2.2.1 Bilder als Untersuchungsgegenstände
Nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch im gesellschaftlichen Kontext kommt dem Visuellen heute eine zwar viel grössere, gleichzeitig aber auch ambivalentere Bedeutung zu als zuvor: Realität bedarf der Abbildung, ja der objektivierbaren Abbildbarkeit, umgekehrt stellen die Manipulierbarkeit und die semantische Vieldeutigkeit ihre Objektivität in Frage.[205] So gelten Fotografien im medialen Alltag oft noch heute als realitätsgetreue Abbildungen der Wirklichkeit. Diese positivistische Sicht entstand mit der Erfindung der Fotografie im 19. Jahrhundert, als man davon ausging, dass eine Kamera der Natur ermöglichte, «sich selbst abzubilden».[206] Diese Bildgläubigkeit wich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Bildskepsis: Einerseits ist die Fotografie als Existenzbeweis der Realität des Abgebildeten sowie des vergangenen Akts des Fotografierens durch die technischen (Manipulations-) Möglichkeiten der digitalen Fotografie grundsätzlich in Frage gestellt, andererseits interessieren nunmehr – über die Abbildhaftigkeit hinaus – die Produktions- und Distributionsinstanzen, die Wahrnehmungsmuster, die Deutungs- und Wirkungsweisen, die soziale und politische Wirklichkeiten zu prägen und sogar zu schaffen vermögen. Fotografien sind konstruierte Produkte geworden, konstruiert durch Erzeuger, Gegenstand und Rezipient und deren machtdurchdrungenen, gesellschaftlichen Kontext.
Seit den 1990er-Jahren entwickelte sich die Visualität zu einem Paradigma, das seinen Ausdruck im «pictorial turn» (Mitchell) resp. «iconic turn» (Boehm) fand.[207] Demnach kommt dem Bildlichen nicht nur bei Prozessen des Denkens und des Wissenserwerbs eine wesentliche Rolle zu, sondern auch bei deren Erforschung in den Geschichts- und Sozialwissenschaften sowie in der Kulturanthropologie. Genauso wie sich Letztere auf vermeintlich nebensächliche, alltägliche Bilder richtet, etwa in Form von Postkarten, Werbung oder Comics, fokussiert sich die geschichtsdidaktische Forschung auf geschichtskulturelle Fragestellungen, die eine grosse Palette von Bildgattungen miteinschliessen.[208]
Der folgende Überblick verortet die im vorliegenden Projekt analysierten Bildgattungen und -bestände als materielle Grundlage gesamtkonzeptionell in der Gegenstands- und Gebrauchsanalyse. Anschliessend werden die dabei angewandten Methoden erläutert und begründet.
2.2.2 Postkarten
Die Beforschung des visuellen Mediums der Bildpostkarte hat sich in den letzten Jahren in der Geschichts- und Kulturwissenschaft intensiviert. Der Fokus liegt dabei auf mediengeschichtlichen, kunst- und sozialgeschichtlichen Studien.[209] Untersuchungen zur Abbildungsgeschichte einzelner Objekte sind ebenso selten wie Analysen des touristischen Blicks: Die textorientierte Geschichtswissenschaft hat die dazu vorhandenen Quellenbestände der privaten Urlaubsfotografie und der Tourismusprospekte bisher nur wenig zur Kenntnis genommen.[210] In dieser konzeptionell-methodischen Lücke verortet sich das vorliegende, explorative Teilprojekt zu den Rütlipostkarten.
Nach der Erfindung der Fotografie um die Mitte des 19. Jahrhunderts ermöglichte erst die drucktechnische Weiterentwicklung in den 1880er-Jahren, Fotografien massenhaft zu reproduzieren – in bebilderten Tageszeitungen, aber auch in Form der neuartigen Ansichtspostkarte. Die Entwicklung von der literarischen hin zur ikonografischen Massenkultur war damit angestossen.[211] Nicht nur der geringe Preis, sondern auch das Format eines praktischen Kommunikationsmittels führten dazu, dass die – anfänglich noch unbebilderte – Postkarte zu einem äusserst präsenten alltags- und geschichtskulturellen Bildmedium wurde, das man nicht nur verschickte, sondern auch sammelte.[212] Aus diesen Gründen stellen sie eine wertvolle Quelle dar, wenn es darum geht, reproduzierte Bilder und Vorstellungen von Orten und Objekten zu untersuchen.
Postkartensammlungen mit Rütlikarten sind zahlreich. Für die Untersuchung wurden insgesamt vier Datenbestände berücksichtigt, zwei öffentliche und zwei private. Sowohl das Staatsarchiv Uri als auch die Schweizerische Nationalbibliothek besitzen umfangreiche Bestände, die zum grössten Teil aus nicht gelaufenen, also nicht verschickten Postkarten bestehen.[213] Im Rahmen des Experteninterviews mit dem langjährigen Rütliführer Fredy Zwyssig (Seelisberg) entstand auch eine rasche und summarische Aufnahme seiner Postkartenalben.[214] Die vom Verfasser der Studie angelegte private Sammlung von Rütli-Postkarten stammt aus mehreren Quellen: aus dem Erwerb aller aktuell im Rütlihaus und in Brunnen verfügbaren Postkarten, aus archivierten Karten aus den Beständen des führenden Postkartenherstellers Photoglob[215] sowie aus Internetrecherchen vor allem auf kommerziellen Auktionsplattformen. Hauptkriterium für diese private Sammlung war die Datierbarkeit der Karten, sei es, dass sie einen Poststempel resp. ein handschriftliches Datum trugen, sei es, dass der Hersteller Photoglob das Jahr des Erstdrucks vermitteln konnte. Für diese Ersteditionen – nicht jedoch für die Nachdrucke – ist überdies die Auflagengrösse bekannt.
Insgesamt kann diese heterogene Postkarten-Stichprobe keine Repräsentativität beanspruchen, mit der vorgenommenen quantitativen und qualitativen Analyse sollte aber der Versuch unternommen werden, Tendenzen und Entwicklungen der Repräsentation zu skizzieren, die Wirkungsmöglichkeiten offenzulegen und auf diese Weise die textlich basierte, kollektive Gebrauchsanalyse durch eine visuelle zu ergänzen. Eine Text-Bild-relationale Untersuchung schliesslich wäre konzeptionell als Elemente der individuellen Gebrauchsanalyse zu werten und deshalb in Kapitel 5 der vorliegenden Arbeit zu verorten. Aus forschungspraktischen und -theoretischen Gründen wurde darauf verzichtet.[216] Die vorgenommene Analyse war dreischrittig: Der erste Schritt fokussierte auf die Frequenz der verschiedenen Kartenmotive. Konzentrierte sich anschliessend der zweite auf die chronologische Analyse der Motivverwendung, wurden im dritten exemplarisch typische Postkartenmotive nach qualitativen Gesichtspunkten untersucht.
2.2.3 Andere touristische Fotografien
Da Bilder in touristischen Medien genauso gewichtig sind wie die dazu gehörigen Texte, werden sie hier als separate Bildgattung aufgeführt. Die Materialgrundlage deckte sich mit derjenigen, wie sie für die touristischen Texte beschrieben ist.[217] Explizit erwähnt seien lediglich die sieben Bilder, die auf der Internetsite von Schweiz Tourismus unter den Stichworten «Rütli – Rütliwiese» sowie «Weg der Schweiz: Schweizer Wilhelm-Tell-Route» zu finden sind.[218] Die Untersuchung auch dieser Abbildungen erfolgte in quantitativer und qualitativer Hinsicht, wobei zwei besonders häufige Fotografien – parallel zu den den häufigsten Postkarten-Motiven – ausführlicher interpretiert wurden.
2.2.4 Wertträger und Poststempel
Münzen, Banknoten, Briefmarken und Poststempel sind geschichtskulturelle Wert- und Bedeutungsträger, die durch ihre alltägliche Präsenz eine identitätsstiftende Tiefenwirkung zu entfalten vermögen.[219] Wegen dieser impliziten Bedeutsamkeit und des gleichzeitig kulturgeschichtlichen Abbildcharakters gehörten auch diese Wertträger resp. Medien[220] zum Materialkorpus und dienten zur Beantwortung der gebrauchsanalytischen Fragen, wann, wie oft und vor allem wie das Rütli als Ort oder der Gründungsschwur als damit verbundener Mythos dargestellt wurden.
Liegen zahlreiche philatelistische Arbeiten und Monografien zur Geschichte der Briefmarke vor, waren diese Postwertzeichen bisher nur selten Gegenstand geschichtskultureller und kommunikationswissenschaftlicher Forschung.[221] Für den Zeitraum von 1880 bis 1945 hat Alexis Schwarzenbach eine kulturwissenschaftliche Studie vorgelegt, in welcher er – unter anderem im Spiegel der Briefmarken – die nationalen Identitätskonstruktionen von Belgien und der Schweiz vergleicht. Quellengrundlage bilden die mehr als 400 Briefmarken, die in diesem Zeitraum erschienen sind.[222] Für die Periode nach 1945 wurde ein philatelistisch einschlägiges Verzeichnis konsultiert.[223]
2.2.5 Flickr
Stellen die obigen Bildgattungen Materialien dar, um die kollektive Repräsentation des Rütlis zu erforschen, zeigen die private Fotografien, welche die Besucherinnen und Besucher auf dem Gelände herstellen, den individuellen Umgang mit dem