am Sockel – eine weitere explizite Schiller-Reminiszenz. 1899 kam als weitere Attraktion das Altdorfer Tellspielhaus dazu, wo bis heute Schillers Drama regelmässig aufgeführt wird. Ab 1906 verkehrte auf dem Vierwaldstättersee das neue Dampfschiff «Schiller», und mit etwas Abstand folgte in den 1930er-Jahren die Restaurierung der sogenannten Hohlen Gasse; sie liegt indessen nicht am Urnersee, sondern in der Nähe des Küssnachter Beckens.[125]
Eine weitere, geradezu objektivierte Aufwertung des Gründungsmythos initiierte der Bundesrat 1889.[126] Angeregt durch die auf 1891 festgesetzte Berner 700-Jahr-Gründungsfeier, aber auch durch den seit 1890 von der Arbeiterschaft regelmässig begangenen 1. Mai liess er eine im 18. Jahrhundert entdeckte, aber seither wenig beachtete Urkunde, datiert auf 1291, wissenschaftlich untersuchen und deuten, und zwar vom radikal-liberalen Jurist Carl Hilty und Wilhelm Oechsli, Geschichtsprofessor der ETH Zürich. Die als neues Gründungsdokument uminterpretierte Urkunde von 1291, der sogenannte «Bundesbrief» und zugleich «Nationalreliquie»[127], ersetzte nicht nur das von Tschudi imaginierte Datum von 1307, sondern auch die Vorstellung einer Verschwörung, die der Nationswerdung zugrunde gelegen haben soll. Vielmehr schien sie auf einem schriftlich fixierten Rechtsdokument zu basieren, das indes weder Eigennamen von Beteiligten, ein Ereignis noch einen Ort enthielt, geschweige denn den Schwur, Tells Heldentat oder den Burgenbruch erwähnte. Diese wissenschaftlich überformte Verschmelzung, wonach der Schwur am 1.8.1291 auf dem Rütli stattgefunden und die Schweiz begründet habe, ist bis heute wirksam.[128] Abgesehen von der fälschlichen Gleichsetzung trifft auch die Begrifflichkeit der Gründung nicht zu. Denn die Urkunde, der «Bundesbrief», bildet nur eines von vielen Bündnissen, die in ihrer unvorhersehbaren und alles andere als linearen Entwicklung schliesslich zur Gründung des Bundesstaats führten.
Gerade in den 1930er-Jahren, im Kontext der «Geistigen Landesverteidigung», gewannen das Rütli und der Schwur erneut an Gewicht. Die frontistischen Bewegungen sahen in den drei Rütli-Verschworenen heilbringende Volksführer. Diesem frontistischen Verlangen nach Erneuerung wurde die generationsübergreifende Tradierung, wie sie in den drei Rütli-Eidgenossen verkörpert waren, entgegengehalten. Die Historiografie ihrerseits bemühte sich, die historische Authentizität der Gründung zu belegen. Als Höhepunkt der «Geistigen Landesverteidigung» kann neben der «Landi», der grossen Landesausstellung in Zürich von 1939, die 650-Jahr-Feier in Schwyz und auf dem Rütli (Bilder 60 und 61) und der Rütli-Rapport von 1940 (Bild 2) auf dem Rütli gelten. General Henri Guisan versuchte damit, das Offizierskorps der Armee auf Widerstandsbereitschaft einzuschwören, und knüpfte durch die Wahl des Ortes an dessen mythischem Symbolwert an in der Hoffnung, ein neues, identitätsstiftendes Bild zu kreieren. Die militärische Lage der Schweiz war nämlich zu Kriegsbeginn äusserst prekär. Nachdem Frankreich im Frühjahr 1940 wenige Wochen nach dem deutschen Angriff kapituliert hatte, fand sich die Schweiz nunmehr umgeben von den Achsenmächten und deren besetzten Gebieten. In dieser Lage höchster Unsicherheit und Bedrohung entschied sich Guisan, die bereits im Vorfeld des Kriegs beschlossene Verteidigungsstrategie weiterzuführen. Die Idee des Réduits beinhaltete, dass bei einem deutschen Angriff die militärische Abwehrkraft in den zentralen und wirksam zu verteidigenden Alpen konzentriert würde – bei gleichzeitiger Preisgabe der wirtschaftlich und kulturell essenziellen Gebiete im vorgelagerten Mittelland.[129] Mit der zu diesem Zeitpunkt fast ausschliesslich aus Infanterietruppen bestehenden Schweizer Armee schien diese dissuasive Strategie eine realistische Verteidigungsoption darzustellen. Ab Juli 1940 verschob die Armee erste Truppenteile, mit dem sogenannten Réduitbefehl kurz vor Ende des Monats verlagerte sich ein grosser Teil der Armee in den zentralen Alpenraum.[130]
Um den Kommandanten der Armee seine teilweise umstrittene Réduit-Strategie zu erläutern sowie die Notwendigkeit des Widerstands darzulegen, beorderte Guisan 650 höhere Offiziere auf den 25. Juli auf das Rütli.[131] Die Ortswahl begründete er im Nachhinein: «Ich hätte das ja in irgendeinem Lokal oder auf irgendeiner anderen Wiese tun können, bei Morgarten vielleicht oder bei Sempach – doch, nein, es musste hier geschehen, auf der Rütliwiese, an der Wiege unserer Unabhängigkeit, auf dem Boden, der jedem so vieles vor dem geistigen Auge heraufbeschwören musste. Ich war überzeugt, dass dort jeder mich besser als irgendwo anders verstehen würde.»[132] Verordneter Treffpunkt für die Teilnehmer war die Schifflände in Luzern, von wo aus das Dampfschiff «Luzern» gemäss Marschbefehl zum Rütli fuhr.[133] Auf der Wiese hielt der General eine Ansprache. Quellen zu diesem bedeutungsvoll gewordenen Ereignis sind rar. Aufnahmen der Rede Guisans gibt es keine, der Wortlaut seiner frei gehaltenen Rede deckte sich wohl nicht mit dem Armeebefehl, der aus der Feder von Bernard Barbey stammen dürfte, dem persönlichen Stabschef des Generals, und der als 26-seitiges Dokument den Teilnehmern nach dem Rapport ausgehändigt wurde.[134] Ansonsten erstaunt es, wie widersprüchlich und auch unsicher sich die Augenzeugenberichte präsentieren.[135] So ist bis heute umstritten, in welcher Sprache der General sprach, wie viele Teilnehmer effektiv dabei waren und wie das Wetter war. Hier hilft eine zweite Hauptquelle weiter, die den Rapport dokumentiert. Es sind die Fotografien, die der junge, aufstrebende Fotograf Theo Frey schoss. Auf ihrer Basis lässt sich rekonstruieren, dass es nicht strahlend sonniges Wetter war, sondern bedeckt, dass nicht 650 Offiziere auf der Wiese standen, wie Guisan – wohl in Anlehnung an den bevorstehenden 650. Jahrestag der eidgenössischen Gründung – selbst behauptete, sondern zwischen 420 und 485. Theo Frey lichtete die Versammlung auf der Wiese in verschiedenen Aufnahmen ab. Auf seinen Fotografien ist zum einen die aufgezogene Schweizerfahne auf der Rütliwiese gut erkennbar, zum anderen flankiert das Banner des Urner Bataillons 87 die Versammlung.[136] Weiter sind die Offiziere auf der Wiese so gruppiert, dass sie während der Ansprache des Generals auf den See und die am anderen Ufer verlaufende Gotthard-Eisenbahnstrecke sahen. Damit hatten sie insgesamt sowohl die Begründung als auch das Vorgehen für die Verteidigung stets vor Augen – eine symbolische Inszenierung der Réduit-Strategie.[137] Der Rapport liess sich so als Reminiszenz deuten, als Neuauflage des Befreiungsdramas, in dem Offiziere als Darsteller oder Statisten eines historischen Ereignisses fungierten.[138]
Wie wurde der Rapport von Zeitgenossen wahrgenommen? Rasch und vor allem negativ reagierten die diplomatischen Vertreter von Deutschland und Italien, so Streit, der deutsche Staatssekretär von Weizsäcker drohte mit ernsthaften Konsequenzen, der Aussenminister Ribbentrop richtete eine Protestnote an die Schweizer Regierung.[139] Fuhrer und vor allem auch Gautschi dagegen beurteilen die deutsche Reaktion als moderat.[140] Ein Indiz dafür sehen sie in den zwei Wochen, die Ribbentrop verstreichen liess, bis er dem Bundesrat die Protestnote überreichen liess.[141] Der Bundesrat reagierte beschwichtigend und zog einer schriftlichen eine mündliche Stellungnahme vor. Die britische und amerikanische Presse hingegen begrüsste die Positionierung Guisans. Der Nachhall in der Schweizer Bevölkerung war, gemäss Streit, gross gewesen sein, nachdem der Militärstab erst drei Tage später informiert hatte.[142] Diesem nur punktuell und individuell belegten Eindruck steht die nachweisbare mediale Publizität gegenüber, die Guisans Aktion ausgelöst hatte. Nur die Hälfte der grösseren Zeitungen berichteten auf der Titelseite über den Rapport, die NZZ, die Basler Nachrichten und die Gazette de Lausanne platzierten den entsprechenden Beitrag weiter hinten im Blatt.[143] Nach Streit war es vor allem die persönliche Weitergabe durch die Offiziere und deren Truppen, welche die Botschaft des Generals in die breite Bevölkerung trug – was wohl der Absicht des Generals entsprach. Aus Sicht der Meinungsforscher der Armee erwies sich diese Inszenierung Guisans als genauso wirkungsvoll wie seine Ansprache zum 1. August in Morgarten: «Ihre Wirkung auf Elite und Volk war ausserordentlich und tief. Das unbedingte Bekenntnis zur Landesverteidung hat eine neue Welle des Zutrauens und des Verteidigungswillens geschaffen. An Stelle von Unsicherheit ist wieder Sicherheit getreten.»[144] Unklar bleiben in diesem Bericht die Kriterien, anhand derer diese Wirkung hätte gemessen werden konnte.
Die Mythenbildung setzte kurz nach Ende des Kriegs ein. Denn dass die Schweiz praktisch ganz vom verlustreichen Kriegstreiben verschont geblieben war, bedurfte der Erklärung. Und diese Erklärung wurde im Bild des Réduits als «erfolgreichem Selbstbehauptungskonzept eines dauernd neutralen Staates» gefunden, eine Monokausalität, die dank ihrer Einfach- und Eindeutigkeit rasch geschichtskulturellen Niederschlag fand, beispielsweise in Geschichtslehrmitteln.[145] Komplexere Begründungszusammenhänge, die das Beziehungsgeflecht von Wirtschaft und Politik aufzeigten, blieben undiskutiert.[146] Speziell die Visualisierungen, die Aufnahmen von Theo Frey, wurden zu ikonischen Bildern dieser offiziellen Sicht auf die Zeit während