählung einerseits der aufkeimenden humanistischen Nationalidee entsprach, andererseits dem anhaltenden Bedürfnis nach antihabsburgischer Legitimation. Die ersten historisch nachweisbaren Nutzungsabsichten des Rütlis fanden 1674 und 1704 statt, als Gefahr von aussen resp. Uneinigkeit unter den Eidgenossen drohte.[114] 1713 folgte eine eigentliche Innerschweizer Landsgemeinde als Reaktion auf den verlorenen Zweiten Villmergerkrieg; die gemeinsame Notlage führte zu einem symbolischen Zusammenstehen.
Im aufkommenden Aufklärungs- und Reformpatriotismus des 18. Jahrhunderts nahm das Rütli eine zentrale, politische Referenzfunktion ein für das neue, nationale Selbstbild.[115] Im Kontext des aufkommenden Tourismus und als Uminterpretation der «Tour d’Europe» entstand die «Schweizerreise» für die Schweizer selbst, die so eine politisch-staatsbürgerliche Bedeutung erhielt, welche die Idee einer nationalen Einheit erfahrbar machen sollte – und das Rütli als eine der häufigen Stationen enthielt. Insgesamt trat es aber geschichtskulturell als konkreter Ort zurück hinter das ideelle Schwurmotiv, ein imaginiertes «lieu de mémoire». In diese Zeit fallen nicht nur zwei Denkmalprojekte, sondern auch die Publikation der «Geschichten der Schweiz» von Johannes von Müller.[116] Beeinflusst vom aufklärerischen Patriotismus und Tschudi rezipierend, tradierte er den Gründungsmythos weiter. In den Revolutionsjahren um 1800 beriefen sich sowohl bewahrende als auch fortschrittliche Kräfte auf die drei schwörenden Eidgenossen: 1798 versuchten die Urner vergeblich, durch die Einberufung einer Innerschweizer Landsgemeinde das nahende Unheil abzuwenden, praktisch gleichzeitig pilgerten Vertreter der neuen helvetischen Regierung auf das Rütli, um den vermeintlichen Ursprüngen der Helvetik zu huldigen.
Die steigende Popularität des idyllischen Rütlimotivs in der Restaurations- und Regenerationszeit dürfte der nationalromantischen Strömung geschuldet sein, die ihren Ausdruck nicht nur in einer grösseren Zahl von Stichen und Gemälden fand, sondern auch im Rütlilied, das 1820 seine Uraufführung erlebte. Wie in der Revolutionszeit reklamierten die einander gegenüberstehenden politischen Kräfte den Schwur und seinen Ort für sich. Die Rütli-Bezugnahmen der schweizweit entstehenden Vereinsgründungen, die zum wichtigen Motor wurden für die nationale Idee, waren ebenso zahlreich wie die Indienstnahmen der Wiese durch konservative Kräfte, die sich auf diese Weise gegen liberale Bestrebungen wehrten. Noch nicht auf dem Rütli, aber in dessen Nähe entstanden aus diesem politischen Gegensatz zwei Denkmäler. Das glanzvolle «Aristokratenfest», in dessen Rahmen 1821 das aussergewöhnliche Löwendenkmal in Luzern, errichtet für die gefallenen Schweizer Söldner im revolutionären Paris 1792, enthüllt wurde, stellte «die machtvollste kulturpolitische Veranstaltung der Restauration in der Schweiz»[117] dar – mit dem Winkelrieddenkmal dagegen entstand in Stans in den Jahren 1853 bis 1865 nach einem national durchgeführten Wettbewerb das erste Nationaldenkmal des 1848 gegründeten liberalen Bundesstaats.[118] Das schweizerische Nationalbewusstsein wurde mit diesem Denkmal genauso befördert wie wenig später mit dem Rütli und weiteren Symbolträgern. Der Rückgriff auf das Mittelalter sollte historische Legitimation verschaffen und gleichzeitig als Versöhnungsgeste den 1847 im Sonderbundskrieg unterlegenen, mehrheitlich Innerschweizer Kantonen eine zentrale, wenn auch symbolische Funktion bei der Staatsbildung zuweisen.[119] Damit wurde die Schweiz gleichermassen vom «Mythisierungsschub des 19. Jahrhunderts»[120] erfasst wie die anderen europäischen Nationen.[121] Wie schon das Winkelried-Denkmal entsprang auch der Rütli-Kauf einer Zürcher Initiative. War es beim Ersteren der freisinnige Politiker Jakob Dubs, lancierte bei Letzterem die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft die Idee. Dieser 1810 in Zürich gegründete Verein verfolgte aufklärerisch-patriotische, gemeinnützige Ziele, indem er sich für die Förderung von Bildung und Erziehung sowie wirtschaftlichen Fortschritt engagierte. Er galt als Diskussionforum reformorientierter Eliten und wirkte dadurch national integrierend und staatstragend.[122]
Die Uraufführung von Schillers Tell-Drama 1804 in Weimar wurde in der Schweiz zunächst kaum rezipiert, dennoch markiert sie einen für die Mythenformung und -wirkung zentralen Schritt: Das Theaterstück verlieh dem sich formenden schweizerischen Nationalstaat eine literarisch gefasste Meistererzählung, die zum stärksten und wirkungsmächtigsten Multiplikator des Mythos wurde. Schillers Freiheitsdrama trug wesentlich bei zur mythischen Aufladung und Möblierung der Innerschweizer Landschaft mit Denkmälern (Bild 1), einer Landschaft, die zudem Kristallisationspunkt einer neuen Naturbegeisterung wurde in Kombination mit der Gründungsgeschichte, welche die Bewohner als einfaches, aber freies und glückliches Volk erscheinen liess.[123] Praktisch zum gleichen Zeitpunkt, wie die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft den Rütli-Kauf organisierte, weihten die Innerschweizer Kantone den Schillerstein ein, eine natürliche, beim Eingang zum Urnersee an markanter Lage stehende Steinpyramide, die in ein Denkmal zu Ehren Schillers umgestaltet worden war. Gut zwei Jahrzehnte später schuf der Historienmaler Ernst Stückelberg in der Tellskapelle einen neuen Freskenzyklus, der zentrale Szenen aus Schiller darstellte. Ursprünglich geplant als Beitrag des Kantons Uri zur 600-Jahr-Jubliäumsfeier der Eidgenossenschaft, konnte das Telldenkmal in Altdorf erst 1895 eingeweiht werden.[124] Durch diese Figurengruppe, die bald – genauso wie die Stückelberg-Fresken – zur