die private Reisefotografie auf der einen Seite Projektionen individueller Vorstellungen und Bedürfnisse ausdrückt, auf der anderen aber auch verinnerlichte, kollektive Normen und damit die soziale Determiniertheit des privaten Bilderkanons.[224] Ähnliche Fragen, wie sie für die nichtteilnehmende Beobachtung formuliert sind, stellten sich auch für diese Bildgattung: Wie nehmen die Besuchenden das Denkmal wahr? Inwiefern werden Auseinandersetzungen mit dem Ort sichtbar und welcher Art sind sie?[225]
Dank online gestellter, individuell produzierter fotografischer Serien ist es inzwischen möglich, das an Ort virtuell hergestellte Bildmaterial systematisch zu erschliessen und auszuwerten.[226] Als Datenquelle diente Flickr, die weltweit wohl bekannteste und umfangreichste Online-Plattform für Fotografie.[227] Einbezogen wurden alle im Jahr 2015 auf Flickr auffindbaren Fotoserien, die einen privaten Rütli-Besuch – individuell oder in kleiner Gruppe – dokumentierten.[228] Denn zentrales Merkmal des beabsichtigten methodischen Zugriffs war der serielle Charakter des Bildmaterials. Gemeint sind damit in erster Linie nicht Einzelaufnahmen, sondern vielmehr zusammenhängende Bildserien, eigentliche Reportagen oder Fotoalben.[229] Die erzielte Stichprobe umfasste 40 Fotoserien.[230] Sie dokumentierten einerseits den eigentlichen Besuch des Geländes – diese Serien wurden vollständig erfasst. Andererseits berücksichtigte die Stichprobe auch Serien, deren Bilder das Rütli lediglich von aussen, vom Schiff aus oder von Seelisberg herab zeigten. Die Fotoproduzenten waren also nicht auf dem Gelände, sondern fotografierten das Denkmal aus Distanz. Von diesen recht häufigen Alben sind lediglich einige typische Beispiele in die erhobene Stichprobe eingegangen. Schliesslich erlaubte ein archivalischer Zufallsfund – ein in Form einer Negativserie dokumentierte Privatbesuch aus dem Jahr 1989 – einen exemplarischen, kontrastiven Vergleich, der die Alben- und Einzelbild-Analyse ergänzte.[231]
2.2.6 Rütli-Führer der SGG
Die SGG hat im 20. Jahrhundert insgesamt vier Rütli-Broschüren herausgegeben, deren Autoren jeweils Mitglieder der Rütlikommission waren. Die erste Broschüre erschien anlässlich des 50-Jahr-Jubiläums des Rütlikaufs.[232] Die von Melchior Schürmann, Aktuar der Rütlikommission, verfasste Schrift «Das Rütli als Nationaleigentum der Schweizerischen Eidgenossenschaft» wurde in einer Auflage von 26 000 Exemplaren produziert. Zum 75-Jahr-Jubiläum verfasste Martin Gamma 1935 eine neue Fassung: «Das Rütli: 75 Jahre Nationaleigentum».[233] Sie erschien sowohl in deutscher als auch in französischer Sprache. Die Rütlikommission setzte sich aktiv für den Absatz der neuen Broschüre in den Primar- und Sekundarschulen ein, konnte aber lediglich 18 000 Exemplare in deutscher Sprache und 2 400 in französischer Sprache absetzen – sehr wenig im Vergleich zu den rund 600 000 Schülerinnen und Schülern, welche die Kommission recherchiert hatte.[234] 1954 wiederum löste die Publikation «Rütli» von J. Hess Gammas Broschüre ab, auch Hess war Mitglied der Rütlikommission und zugleich Obwaldner Erziehungsdirektor.[235] Dieses Mal scheint die Absatzaktion deutlich erfolgreicher gewesen zu sein, da fast alle Kantone eine Bestellung für ihre Schulen getätigt hatten und in einem ersten Schritt eine Auflage von 170 000 deutschsprachigen Exemplaren gedruckt wurde; die vorgesehenen Auflagen in Französisch und Italienisch hingegen sind nicht nachweisbar. 1986 schliesslich legte Josef Wiget, Staatsarchivar und Kommissionsmitglied, eine Neufassung der Broschüre vor, die als Nachdruck noch heute in situ verfügbar ist. Die Analyse dieser vier Broschüren bezieht sich auf deren Titelseiten, eine Beschränkung, die weiter unten kommentiert wird.
Bereits kurz nach dem Jubiläumsjahr 1991 fielen die Besuchszahlen wieder auf das vorherige Niveau zurück, was die SGG dazu führte, über eine Belebung des Denkmals nachzudenken.[236] Der angefragte Verkehrsdirektor der Stadt Luzern legte drei Ideen vor. Erstens sollte das Rütli nicht verändert werden, aber mit zusätzlichen Fahnen festlicher gestaltet werden; zweitens riet er, die «geschichtlichen Ereignisse» mithilfe moderner Kommunikationsmittel zu präsentieren und, drittens, das Restaurationsangebot kreativ weiterzuentwickeln. Besonders der zweite Punkt schien der Rütlikommission eingeleuchtet zu haben, denn zwei Jahre später beschloss sie, ein Informationskonzept zu entwickeln.[237] Josef Wiget erhielt den Auftrag, im unteren Gaden eine kleine Ausstellung zu konzipieren. Das daraus entstandene «Rütlimemo», Herzstück der 1998 abgeschlossenen Erneuerung der Infrastruktur des Rütlis für fast CHF 3 Millionen, zeigte auf ca. 40 m2 nicht nur den aktuellen Forschungsstand zur Entstehung der Eidgenossenschaft, sondern zeichnete auch Entstehung und Wirkung des Rütlimythos nach. 2008, zu Beginn der letzten, umfassenden Sanierung des ganzen Geländes, liess der Bund die Ausstellungsmaterialien jedoch entfernen und im ersten Stock des oberen Gadens einen neuen Ausstellungs- und Präsentationsraum einrichten. Damit im Zusammenhang stand die Idee der SGG, ein neues Bespielungskonzept erarbeiten zu lassen.[238] Die eingereichten Vorschläge sahen neben einer neuen Internetseite vor allem auch interaktive Stationen auf dem Gelände vor, welche die Besucherinnen und Besucher auffordern sollten, sich aktiv mit dem Ort, dem Mythos und seinem Gebrauch auseinanderzusetzen. Letztlich umgesetzt wurde nur die Internetsite, die 2009 online geschaltet werden konnte und einige Jahre später vom derzeitigen Internetauftritt abgelöst worden ist.[239]
Sowohl die aktuelle Rütli-Broschüre von Wiget als auch der heutige Internetauftritt enthalten gleichermassen Text wie Bild. Die vorgenommene Analyse beschränkte sich auf die Titelseiten der Broschüren, eine Inhaltsanalyse der Texte entfiel. Zu diesem Entscheid trugen drei Überlegungen bei. Erstens bestehen diese Texte zu grossen Teilen aus sich wiederholenden Narrationen zur Rütli-Geschichte; einzig die Bedeutungszuschreibungen des Orts dürften sich unterscheiden, beeinflusst vom jeweiligen historischen Kontext. Zweitens umfasst die detaillierte Reiseführer-Analyse vergleichbares Datenmaterial, und drittens führten auch forschungspragmatische Überlegungen zeitlicher Art zu diesem Entscheid.
2.2.7 Kommerzielle Darstellungen
Erst ist jüngerer Zeit ist Werbung als ökonomisch-kulturelle Praxis zum Gegenstand breiterer kulturgeschichtlicher Forschung geworden; nur wenige Studien haben auf ihren geschichtskulturellen Gehalt, ja auf die darin enthaltenen nationalen Identifikationsmuster fokussiert.[240]
Für den schweizerischen nationalmythologischen Kontext hat Kreis darauf hingewiesen, dass sich die politische und kommerzielle Werbung vor allem der Gestalt des Tells – aufgrund ihres höheren symbolischen Werts – bedient, nur selten jedoch der drei Ur-Eidgenossen, geschweige denn des Rütlis.[241] Die intensiven Recherchen in Zeitungsarchiven führten dennoch zu einem Zufallsfund, einer französischsprachigen Werbeanzeige von 1939.[242] Darin preist ein führendes Möbelhaus eine komplette Wohnunseinrichtung an, die den Namen «Rutli» trägt. Dieses Angebot exemplifiziert kulturgeschichtlich das Konzept der Gesamtausstattung (als Aussteuer), ein Angebot, das die untere gesellschaftliche Schicht, Arbeiterinnen und Arbeiter sowie kleine Angestellte, in der ersten Jahrhunderthälfte nachfragten.[243] Gleichzeitig kann die Namensgebung der Wohnungseinrichtung als Ausdruck der zeitgenössisch wirksamen «Geistigen Landesverteidigung» gelesen werden, die gerade auch den Wohnalltag durchdrang. Im Rahmen der «Landi», der grossen Landesausstellung von 1939, konnten die Besuchenden eine Reihe von Modellwohnungen und -zimmer besichtigen, die sich stilistisch an einer nationalisierten Moderne mit traditionsgebundenen Elementen und heimischen Rohstoffen orientierten.[244]
2.2.8 Pressefotografie und übrige Bilder
Wie bereits in Kapitel 2.1.1 kurz erwähnt, basiert die Untersuchung der Gedenkfeiern, einer Ausprägung der kollektiven Praxis, auf Bildern, insbesondere auf Pressebildern. Darunter sind Fotografien zu verstehen, die zum Zweck der Publikation in Zeitungen oder Zeitschriften hergestellt werden oder die in einem anderen Kontext, sei es für Kunst- oder Wissenschaftsprojekte, entstehen.[245] Als besonders ergiebige Quelle erwies sich das Archiv von Keystone, der grössten Schweizer Bildagentur. Weitere Bilder fanden sich in den Online-Archiven der systematisch analysierten Zeitungen gemäss Kapitel 2.3.2 sowie in den Archivbeständen der SGG in Form von Presse-Clippings. Die auf diese Weise zusammengetragene Stichprobe setzt in den 1930er-Jahren ein, wird in der Nachkriegszeit farbig und verdichtet sich gegen Ende